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INTERVIEW/413: Kolonialwirtschaftsgeschichte - eine alte Schuld ...    Prof. Dr. Jürgen Zimmerer im Gespräch (SB)


Gespräch am 4. Juni 2018 in Hamburg


Foto: © 2018 by Schattenblick

Prof. Dr. Jürgen Zimmerer
Foto: © 2018 by Schattenblick

Den Kolonialismus als eine vergangene Epoche der Zivilisationsgeschichte abzutun, das viele Blutvergießen und die tiefen Risse im Gedächtnis der von Plünderungen und rigider Versklavung heimgesuchten indigenen Kulturen mit einem lässigen Federstrich zu den Akten zu legen, würde nicht nur den Blick auf die aktuellen Verwerfungen und Krisen in den Regionen des Trikonts trüben und die ehemaligen Kolonialmächte und Profiteure vielmillionenfachen Elends aufs gewissenloseste aus ihrer historischen Verantwortung entlassen. Schwerer noch als das Vergessen wiegt das Verleugnen der kolonialen Kontinuität. Jeder Flüchtling, der sein Heimatland verlassen muß, um Krieg und Tod zu entgehen, schreibt die Kolonialgeschichte fort. Der Reichtum vor allem der westlichen Metropolengesellschaften baut sich nicht unwesentlich auf den Raubzügen von Staaten auf, die einst auszogen, um in aller Welt Kolonien zu gründen und Bodenschätze und unterdrückte Menschen auszubeuten. Wer dagegen Widerstand leistete, wurde vernichtet, und nicht selten gingen in diesen Bestrafungsaktionen ganze Völker unter.

Das Deutsche Reich trat mit der Unterzeichnung der Kongoakte 1885 in Berlin in den illustren Kreis der Kolonialstaaten ein, womit vollzogen und sanktioniert wurde, was deutsche Kaufleute mit Erwerbungen von Plantagen in Afrika längst eingeleitet hatten. Adolph Woermann, der mit Leinen, Kautschuk und Branntwein in Westafrika ein Vermögen anhäufte und als Großreeder maßgeblich an der Truppenverschiffung nach Deutsch-Südwestafrika zur Niederschlagung des Aufstands der Herero und Nama beteiligt war, schwärmte bereits 1879 vor der Geographischen Gesellschaft zu Hamburg vom kaufmännischen Segen in Afrika: "Es liegt auf der Hand, dass in Afrika zwei grosse ungehobene Schätze sind: Die Fruchtbarkeit des Bodens und die Arbeitskraft vieler Millionen Neger. Wer diese Schätze zu heben versteht, und es kommt nur auf die richtigen Leute dabei an, der wird nicht nur Geld verdienen, sondern auch gleichzeitig eine grosse Kultur Mission erfüllen."

An den Händen der Kaufleute klebte Blut, sehr viel Blut, vergossen an den Herero und Nama und beim Niederschießen des Maji-Maji-Aufstands in Deutsch-Ostafrika. Als Drehscheibe des Handels mit Kolonialwaren aus Afrika trägt Hamburg auch eine Mitschuld am Völkermord. Um diesen Teil der dunklen deutschen Kolonialgeschichte aufzuarbeiten und dem Vergessen wieder zu entreißen, richtete der Senat 2014 die Forschungsstelle Hamburgs (post-)koloniales Erbe ein und übertrug die Leitung dem Afrika-Experten und Präsidenten des Weltverbandes der Genozidforschenden Prof. Dr. Jürgen Zimmerer von der Universität Hamburg.

Am 4. Juni fand im Haus der Patriotischen Gesellschaft von 1765 im Reimarus-Saal eine Podiumsdiskussion statt, in der Zwischenbilanz zu den Forschungsergebnissen gezogen und Tacheles geredet wurde über die deutschen Kolonialverbrechen und die Versäumnisse ihrer zivilgesellschaftlichen Aufarbeitung. Im Anschluß daran beantwortete Prof. Zimmerer dem Schattenblick einige weiterführende Fragen.


Schattenblick (SB): Herr Zimmerer, wie ist der letzte Stand der Regierungspolitik in Fragen des Völkermords an den Herero und Nama? Wird er nur im historischen Sinne anerkannt und bleibt damit ohne juristische Konsequenzen?

Jürgen Zimmerer (JZ): Es ist schwierig zu sagen, ob er anerkannt wird oder nicht. Es gibt seit 2015 die Sprachregelung im Auswärtigen Amt und in der Bundesregierung, daß man es Völkermord nennt, aber ohne großen symbolischen Akt oder eine Diskussion bzw. eine Anerkennung durch den Bundestag wie im Fall des Völkermords an den Armeniern. Dennoch ist im Grunde der Widerstand, den es bis 2015 gab, überhaupt das Genozid-Wort zu verwenden, aufgegeben worden. Der Stand ist, daß man es jetzt als Genozid bezeichnet und mit der namibischen Regierung über eine Anerkennung, eine Entschuldigung und Wiedergutmachung verhandelt - von deutscher Seite unter der Vorgabe, daß es keine Reparationen geben wird, die von namibischer Seite jedoch gefordert werden.

Ich glaube, es gibt schon das Verständnis über eine finanzielle Kontribution, die man allerdings nicht Reparationen nennen wird. Der Hauptstreitpunkt ist, daß sich ein nicht geringer, nicht ganz einflußloser Teil der Herero und Nama nicht in diesen Verhandlungen wiederfindet und deshalb in New York im Januar 2017 geklagt hat. Diese Klage ist anhängig, das heißt, es ist noch nicht einmal entschieden, ob die Klage überhaupt zugelassen wird. Man ist ganz am Anfang. Es verzögert sich, weil sich Deutschland auf den Standpunkt gestellt hat, die Klageschrift nicht entgegennehmen zu müssen, weil das Gericht nicht zuständig ist.

Jetzt wurde die Bundesregierung durch die Regierung Trump im Grunde dazu gezwungen, die Klageschrift anzunehmen und vor Gericht zu erscheinen. Darauf wurde umgehend beantragt, den Gerichtstermin zu vertagen, weil man nicht vorbereitet sei auf die Klage. Das heißt, anderthalb Jahre nach Klageerhebung ist man immer noch keinen Schritt weiter, außer daß Deutschland jetzt durch einen Rechtsvertreter dort dazu Stellung nimmt, warum das Gericht nicht zuständig ist. Das hat im Grunde das Verfahren und auch die Verhandlungen unglaublich beschädigt. Aber dadurch, daß das Gericht die Klage nicht sofort abgeschmettert hat, sind die Erwartungen in Namibia ins Uferlose gewachsen, was nun diese finanzielle Kontribution eigentlich sei. Weil es einerseits in der namibischen Gesellschaft Drohungen gibt, Farmen zu besetzen, die oftmals im Besitz von Deutschstämmigen sind, und die Bundesregierung es andererseits nicht geschafft hat, dieses Problem einvernehmlich zu lösen, ist das Ganze radikalisiert worden.

Das ist der Grund, warum keiner im Moment irgendwie eine Idee hat, wie man da wieder herauskommt. Deutschland will unbedingt Reparationen vermeiden und deshalb auch den Begriff des Genozids nicht juristisch fassen, weil es nicht akzeptieren will, daß es eine gesetzliche Verpflichtung zur Wiedergutmachung gäbe. Es ist gar nicht so, daß man Reparationsforderungen auch von anderen ehemaligen Kolonien fürchtet, sondern man schreckt vor allem vor den ungelösten Reparationsfragen im Zweiten Weltkrieg zurück.

Schon vor 15 Jahren erklärte mir jemand im Auswärtigen Amt, Deutschland hätte den Grundsatz, daß es Wiedergutmachung nur an Überlebende zahlt, die das selbst reklamieren können wie noch lebende Zwangsarbeiter oder jüdische Insassen von Konzentrationslagern, aber nicht den Grundsatz anerkennt, daß man für Tote an die Nachkommen bezahlt. Mir wurde damals gesagt, daß die Millionen von Toten im Zweiten Weltkrieg die Kapazität Deutschlands übersteigen würden. Man hat Angst davor, daß dann eben auch die Geiselerschießungen in Griechenland, Italien und Frankreich wieder hochkommen. Das macht die Situation unglaublich verworren und zeigt, daß es einfach ein Riesenfehler war, wie die Bundesregierung vorgegangen ist.


Graphik: [Public domain], via Wikimedia Commons

Fest in kolonialer Hand - Afrika 1914
Graphik: [Public domain], via Wikimedia Commons

SB: Wie ist es zu erklären, daß die Opferverbände der Herero und Nama die Bundesrepublik auf einem Sonderweg verklagen? Hat es möglicherweise mit der politischen Situation in Namibia und der Konkurrenz unter den dortigen Volksstämmen zu tun?

JZ: Man sieht hier das ganz große Problem, daß der Kolonialismus seine Spuren hinterlassen hat. In ganz Afrika sind die Nationalstaaten, die wir heute als unabhängige Staaten kennen, zum Großteil aus Kolonien hervorgegangen. Die Grenzziehung dieser Kolonien ist unter den Europäern ohne Rücksicht auf die Verhältnisse vor Ort ausgehandelt worden. Im Falle Namibias hat man einen Nationalstaat, in dem sehr unterschiedliche Gruppen wie die Ovambo, OvaHerero und Nama leben. Um 1900 gab es in dem Land, zumindest von der Größenordnung her, etwa gleich viele Ovambo und Herero. Nach dem Genozid stellten die Herero nur noch ein Zehntel der Stärke der Ovambo. Als es zur Unabhängigkeit kam, bildeten die Ovambo die dominierende Gruppe und stellen im Grunde heute die Regierung.

Schon seit Jahren beklagen sich die Herero darüber, daß die Ovambo die Entwicklungshilfe eher in ihre Klientel-Region im Norden leiten. Als Deutschland dann mit Namibia zu verhandeln begann, kam sofort der Vorwurf, ihr könnt doch nicht über unser Leid und die Wiedergutmachung an uns Herero und Nama mit der Ovambo-Regierung verhandeln, die bereits die Entwicklungshilfe nicht gleichmäßig aufs Land verteilt und auch diese Gelder in den Norden und nicht in den Süden und ins Zentrum Namibias, wo die Herero und Nama ihr Land haben, stecken wird. Daß die deutsche Regierung diesen Konflikt einfach ignorierte und nur mit der namibischen Regierung verhandelte, erweist sich jetzt als hochproblematisch.

SB: 2014 wurde die Forschungsstelle Hamburgs (post-)koloniales Erbe eingerichtet. Welches Ausmaß nimmt die Hamburger Kolonialforschung in Ihrer eigenen Arbeit als Historiker ein?

JZ: Ich habe eine ganz normale Professur an der Universität Hamburg für die Geschichte Afrikas und bin praktisch nebenbei gebeten worden, diese Forschungsstelle aufzubauen. Wir hatten vom Senat 2014 eine Anschubfinanzierung bekommen, das waren zwei Doktorandenstipendien und eine halbe Mitarbeiterstelle. Dann haben wir innerhalb kurzer Zeit durch Drittmittelanwerbung bei Stiftungen den Mitarbeiterstab auf jetzt 14 Leute hochgeschraubt, die an verschiedenen Themen arbeiten. Das führt dazu, daß ich an der Obergrenze dessen bin, was irgendwie noch zu schaffen ist, auch weil der Verwaltungsapparat, der gewährleisten könnte, daß so viele hochmotivierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die mit Herzblut dabei sind, aber trotzdem eine bürokratische Institution wie die Universität überstehen müssen, ihrer Arbeit nachgehen, eigentlich noch gar nicht vorhanden ist. Wir machen dennoch Fortschritte. Das einzige Problem ist, je mehr wir an der Oberfläche kratzen, desto mehr finden wir. Das Thema geht uns praktisch unter der Hand weg, egal, wo wir reinstochern, tut sich noch mehr auf, müssen wir genauer hingucken.

SB: Gibt es einen bestimmten Auftrag, vielleicht sogar Vorgaben inhaltlicher Art, die seitens des Hamburger Senats mit dieser Initiative verbunden sind?

JZ: Nein. Ich habe von Anfang an klargemacht, daß der Senat das finanzieren kann, indem er das Geld an die Universität überweist, die ja Erfahrung mit Drittmittelforschung hat, daß es aber keine inhaltliche Beeinflussung geben kann. Forschung und Lehre sind verfassungsmäßig geschützt und frei. Das Ziel ist, Grundlagenforschung zu betreiben. Wenn beispielsweise Straßen umbenannt werden sollen, hat man so eine Anlaufstelle, wo man Hintergrundinformationen einholen kann. Als die Frage auftauchte, wie man mit dem Trotha-Haus umgehen soll, was auch das öffentliche Interesse betraf, habe ich ein Kommentarschild entworfen. Dazu hat beigetragen, daß ich seit 25 Jahren zu dem Genozid an den Herero forsche und auf den neuesten Stand bin.

SB: Sie erwähnten vorhin, daß Sie bei ihrer Forschung auf Dinge gestoßen sind, die man so nicht geahnt hat. Könnten Sie einige Beispiele schildern?

JZ: Es hieß immer, die Truppen nach Südwestafrika seien über Wilhelmshaven oder Bremerhaven verschifft worden. Als ein Student mich nach dem Thema seiner Masterarbeit um Rat fragte, sagte ich ihm, schreibe über den Baakenhafen in Hamburg als kolonialen Erinnerungsort. Er ging dann ins Archiv und fand heraus, daß 95 Prozent dieser Truppen über den Baakenhafen liefen und daß richtige Abschiedspartys gefeiert wurden. Der Großreeder Adolph Woermann hat das gesellschaftlich inszeniert, wenn wieder ein Schiff wegfuhr. Dieser Student hat bei seiner Recherche Eintrittskarten zur Verabschiedungsfeier gefunden, und damit war erstens klar, daß Hamburg unmittelbar an diesem Genozid über die Woermann-Linie drinhängt, und zweitens die ganze Stadt daran teilgenommen hat, sonst bräuchte es ja nicht dieses Zelebrieren beim Wegfahren der Schiffe, die mit Hurra in den Krieg zogen.

Mich interessiert vor allem, welche Bedeutung koloniales Gedankengut für die wilhelminische Gesellschaft hatte bzw. wie sehr sie davon infiltriert war. Von den Völkerschauen und dem Völkerkundemuseum wußte man. Nun hat eine Theaterwissenschaftlerin Bühnenaufführungen mit kolonialen Stoffen aus dieser Zeit in Hamburg untersucht und ist dabei auf Theaterstücke über den Herero-Krieg gestoßen, was den Bühnen selbst gar nicht bekannt war. In dem Zusammenhang erinnere ich mich an ein interessantes Gespräch mit dem Intendanten Joachim Lux des Thalia-Theaters, der mir im letzten Jahr anläßlich eines großen Theaterfestivals sagte, wir müssen etwas zum Kolonialismus machen, um ihn aufzuarbeiten. Als ich darauf erwiderte, daß sein eigenes Haus darin verwickelt war, wußte er nichts davon. Das ist völlig in Vergessenheit geraten.


Foto: Bundesarchiv, Bild 183-R24738 / Unknown / CC-BY-SA 3.0 [CC BY-SA 3.0 de (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)], via Wikimedia Commons

Kamelreiterkompanie der deutschen Schutztruppe während des Herero-Aufstands, 1904
Foto: Bundesarchiv, Bild 183-R24738 / Unknown / CC-BY-SA 3.0 [CC BY-SA 3.0 de (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)], via Wikimedia Commons

Eine neue Studie zur Woermann-Linie dokumentiert die ökonomischen Interessen der Familie in Westafrika, die dort auch Plantagen betrieben hat. Doch die Hanseaten behaupten, nichts damit zu tun zu haben, und wenn, dann hätten sie nur Handel getrieben. Nein, sie waren auch Plantagenbesitzer. Dazu gibt es Dutzende Beispiele. Auch zum Thema Hamburg als Zentrum afrikanischer Selbstorganisationen in den 20er und 30er Jahren haben wir eine Arbeit laufen, die die Lebenswirklichkeit afrikanischer Menschen in Hamburg facettenreich untersucht und der Frage nachgeht, wie Hamburg als große Handelsstadt und europäische Metropole in diesen Kolonialismus verwickelt war und diese symbiotische Beziehung auch antrieb.

SB: Die Veranstaltung heute sollte eine Art Zwischenbilanz darstellen. Nun waren die Reaktionen darauf nicht durchweg positiv, vor allem, wenn man bedenkt, wie sehr Ihre Forschungen das Selbstverständnis der Stadt bzw. der Stadtoberen ankratzen. Befürchten Sie, daß sich Ihre Arbeit künftig noch schwieriger gestalten wird?

JZ: Natürlich haben wir auch Widerstand bekommen und sind Institutionen begegnet, die einfach sagten, wir haben damit nichts zu tun. Der Klassiker ist die Handelskammer. Aber wenn man Belege findet, bewegen sie sich allmählich doch und beteuern, daß das aufgearbeitet werden muß. Ich glaube, daß wir über den Punkt, überhaupt Akzeptanz als Gesprächspartner zu finden, schon hinaus sind. Das zeigt ja auch die Veranstaltung heute. Wir hatten vor zwei Jahren eine historische Ringvorlesung zu dem Thema mit fast 400 Zuhörern, normalerweise kommen zu solchen Events vielleicht fünfzig Leute. Die Menschen sind dafür sensibilisiert.

Daß nicht alle Privatfirmen und Familien uns jetzt mit offenen Armen empfangen, ist irgendwo auch verständlich. Es ist für sie schwierig, erfahren zu müssen, was ihre Großväter und Urgroßväter getan haben. Es gehört ein Lernprozeß dazu, um sagen zu können, ich kann nichts dafür, was mein Großvater oder meine Großmutter gemacht haben, aber ich kann etwas dafür, wie ich mich heute zur Vergangenheit stelle, das ist meine Verantwortung. Da sind noch dicke Bretter zu bohren, aber ich glaube, wir kommen weiter. Die Entschuldigung von Kultursenator Carsten Brosda an eine Delegation der Herero und Nama ist zunächst nur eine symbolische Geste, aber wenn die Politik die symbolischen Gesten vorgibt, findet man auch in den Institutionen die Bereitschaft, auf den mittleren Ebenen mit uns zusammenzuarbeiten.

Um jetzt ein bißchen abzuschweifen: Ich bin auf Bundesebene auch involviert in die Debatte um die koloniale Raubkunst und einer der Autoren des Leitfadens des Deutschen Museumsbundes. Darin merkt man, daß Deutschland auf 130 Seiten haarklein jede Eventualität klären will, während der französische Präsident Emmanuel Macron in Burkina Faso zusicherte, alle geraubten Kunstwerke wieder zurückzugeben. Das wird er am Ende vielleicht nicht machen, aber diese große Geste bringt Dynamik in die Debatte, und deshalb sind symbolische Entschuldigungen auch wichtig.

SB: Die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland e.V. hat den Leitfaden kritisiert, weil darin der Standpunkt vertreten wird, daß die Rückgabe nur für illegale Übereignungen gelte, womit außer acht gelassen wird, daß in jenen Zeiten koloniales Recht herrschte. Wie schätzen Sie das ein?

JZ: Daß illegal Erworbenes zurückzugeben sei, wird mittlerweile von vielen Kulturfunktionären und Politikern mitgetragen und ist für sich genommen ein Fortschritt in der Debatte gegenüber der Haltung, nichts restituieren zu wollen. Das größte Problem dabei ist, was ist illegal? Diese Debatte hatten wir auch beim Verfassen des Leitfadens, wo wir darauf hinwiesen, daß natürlich nicht nur Kolonialrecht gelten kann. Man kann bei der Bewertung der Illegalität einer Transaktion vor 130 Jahren nicht automatisch deutsches Kolonialrecht anlegen. Das haben wir mitbedacht, und es ist auch bekannt, daß ich schon seit längerem dafür argumentiere, daß man die Beweislast generell umkehren muß. Bisher geht man nach der Maxime vor: Bis etwas nachgewiesenermaßen illegal erworben wurde, gilt es als legal erworben. Ich hingegen vertrete die Ansicht, daß der Kolonialismus ein solches System des Machtungleichgewichts war und die Drohung mit dieser kolonialen Macht immer im Hintergrund stand, so daß jede Transaktion, jeder Erwerb im kolonialen Kontext als illegal angesehen werden sollte, bis im Einzelfall nachgewiesen wurde, daß es legal war.

SB: Mit dieser Auffassung dürften Sie ziemlich allein stehen.

JZ: Richtig. Ich habe mich damit noch nicht durchsetzen können, aber immerhin wurde ich auch nach meiner Veröffentlichung in dieses Gremium einberufen. Es ist also nicht so, daß man diesen Standpunkt jetzt nicht wahrnimmt. Zur Rückgabe geraubter Kulturgüter braucht es einen politischen Willen, das läßt sich nicht aus den Museen heraus inhärent klären. Nötig ist eine große gesellschaftliche Debatte, ob wir in Straßen leben wollen, die nach Massenmördern benannt sind, oder in Museen gehen wollen, wo wahrscheinlich sehr vieles illegal erworben wurde. Gibt es Möglichkeiten, wie wir uns praktisch neu aufstellen? Das muß gesellschaftlich ausdiskutiert werden. Diese Diskussion müssen wir führen.

Es hilft nichts, dies hinter verschlossenen Türen auszuhandeln. Der Umgang mit der kolonialen Vergangenheit ist meiner Meinung nach eine der großen identitätspolitischen Debatten der Gegenwart. Darin wird viel verhandelt: Wer gehört zu Deutschland und wer nicht? Was ist die Leistung Deutschlands und was nicht? Man denke in dem Zusammenhang nur an die Äußerung des AfD-Vorsitzenden Alexander Gauland am Samstag auf einem Bundeskongreß der Nachwuchsorganisation Junge Alternative im thüringischen Seebach, daß Hitler und die Nazis nur ein Vogelschiß sind gegenüber tausend Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte. Die 12 Jahre unter dem Nationalsozialismus waren schlimm und der Rest war super? Die Frage, die es zu klären gilt, muß lauten: Haben sich die Menschenrechte in Europa auf dem Rücken einer Wirtschaftsakkumulation im kolonialen Kontext entwickelt, die es erlaubte, daß dann ein Kant oder wer auch immer diese Gedanken formulierte? Das müssen wir völlig neu erzählen.

SB: Im Grunde müßte man schon die Begriffe hinterfragen. Im Lexikon der Bundeszentrale für Politische Bildung wird zum Kolonialismus erklärt, daß die europäischen Staaten erst nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Kolonien in die Unabhängigkeit entließen und etliche von ihnen bis heute darunter litten, so lange von fremden Staaten beherrscht worden zu sein. [1] Von historischer Aufarbeitung und Verantwortungsübernahme keine Spur.

JZ: Deshalb sage ich ja, daß Kolonialgeschichte die Geschichte der Globalisierung ist. Wir sind jetzt in der Phase der postkolonialen Globalisierung. Nun ist es jedoch nicht so, daß das eine ausläuft und dann kommt das andere, sondern daß es in vielerlei Art und Weisen ineinander übergeht. Wir müssen die europäische Geschichte und die Globalgeschichte völlig neu erzählen. Wir erzählen immer nur die Geschichte vom europäischen Erfolg. Gerade in der heutigen Zeit - auch mit Verweis auf die Geflüchteten - wird die europäische Geschichte immer so erzählt, als hätte Europa alles aus eigener Kraft geschaffen, und jetzt würden die anderen kommen und etwas von unserem Reichtum abhaben wollen. Dabei ist die Migrationsgeschichte immer schon ein Teil der Weltgeschichte gewesen. In den letzten 600 Jahren ging sie 550 Jahre lang in Richtung von Europa weg, und jetzt beginnt es sich umzukehren. Das muß man miterzählen, sonst erzählt man wirklich nur die Hälfte der Geschichte, und das führt dann zu Verengungen und Fehlwahrnehmungen.


Foto: © 2018 by Schattenblick

Während des Eingangsreferats der Podiumsdiskussion "Hamburgs koloniales Erbe"
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SB: Ein Stichwort möchte ich Ihnen noch geben. Wie relevant ist das Buch "Die Verdammten dieser Erde" von Frantz Fanon, das erste Mal erschienen im Jahre 1967, welches zu dem Thema Imperialismus und Kolonialismus unter großer Beachtung seinen Weg zum linkskritischen Lesepublikum fand, denn aus Ihrer Sicht noch für die heutige Zeit?

JZ: Die Analyse ist immer lesenswert, sowohl die von Fanon als auch das Vorwort von Jean-Paul Sartre. Natürlich ist sie zeitgebunden. Ich würde wahrscheinlich manches anders formulieren, aber Fanon hat natürlich das Recht, es auf seine Weise zu machen. Wir haben heute auf der Veranstaltung gesehen, daß sich auch Millicent Adjei und Tom Gläser anders ausdrücken und Position beziehen. Das sind immer auch subjektive Positionen. Aber im Grunde glaube ich, daß die Welt, wenn sie eine Zukunft haben und auch die Geflüchtetenströme einschränken will, eigentlich nur den einen Weg der globalen und sozialen Gerechtigkeit gehen kann. Das heißt: Die etwas haben, müssen teilen. Wenn es nicht zum Teilen des Wohlstands kommt, wird es nicht möglich sein, die Geflüchtetenbewegungen irgendwie zu steuern.

Und in Wahrheit heizt sich die Krise im wortwörtlichen Sinne ja auch noch auf. Man kann sehen, daß es einen Zusammenhang zwischen Klimawandel und Gewalt und zwischen Gewalt und Migration gibt. Und wir sehen die Strukturen und fragen: Wer sind die Verursacher des Klimawandels und wer die Leidtragenden? Und dann hat man wieder in etwa diese geographische Aufteilung. Das führt dazu, daß im Grunde immer mehr Leute gezwungen werden, ihre Heimat, wo immer sie auch ist, zu verlassen. Und dann wird so getan, als könne man das irgendwie in den Griff bekommen, wenn man sagt, der dritte SUV muß weg. Um von den eigentlichen Ursachen des Klimawandels abzulenken, machen wir im Moment eine klassische Sündenbockpolitik und bauen Mauern, was eigentlich noch nie funktioniert hat.

SB: Herr Zimmerer, vielen Dank für das Gespräch.


Anmerkung:

[1] http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/das-junge-politik-lexikon/161315/kolonialismus


im Schattenblick ist unter POLITIK → REPORT zur Veranstaltung "Hamburgs koloniales Erbe" unter dem kategorischen Titel "Kolonialwirtschaftsgeschichte" erschienen:

BERICHT/321: Kolonialwirtschaftsgeschichte - am Beispiel Hamburgs ... (SB)

11. Juni 2018


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