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INTERVIEW/364: Gegenwartskapitalismus - von den Kurden lernen ...    Kerem Schamberger im Gespräch (SB)


Kerem Schamberger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Der politische Aktivist ist in der DKP organisiert und im Verein marxistische linke aktiv. Auf der Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern III", die vom 14. bis 16. April an der Universität Hamburg stattfand, moderierte er das abschließende Panel, auf dem Perspektiven für die Zukunft einer demokratischen Moderne diskutiert wurden. Im Anschluß beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen zur Bedeutung der kurdischen Freiheitsbewegung für die Linke der Bundesrepublik.



Im Gespräch - Foto: © 2017 by Schattenblick

Kerem Schamberger
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Auf dieser Konferenz wurde auch über Landwirtschaft und Ernährungssouveränität beraten, wobei auch Begriffe wie "Mutter Erde" fielen. Wie gehst du mit solchen im historischen Materialismus eher unüblichen Standpunkten um?

Kerem Schamberger (KS): Für mich besteht, wenn von Mutter Erde gesprochen wird, kein Widerspruch zum Marxismus oder historischen Materialismus. Wir müssen uns von der Vorstellung trennen, daß es eine Bezeichnung für ein Ding gibt, sondern es gibt für eine Sache verschiedene Bezeichnungen. Wenn die kurdische Bewegung von Konföderalismus spricht, dann stellt das für mich eine Art Äquivalent zum Sozialismus dar. Die kurdische Bewegung gehört zu den wenigen Bewegungen, die es nach 1989 geschafft haben, sich zu modernisieren, ohne ihre Prinzipien aufzugeben.

Abdullah Öcalan hat einmal gesagt, auf dem Sozialismus zu bestehen bedeutet, auf dem Menschsein zu bestehen. Aus diesem Grund ist die kurdische Bewegung immer noch eine sozialistische Bewegung, auch wenn wir in Nuancen unterschiedliche Einschätzungen der ökonomischen Frage et cetera haben. Ich glaube aber, wir können von der kurdischen Bewegung lernen, daß die ökologische Frage eine übergeordnete Rolle spielt. Ohne eine intakte Umwelt ist alles nichts, könnte man sagen, und dieses Verhältnis zwischen Natur und Kapital ist in den früheren marxistischen Bewegungen eher untergegangen. Stets stand der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit im Mittelpunkt, aber nicht die Problematik der Ökologie. Wenn die Umwelt zerstört ist und es die Welt nicht mehr gibt, dann lohnt es auch nicht mehr, für den Sozialismus zu kämpfen.

SB: Manche Linke in der Bundesrepublik halten es für problematisch, daß die kurdische Bewegung mit Abdullah Öcalan eine Art geistigen oder ideologischen Mentor hat. Wie würdest du erklären, wieso es möglicherweise eine tragende Eigenschaft dieser Bewegung ist, sich auf eine Person zu orientieren?

KS: Auf der Konferenz ist deutlich geworden, daß sich stark auf Abdullah Öcalan bezogen wird, aber nicht so sehr auf seine Person, sondern auf ihn als Theoretiker. Wie sich die DKP oder andere kommunistische Parteien immer auf Marx, Engels und Lenin bezogen haben, wird sich hier auf Öcalan bezogen. Man muß sich aber auch der Situation bewußt sein, aufgrund derer es dazu gekommen ist. Die Kurden waren seit Jahrzehnten einer massiven Assimilation ausgesetzt, ihre Sprache sollte ausgelöscht werden. In dieser Situation schafft ein Vordenker eine Theorie, die genau das Gegenteil dessen hervorbringt, ein Erstarken des Kurdischseins nicht im nationalistischen, sondern im bewahrenden Sinne. Und deshalb ist Öcalan für viele Kurdinnen und Kurden auch ein Mensch, der ihre Identität gerettet und es möglich gemacht hat, wieder "Ich bin Kurde" zu sagen. Da kann man verstehen, daß die Dankbarkeit groß ist. Aber natürlich steht Öcalan nicht nur dafür, sondern er hat viele fortschrittliche Ideen weiterentwickelt, die jetzt ihre praktische Anwendung in Rojava finden. Und dafür kann man im schon dankbar sein, wobei ich natürlich von Personenkult nicht viel halte, aber man muß sich halt anschauen, woher das kommt.

SB: Als Mitglied der DKP bist du in einer Partei, die gegen Monopolkapital ausgerichtet und auf die Arbeiterklasse orientiert ist. Hier wurden teilweise ganz andere Fragen, die etwa Bauern als revolutionäre Subjekte betreffen, aufgeworfen. Könnte das eine sinnvolle Inspiration auch für eine DKP sein, der mitunter nachgesagt wird, als Partei mit hohem Durchschnittsalter nicht auf der Höhe linker Entwicklung zu sein?

KS: Die Ausgangsbedingungen für eine Revolution sind in Kurdistan ganz andere als hier. So gibt es in Rojava keine große Arbeiterklasse oder arbeitende Bevölkerung, daher muß auch der politische Anspruch ein anderer sein. Ich glaube auch, daß wir uns hier in Deutschland von dieser Überfixierung auf die Arbeiterklasse lösen sollten. Natürlich ist die Arbeiterklasse eine bestimmende Klasse, aber es müssen Bündnisse eingegangen werden mit anderen Schichten und Klassen. Die DKP ist eine antimonpolistische Partei, und die kurdische Bewegung ist eine antimonpolistische Bewegung, die durch Vergesellschaftungsprozesse verhindern will, daß sich die Macht eines Konzerns in einer Hand bündelt. In Rojava, um ein konkretes Beispiel zu nennen, wird vor allem mit Kooperativen gearbeitet. Weg von Privatunternehmen hin zu Kooperativen. Und das halte ich aus der Perspektive der DKP, aber auch aus der kurdischen Perspektive betrachtet für sehr revolutionär.

SB: Es gibt vielleicht auch Bindeglieder, wenn man zum Beispiel an die ursprüngliche Akkumulation denkt und daran, daß Land heute wieder stark in Wert gesetzt wird. Dazu die Frage der Ernährungsouveränität, die auch hierzulande wieder zum Thema werden könnten, wenn nicht mehr selbstverständlich ist, in einer Gesellschaft des Überflusses zu leben.

KS: Ja, es wird so oder so kommen. Wir leben in einer Art Externalisierungsgesellschaft, wie es Professor Lessenich aus München bezeichnet. Wir schätzen es, im Supermarkt billig einkaufen zu können, wollen aber nicht wissen, was für Folgen das für die Länder hat, in denen diese Nahrungsmittel produziert und woraus die Rohstoffe für das Essen extrahiert werden, von denen wir im Westen profitieren. Das muß in der nächsten Zeit stark thematisiert werden.

SB: Kerem, vielen Dank für das Gespräch.


Auf dem Podium - Foto: © 2017 by Schattenblick

Bei der Moderation des Abschlußpanels zusammen mit Fawza Yusuf
Foto: © 2017 by Schattenblick


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16. Mai 2017


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