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KOMMENTAR/277: Die olympische Lüge ... (SB)



Das weltweit größte und kommerziell erfolgreichste Tummelfeld für sportliche Leistungseliten soll auch weiterhin ein Marktplatz frei von politisch störenden Protesten und Meinungsäußerungen bleiben. Wie aus einer im April veröffentlichten Online-Befragung des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) hervorgeht, an der sich rund 3500 aktuelle und ehemalige OlympiateilnehmerInnen aus 185 Ländern beteiligt hatten, halten 67 Prozent Proteste auf dem Podium für unangebracht. 70 Prozent der Befragten sollen es zudem für unangemessen halten, auch auf dem Spielfeld sowie bei offiziellen Zeremonien zu demonstrieren oder ihre Meinung zu äußern. Hintergrund ist die weltweit lauter werdende Forderung von Kaderathletinnen und -athleten verschiedenster Provenienz, die Regel 50.2 der Olympischen Charta zu modifizieren oder ganz zu streichen. Diese sanktionsbewehrte Regel besagt, daß "keine Art von Demonstration oder politischer, religiöser oder rassistischer Propaganda an olympischen Stätten, Austragungsorten oder in anderen Bereichen erlaubt" sei. Sportlervereinigungen wie Global Athlete oder der Athletenbeirat des US-amerikanischen olympischen und paralympischen Komitees (USOPC AAC) sowie weitere Athletenvertretungen insbesondere der westlichen Welt, darunter auch "Athleten Deutschland e.V.", hatten die Abschaffung der seit den 1950er Jahren bestehenden Regel gefordert.

Die Mehrheit der Olympioniken stellt sich somit hinter das Verdikt von IOC-Präsident Thomas Bach (FDP), der im Vorfeld der Befragung vor einem "Marktplatz der Demonstrationen" gewarnt hatte. Wie der Deutschlandfunk berichtete, dürfte eines der zentralen IOC-Argumente gegen eine Öffnung der Regel 50 sein: "Wenn man einen Protest erlaube, müsse man alle erlauben, egal ob Anti-Rassismus-Demonstration oder der Militärgruß an einen Diktator." [1]

Das klingt noch harmlos. Denn natürlich stellt sich sofort die Frage, wer in einer zutiefst gespaltenen Welt die Deutungshoheit über politisch genehme und ungenehme Äußerungen oder Proteste innehat. Wie sähe zum Beispiel die Reaktion der politischen und sportpolitischen Führer im Westen aus, wenn Athleten aus autokratisch regierten Nationen die Protestfaust gegen die extralegalen Hinrichtungen der USA im Rahmen ihrer Drohnen- oder Regime-Change-Kriege erheben würden? Was wäre, wenn friedensbewegte deutsche Athleten gegen die Rüstungsexporte der Bundesregierung demonstrieren würden? Mit welchen Stürmen wäre zu rechnen, wenn SportlerInnen an exponierter Stelle signalisieren würden, daß sie die Einkerkerung und Folterung von Julian Assange, den WikiLeaks-Gründer, für ein fortdauerndes Kriegsverbrechen westlicher Herrschaftsallianzen hielten? Oder wenn junge, der Fridays for Future nahestehende SportlerInnen das deutsche Klimagesetz als Massenmord an zukünftigen Generationen anprangerten? Noch aktueller: Wenn Sportlerinnen oder Sportler niederknieten, um ihre Solidarität mit der seit Jahrzehnten von Israel unterdrückten palästinensischen Bevölkerung zu demonstrieren?

Schon anhand dieser wenigen Beispiele wird deutlich, daß nicht nur Autokraten, Despoten oder Diktatoren unbequeme Meinungen und Proteste fürchten müßten, sondern auch und insbesondere VertreterInnen westlicher Demokratien - also jene PolitikerInnen, Wirtschaftsunternehmen, Sponsoren und Medien, die ihre medaillenträchtigen Aushängeschilder normalerweise dazu nutzen, um im großen Stil nationales Reputationsmanagement und Sportwashing zu betreiben und sich dies auch einiges kosten lassen.

Und was ist mit der hiesigen Sportjournaille und ihrer interessensgeleiteten Unwilligkeit, sich von Doppelstandards zu lösen? Laufen die Leitmedien nicht schon jetzt zur Höchstform auf, wenn wegen der Unterdrückung der Uiguren gegen die Olympischen Winterspiele in Peking 2022 mobil gemacht wird, während praktisch niemand danach fragt, ob man nicht den USA die Austragung der Olympischen Sommerspiele 2028 entziehen müßte, solange das Gefangenenlager in Guantanamo oder andere Black Sites (Geheimgefängnisse) auf der Welt fortbestehen? Wie würden diese Medien, die nur selten eine Gelegenheit auslassen, ihre antirussischen Ressentiments in den Äther zu blasen, mit Sportlerinnen und Sportlern umspringen, die sich zum Beispiel hinter ihren russischen Präsidenten stellten und sich demonstrativ gegen die Aussage des neuen US-Präsidenten Joe Biden wendeten, Putin sei ein Mörder?

Der Umfrage ging ein Konsultationsprozeß durch die IOC-Athletenkommission voraus, der im Juni 2020 eingeleitet worden war. Dabei wurde auch klargestellt, was nach den Richtlinien des IOC als Protest gilt, nämlich "das Zeigen von politischen Botschaften, einschließlich Schildern oder Armbinden", "Gesten politischer Natur, wie eine Handbewegung oder das Knien" und "die Weigerung, dem Zeremonienprotokoll zu folgen". Verstöße gegen diese Richtlinien können also weiterhin schlimme, gar existenzgefährdende Folgen für renitente Olympioniken haben, sofern die Sportverbände nicht von Bestrafungen absehen, was in der Vergangenheit auch schon vorgekommen ist, zumal dann, wenn Sportlerproteste allgemein genug gehalten sind und Forderungen nach Anti-Diskriminierung, Gleichheit oder der Gültigkeit von Menschenrechten nicht den profitablen Geschäftsgang der Sportindustrie stören. Hauptsache, meinungsstarke oder protestwillige SportlerInnen treten den Stakeholdern des IOC nicht zu sehr auf die Füße.

Und davon ist bislang auch nicht auszugehen, wenn man sich den Bericht und die Empfehlungen der IOC-Athletenkommission, welche von der IOC-Exekutive am 21. April 2021 genehmigt wurden, durchliest. Diese laufen im Kern darauf hinaus, den leistungssportlichen Disziplinarapparat aufrechtzuerhalten und die Beschneidung grundlegender Freiheitsrechte mit symbolpolitischen Appellen an "Frieden, Respekt, Solidarität, Inklusion und Gleichberechtigung" zu vernebeln. Neben anderen Aktionen sollen aus dem Olympischen Dorf (mit neugestalteter "Friedenswand"), wo laut IOC-Athletenkommission "die Besten der Welt wettstreiten und zugleich in Harmonie gemeinsam wohnen", auch positive Botschaften in "eine zunehmend auseinander driftende Welt" gesendet werden. [2] Daß diese Gated Community der Leistungsbesten nur deshalb bestehen kann, weil sie mit Stacheldraht, Polizei und Militär vom Rest der Welt künstlich abgeschottet und mit viel Geld und enormen Aufwand gepampert wird, scheint bei vielen Topathleten, die staatliche und privatwirtschaftliche Förderung für selbstverständlich halten, noch nicht ganz angekommen zu sein. Genausowenig der Gedanke, daß es mit der ohnehin nur auf 16 Tage befristeten Harmonie im Olympischen Dorf schnell ein Ende hätte, wenn die BewohnerInnen in unausweichlichen Kontakt mit den Problemen und Nöten jener Menschen kämen, die für den Glanz der Spiele enteignet, vertrieben, verprügelt oder sonstwie geschädigt wurden (siehe beispielhaft Olympische und Paralympische Spiele in Brasilien).

Die wachsweichen Einlassungen der IOC-Athletenkommission werden keinesfalls von allen Athletenvertretungen goutiert. So kritisiert die weltweite Sportlervereinigung Global Athlete, daß das IOC mit dieser Entscheidung fundamentale Athlet*innen-Rechte weiter unterdrücken würde. Die Empfehlungen diktierten, wann, wo und was Athleten sprechen können. Das sei das Gegenteil von Meinungsfreiheit. Zudem sei die Methodik der Umfrage fehlerhaft und tendenziös. [3] Auch EU Athletes - ein Zusammenschluß von europäischen Profi-Athletenverbänden und Gewerkschaften, die mehr als 25.000 Athleten repräsentieren - ließ in einem Statement wissen: "Wir sind zutiefst besorgt über die Entscheidung des IOC und glauben, dass der Konsultationsprozess und die Regel 50 selbst nicht mit den Menschenrechten der Athleten vereinbar sind. Durch die Beschränkung der Konsultation auf die Athletenkomitees und -kommissionen hat die IOC-Athletenkommission die Stimmen Tausender Athleten, die von den unabhängigen Gewerkschaften und Verbänden vertreten werden, sowie deren Menschenrechte wie die Vereinigungsfreiheit und das Recht, sich zu organisieren, missachtet." [4]

Athleten Deutschland e.V., der die Kritik teilt, bittet nun den Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) darum, bei Verstößen gegen die Regel 50 von entsprechenden Sanktionen, sofern sie in die Zuständigkeit des eigenen Dachverbandes fallen, abzusehen. Falls nötig, will der Lobbyverein seinen Mitgliedern Rechtsbeistand zur Seite stellen. Johannes Herber, Geschäftsführer von Athleten Deutschland, kritisierte: "Der Bericht verdeutlicht, dass das IOC dem Erhalt der 'politischen Neutralität' höheren Wert beimisst als den grundlegenden Rechten einzelner Athletinnen und Athleten." [5]

Tatsächlich geht es um den Erhalt und die Sicherung eines globalen, milliardenschweren Geschäftsmodells, an dessen Aufrechterhaltung auch Athleten Deutschland e.V. nicht unbeteiligt ist. Die Forderung der deutschen Athletenvertretung, Teil­neh­me­rIn­nen Olym­pi­scher Spie­le müßten "25 Pro­zent des Ge­samt­ge­winns aus den Ver­mark­tungs- und Über­tra­gungs­er­lö­sen des IOC" bekommen, ignoriert in sträflichster Weise, daß die Athleten damit zu käuflichen Garanten dieses knallharten, auf steigende Profite und Wachstum setzenden Ringekonzerns würden, wollten sie sich bei der Gewinnmaximierung nicht ins eigene Fleisch schneiden. Und daß Menschenrechte für Athleten nicht universal gelten, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg Anfang 2018 bewiesen, als er die Klage verschiedenster Athletenvertretungen und Privatpersonen gegen ein fast totalitäres Dopingkontrollregime, das TopsportlerInnen zum Beispiel dazu zwingt, mehrere Monate im voraus Angaben über ihren Aufenthaltsort zu machen oder sich faktisch in eine Art 60minütigen Hausarrest pro Tag zu begeben, rechtmäßig sei. [6] Da wurde dem Wettkampf- und Kontrollbetrieb über die Larve des Gesundheitsschutzes auch ein höherer Wert beigemessen als etwa dem Recht auf Freizügigkeit oder der Achtung des Privat- und Familienlebens. Wo es der Verwertung des marktförmigen Sportlermaterials dient, ist mit Hilfe der "Verhältnismäßigkeit" noch jedes Recht umgebogen worden.

Fußnoten:

[1]  https://www.deutschlandfunk.de/regel-50-der-olympischen-charta-die- stimmen-der.890.de.html?dram:article_id=481038. 22.07.2020.

[2] https://olympics.com/ioc/news/ioc-athletes-commission-s- recommendations-on-rule-50-and-athlete-expression-at-the-olympic-games . 21.04.2021.

[3] https://globalathlete.org/our-word/the-iocs-rule-50-continues-to- suppress-athletes-rights-to-freedom-of-expression. 21.04.2021.

[4]  https://euathletes.org/statement-on-rule-50-of-the-olympic-charter/. 23.04.2021.

[5]  https://athleten-deutschland.org/pressemitteilung/reaktion-auf-die- empfehlungen-zur-anpassung-der-regel-50/. 22.04.2021.

[6] Urteil v. 18.01.2018, Az. 48151/11 und 77769/13

17. Mai 2021


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