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INTERVIEW/362: Gegenwartskapitalismus - viele Fragen, eine Stimme ...    Martin Dolzer im Gespräch (SB)



Martin Dolzer ist Abgeordneter der Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft und deren Fachsprecher für die Bereiche Europa, Frieden, Wissenschaft, Justiz und Queer. Auf der Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern III", die vom 14. bis 16. April an der Universität Hamburg stattfand, beantwortete der seit langem für Menschenrechte, soziale Rechte und Frieden kämpfende Aktivist und Politiker dem Schattenblick einige Fragen zur Unterdrückung von KurdInnen in der Türkei, der Rolle, die die deutsche Regierung bei der gegen diese Gruppe gerichteten Repression dort wie hier einnimmt, und der Bedeutung der kurdischen Freiheitsbewegung für die bundesrepublikanische Linke.

Schattenblick (SB): Die Bundesregierung hat die Strafverfolgung wegen kurdischer Symbole weiter verschärft und bleibt bei ihren Avancen in Richtung Erdogan. Was hat das deiner Ansicht nach für die die kurdischen Frage zu bedeuten?

Martin Dolzer (MD): Daß die Bundesregierung momentan nach innen die Repression aufrechterhält bzw. über Verbote von kurdischen Symbolen verschärft, zeigt sich auch daran, daß wir gestern hier in Hamburg die ersten Gewahrsamnahmen wegen Öcalan- oder YPG-Fahnen hatten. Das finde ich sehr bedenklich.

Darüber hinaus läuft in Hamburg ein 129b-Verfahren gegen den kurdischen Aktivisten und Politiker Zeki Eroglu. Er ist jetzt der vierte, der vor einem Staatsschutzsenat des Hamburger Oberlandesgerichtes (OLG) unter Anklage steht. Die Verteidigung und der Beschuldigte versuchen zu verdeutlichen, worum es in dem Prozess angesichts der Politik in der Türkei gegenüber KurdInnen als auch oppositionellen PolitikerInnen gehen müsste. Sie sind bestrebt, die kontinuierlichen und systematischen Menschenrechtsverletzungen und die sich zuspitzenden Kriegsverbrechen in der Türkei in das Verfahren mit einzubringen.

Zum Beispiel sind in Cizre vor einem Jahr in mehreren Kellern insgesamt 120 Menschen getötet, viele von Ihnen, Augenzeugen zufolge, bei lebendigem Leibe von Soldaten verbrannt worden. Dies ist von PolitikerInnen und KünstlerInnen zur Anzeige gebracht worden. Hinzu kommt der Beschuss ganzer Städte mit Raketen und Granaten. Mehrere Tausend Menschen wurden dabei getötet, ca. 500.000 vertrieben. Die Verteidigung hat deutlich gemacht, dass die Menschen durch psychologische und reale Kriegsführung ständig retraumatisiert werden. In bisher zwei Erklärungen beschrieb Zeki Eroglu die Geschichte der systematischen Unterdrückung der KurdInnen und die an ihnen verübten Massaker seit Gründung der Türkei. Er sieht sein Wirken im Rahmen der Geschichte des Widerstands gegen dieses Unrecht und gegen einen Völkermord an den KurdInnen. Das Gericht räumt zwar ein, dass es in der Türkei systematisches Unrecht und staatliche Kriegsverbrechen gibt. Es gesteht den KurdInnen jedoch nicht das Recht auf bewaffneten Widerstand gemäß Völkerrecht oder Widerstand gemäß Paragraph 20 Abs. 4 Grundgesetz in Verbindung mit den Notwehrrechten aus den Paragraphen 32, 34 Strafgesetzbuch zu. Insgesamt zeugt die Haltung der Richter von einer großen Ignoranz gegenüber dem Beschuldigten und der Situation in der Türkei.

In Rojava in Nordsyrien arbeitet die Türkei weiterhin mit der Al Nusra-Front und dem Islamischen Staat zusammen. Eigentlich müßte man annehmen, daß die Bundesregierung eine Strategie entwickelt, wie man Menschenrechte einfordern und politischen Druck gegenüber Erdogan wegen der Massenfestnahmen von Journalisten und GewerkschafterInnen ausüben könnte. All dies müßte im Grunde ausschlaggebend für die Bundesregierung sein. Sie stellt allerdings stattdessen geostrategische Interessen in den Vordergrund.

Wir fordern, die militärische und sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit der Türkei einzustellen und wirtschaftspolitischen Druck aufzubauen. Aber die Bundesregierung macht genau das Gegenteil und verstärkt erneut die Zusammenarbeit mit Erdogan im sicherheitspolitischen Bereich. Zwar wird kritisiert, daß die Gülen-Bewegung weitgehend von Erdogan kriminalisiert und zum Teil über DITIB versucht wird, Anhänger des Predigers hier in Deutschland einzuschüchtern. In diesem Zusammenhang werden von der Bundesregierung und entsprechenden Behörden auch Listen offengelegt. Aber es gibt sicher auch Listen der türkischen Regierung über linke AktivistInnen und der kurdischen Bewegung Nahestehende - sowohl KurdInnen wie Deutsche -, die nicht herausgegeben werden.

An dieser Diskrepanz kann man erkennen, daß die Bundesregierung lieber mit reaktionären als mit demokratischen und fortschrittlichen Kräften zusammenarbeitet. Eigentlich entsprechen die Kommunalregierungen in Rojava und die demokratischen Selbstverwaltungen in den kurdischen Provinzen in der Türkei viel eher dem Bild von Gleichberechtigung, Menschenrechten und Demokratisierung, für das die Bundesrepublik als auch die Europäische Union zumindest auf dem Papier stehen, während Erdogan nun wirklich ein Diktator ist, der die türkische Gesellschaft immer weiter faschisiert. Aber das scheint egal zu sein, weil die außenpolitische Strategie der Bundesregierung auf Machterhalt und Einflußnahme in Bezug auf die neokoloniale Neuaufteilung des Mittleren Ostens ausgerichtet ist. Ebendeshalb wird weiterhin die Waffenbruderschaft mit der Türkei gesucht.

SB: Ist das Argument der Menschenrechte bzw. der Wertegemeinschaft für die Außenpolitik der EU überhaupt noch relevant? Als Jugoslawien zerschlagen wurde, sprachen Kritiker noch von Menschenrechtsimperialismus. Heute scheinen Werte nicht mehr in dem Ausmaß herangezogen zu werden, weil hegemonialpolitisch agiert und auch argumentiert wird.

MD: Ja, wir erleben einen Paradigmenwechsel. Vormals wurden die Menschenrechte sehr stark bemüht, heute werden sie vielleicht noch am Rande erwähnt. Nehmen wir zum Beispiel die Äußerungen von Ursula von der Leyen oder auch Sigmar Gabriel in Bezug auf die Raketenangriffe der USA in Syrien. Vertreter der UN haben im Sicherheitsrat erklärt, daß niemand wüßte, wer für die Chemiewaffen verantwortlich sei, die den Anlaß für diese Angriffe gab, weswegen eine unabhängige Untersuchung gefordert wurde. Auch die russische Regierung und weitere Staaten in der UN schlossen sich dieser Forderung an. Doch Frau von der Leyen wie auch Sigmar Gabriel sagten - jenseits vom Völkerrecht und irgendwelcher Legitimation -, der Raketenangriff ist ein völlig verständlicher Schachzug, um weitere Giftgaseinsätze, wie sie es selber nennen, zu verhindern. An dieser Stelle werden ganz offen und äußerst aggressiv neokolonialistische und auch Regimechange-Ansprüche vorangetrieben.

In Bezug auf die Türkei wird in der Presse immer noch über Menschenrechtsverletzungen berichtet, aber in den Abwägungen der Bundesregierung spielt das keine Rolle. Wenn man sich die Strategiepapiere der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) oder auch des European Institutes for Security Studies (EUISS) anschaut, findet sich dort ein klarer Strategiewandel zu deutscher Vorherrschaft und einem starken Europa mit einer sehr aggressiven Außenpolitik, die sowohl militärisch wie auch wirtschaftspolitisch und propagandistisch flankiert sein soll, bei gleichzeitiger Abschottung gegen zu erwartende Flüchtlingsströme. Es wird versucht den Diskurs dazu schrittweise in der Öffentlichkeit zu wandeln. Dadurch wird immer offensichtlicher, was eigentlich angestrebt wird. Die Situation ist natürlich ambivalent, aber von der Grundausrichtung her ist es sehr bedenklich zu sagen, wir wollen jetzt als Führungsmacht in einer EU agieren, die auf außenpolitischer Ebene eine gemeinsame Verteidigungs- und Angriffsstrategie aufbaut.

In der Rhetorik wird nicht mehr so stark auf Menschenrechte gepocht, aber dafür kommen andere Begriffe zum Zuge. Putsch heißt jetzt "Good Governance", aggressive Kriegsintervention "Responsibility to protect". Das ist schon ein bißchen 1984-mäßig oder schon ein ganzes Stück weiter, weil versucht wird, bestimmte unbeliebte Maßnahmen hinter anderen Begrifflichkeiten zu verstecken. Ich glaube, die aggressive Außenpolitik als Menschenrechtsinterventionen zu deklarieren, ist mittlerweile selbst einigen MinisterInnen in der Bundesregierung zu doof, weil das inzwischen jeder durchschaut. Es wird mittlerweile vielmehr angestrebt, der Bevölkerung die vermeintliche Notwendigkeit von offensiven Interventionen näher zu bringen.

Aber die anderen Begrifflichkeiten bestehen nach wie vor. Dazu gehören auch Feindbildzuschreibungen. Es ist wichtig zu benennen, daß es in Syrien vor dem Aufstand 16 Geheimdienste gab, die die Opposition und die KurdInnen unterdrückt haben. Aber seit dem Aufstand ist die Regierung Assad, die eine Bevölkerungsmehrheit hinter sich hat, bemüht, zum Beispiel über eine Gerechtigkeits- und Versöhnungskommission und Amnestien Stabilität ins Land zu bringen. Solche Entwicklungen muß man anerkennen. Und natürlich ist Syrien auch Teil des Greater Middle East Projects. Die Zerstörungen von Irak, Libyen, Syrien und Iran zugunsten kleinerer Einheiten, die leichter kolonialistisch zu kontrollieren sein sollen, sind darin angedacht. Feindbildzuschreibungen wie "Assad ist der Schlächter" und "Rußland macht Terrorismus in Syrien" sind Kriegspropaganda. Mit solchen Mitteln wird entsprechend der schon benannten Konzepte offen gearbeitet. Aber man kann nicht konsistent Menschenrechtsverletzungen kritisieren, wenn man gleichzeitig mit aller Gewalt und in Zusammenarbeit mit menschenfeindlichen Bündnispartnern interveniert. Anstatt zu sagen, die Bevölkerung in einem Land muß selbst entscheiden, wer sie regiert oder wie die Gesellschaft sich konstituiert, wird von außen imperialistischer Druck ausgeübt. Und dieses Vorgehen zeigt sich nun immer aggressiver.

SB: Bei Assad scheiden sich die Geister. Kann man innerhalb der Linkspartei von einem relativ rationalen Konsens ausgehen oder gibt es starke Kräfte, die meinen, in den großen Chor einstimmen zu müssen, weil man sich ansonsten in eine völlig unhaltbare Position manövrierte?

MD: Hinsichtlich der Positionierung haben wir beides, weil noch keine klare Linie innerhalb der Linkspartei zu Syrien entwickelt wurde. Auch in unserer Fraktion haben wir dazu unterschiedliche Auffassungen. Es gibt auch diejenigen, die dazu neigen, in die vom Mainstream vorgegebene Feindbildrhetorik zu verfallen. In Bezug auf die Beziehungen zu Rußland haben wir dagegen einen sehr klaren Bundesparteitagsbeschluß, der deutlich macht, daß wir diese Propaganda nicht mitmachen werden. Natürlich kann und muss man Rußland bzw. die russische Regierung wie jede andere Regierung auch für das kritisieren, was schiefgeht oder einem respektvollem Umgang mit allen Menschen widerspricht. Aber grundsätzlich sind friedliche Beziehungen zu Rußland ein zentrales Moment. Der Beschluß besagt, dass wir für eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur den Dialog mit Rußland suchen. Zu Syrien gibt es allerdings Positionen, die wirklich 180 Grad konträr sind. Meine Position wird von relevanten Kräften getragen, aber es gibt auch Kräfte, denen zufolge Assad ein Schlächter und Diktator sei und daher mit aller Macht weg müsse. Eine grundsätzliche Regimechange-Logik wird aber von der Partei nicht getragen.

SB: Offiziell tritt die PYD innerhalb eines föderalen Syriens für Autonomierechte ein. Wird dieser politische Kurs von Seiten der Linkspartei unterstützt oder gibt es auch Kräfte, die die Unterstützung Rojavas als verfehlt ablehnen?

MD: Nein, die PYD wird aus der Linkspartei grundsätzlich unterstützt. Da sagt wirklich jede/r, es wäre gut, dass ein solches föderalistisches Projekt, wie es in Rojava schrittweise entwickelt wird, unterstützenswert ist. Die PYD wie auch die YPG/YPJ betreiben eine Politik mit dem Ziel, daß möglichst überall demokratische Strukturen entstehen und die einzelnen Ethnien und Religionsgruppen respektvoll zusammenarbeiten und sich demokratisch in basisorientierten Selbstverwaltungsstrukturen organisieren. Trotz der Angriffe durch den Islamischen Staat (IS) und die türkische Armee, ist in Rojava eine relativ große Stabilität entstanden. KurdInnen, AraberInnen, assyrische ChristInnen, EzidInnen und weitere Gruppen haben Selbstverwaltungsstrukturen aufgebaut, reorganisieren das Gesundheitssystem, die Schulen, die Landwirtschaft, betreiben ein menschenzentriertes Bildungswesen in Universitäten und Frauenakademien und Vieles mehr. Dieses Projekt strahlt eine große Schönheit aus und zeigt auf, dass auch gesellschaftliche Formationen jenseits der kapitalistischen Moderne und neoliberaler Politik möglich sind. Auf militärischer Ebene arbeiten YPG/YPJ im Rahmen der SDF ebenfalls mit sämtlichen Bevölkerungsgruppen zusammen, um die Region vom IS und der Al Nusra Front zu befreien. Die Städte oder Orte werden, wenn sie befreit wurden, dann entsprechend von den dort lebenden Menschen verwaltet. Das bedeutet, dass die YPG und die Fraueneinheiten der YPJ kein Vorrecht für die KurdInnen beanspruchen, obwohl sie die stärkste militärische Kraft innerhalb dieses Bündnisses sind. Darüber hinaus gibt es ganz unterschiedliche Bündnisse. So arbeitet die YPG auch mit den USA zusammen, um Rakka zu befreien, bildet aber auch eine Koalition mit Truppen Assads und Rußlands, um gegen die Türkei und den IS in der Region um Manbidsch eine Stabilität aufzubauen. Das ist auch richtig. In der Linkspartei gibt es eine grundsätzliche Solidarität mit den KurdInnen in Rojava und der PYD.

SB: Gilt das auch für die Aufhebung des PKK-Verbots?

MD: Ja, da haben wir in unserer Partei eine einheitliche Linie, und das ist uns sehr wichtig. Neulich war Bodo Ramelow im Hamburger Rathaus und hat noch einmal deutlich gemacht, daß die Kriminalisierung von KurdInnen völlig kontraproduktiv ist. Er sich auch für eine stärkere Zusammenarbeit mit der PYD ausgesprochen. In dieser Sache haben wir eine ganz klare Meinung, die durchweg positiv besetzt ist.

SB: In den 129b-Verfahren gegen Kurdinnen und Kurden werden einzelne Personen herausgegriffen und mit schwammigen Kriterien wie einer bloßen Assoziation mit einer als terroristisch bezeichneten Vereinigung unter Anklage gestellt. Worum geht es deiner Ansicht nach bei dieser Form der politischen Verfolgung?

MD: In Deutschland gibt es dazu eine historische Grundorientierung. Die Regierungen der Bundesrepublik haben in den letzten 70 Jahren immer versucht, starke linke Bewegungen, Organisationen oder Parteien möglichst klein zu halten, entweder mit strukturellen Mitteln oder über das Mittel der Kriminalisierung. Vom KPD-Verbot über 129a bis zu 129b wird im Grunde genommen eine ähnliche Methode genutzt, um zu versuchen, eine kraftvolle linke und auch gesellschaftlich wirksame Organisierung zu unterbinden. Genau das ist die Zielrichtung. Dabei ist es natürlich relativ willkürlich, wer da auf den ersten Blick herausgepickt wird, aber dennoch gibt es zwei Hauptlinien. Zum einen betrifft es Diejenigen, die gute Aufbauarbeit leisten und zum anderen Diejenigen, bei denen angenommen wird, man könnte sie vielleicht herausspalten oder als Kronzeugen gewinnen. Inzwischen versuchen Oberlandesgerichte, diese Verfahren immer schneller durchzuziehen, indem sie sich möglichst nur noch die Telefonüberwachung anhören und dann entscheiden, ja, es ist bewiesen, das ist ein Kader der PKK, weil er Konflikte in der kurdischen Community reguliert und Demos organisiert. Im Fall von Zeki Eroglu hat man sich zehn Tage lang Telefongespräche angehört, wo er mit einer Bekannten unter anderem über ein Kinderbuch gesprochen hat, in dem eine Hexe namens Kumri Menschen hilft. Diese Vorgehensweise ist höchst problematisch.

Nach dem Völkerrecht muß man der kurdischen Bevölkerung eigentlich das Recht auf Widerstand, das sogenannte Kombattanten-Recht, zugestehen, ähnlich wie beim ANC. In der Türkei findet ein internationaler bewaffneter Konflikt statt. Bei den systematischen Angriffen auf die Zivilbevölkerung staatlicherseits werden Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen begangen, so daß das Recht besteht, sich bewaffnet dagegen zu wehren. Aber der Bundesgerichtshof sagt: Nein, es liegt keine rechtliche Grundlage dafür vor, weil zum einen kein Rassismus vorherrscht wie in Südafrika und es sich zum anderen gemäß dem Status der Verträge der Siegermächte nach dem Ersten Weltkrieg um keinen kolonialistisch bedingten Konflikt handelt. Natürlich ist beides in Anbetracht der Realität zynisch, denn es gibt eine Art Rassismus, auch wenn keine Apartheid wie in Südafrika vorliegt, denn sobald man sich als Kurde in der Türkei politisch organisiert und sich über die letzten Jahrzehnte eben nicht den jeweiligen Regierungen unterordnet, wird man verfolgt, kriminalisiert, gefoltert oder auch getötet. Für den BGH ist das aber bedeutungslos.

Es bahnt sich allerdings eine neue Auseinandersetzung an, die sehr wichtig ist, aber bis jetzt noch keinen Eingang in die Rechtsprechung gefunden hat. Es geht um das Recht auf Widerstand gemäß Artikel 20 Absatz 4 des Grundgesetzes. In mehreren Landesverfassungen ist es als Jedermannsrecht verankert, das auf den Erfahrungen im Dritten Reich beruht. In dem Moment, wo systematisches Unrecht passiert, egal, ob in Deutschland oder anderswo, hat Jederman das Recht und sogar die Pflicht, sich dagegen zu organisieren und Widerstand leisten zu dürfen. Dies gilt, wenn man sich die Kriegsverbrechen in Cizre oder auch die Bombardierung einzelner Stadtteile mit schwerer Artillerie und Panzern anschaut, in denen eine gezielte Tötung von Menschen durch die türkische Armee vorgenommen wurde. In der Zwischenzeit gab es viele weitere Menschenrechtsverletzungen und immer wieder Akte kriegerischer Handlungen. Zudem arbeitetet die Regierung Erdogan weiter mit dem IS zusammen. Im Grunde bestand für die KurdInnen eigentlich zu jeder Zeit seit der Staatsgründung der Türkei 1923 dieses Widerstandsrecht. Das Gericht neigt momentan dazu, auch das abzulehnen. Es wird jedoch noch eine längere rechtliche Auseinandersetzung darum geben.

Die Kriminalisierung geschieht jedoch jenseits derartiger Abwägungen oder der Orientierung auf eine Lösung oder Heilung des Konflikts. Je nachdem, wie schnell man so ein Verfahren durchziehen kann, wird versucht, so viele wirksame AkteurInnen wie möglich ins Gefängnis zu bringen. Das Ganze ist schon zynisch, zumal die Gerichte sogar eingestehen, daß in der Türkei systematisch Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen begangen werden. Im ersten Verfahren vor dem OLG Hamburg hat die Staatsschutzkammer Ali Ihsan Kitay gegenüber dies auch zugestanden. Er saß 20 Jahre in der Türkei im Knast und ist dort gefoltert worden. Vor Gericht hat er geschildert, wie seine Familie über 50 Jahre unterdrückt wurde und wieviele Massaker an den KurdInnen begangen wurden. Die Richter haben ihm persönlich zuerkannt, daß er Widerstand leistet, aber dies für die KurdInnen an sich nicht gelten lassen. Dabei stehen die Betroffenen nur exemplarisch dafür, wie es der ganzen kurdischen Bevölkerung ergeht. Von daher ist das schon absurd. Eine Prozeßbeobachterin brachte es auf den Punkt, als sie sagte, die Richter hier halten sich an die Formalien und schalten ihr Gewissen aus.

SB: Die radikale Linke ist in der Bundesrepublik inzwischen ziemlich schwach. Auffallend ist, daß eher marxistisch-leninistisch organisierte Linke hier auf der Konferenz kaum vertreten sind, dafür um so mehr Leute aus dem anarchistischen oder radikal-ökologischen Spektrum. Was könnte die kurdische Vision vom Konföderalismus für die deutsche Linke auch im Kontext ihrer Zerrissenheit bedeuten?

MD: Das ist eine gute Frage. Einige verstreute SozialistInnen und KommunistInnen sind auf jeden Fall hier. Auch die kurdische Bewegung ist in sich ja kein homogener Block. Da gibt es unterschiedliche Orientierungen und Sozialisationen, die sich unter dem Dach des Konföderalismus treffen. In Anbetracht dessen, welchen Entwicklungen wir hier in Europa gegenüberstehen, wären Anregungen dieser Art schon wichtig. Jetzt steht der G20-Gipfel vor der Tür. Da wird Aufstandsbekämpfung in der Stadt als Polizeistrategie geübt, und die CDU mobilisiert in dieser Hinsicht mit Horrorszenarien, daß jedwede Schuld für jegliche Auseinandersetzungen im vornherein denjenigen in die Schuhe geschoben wird, die zivilen Ungehorsam oder Widerstand leisten oder einfach nur protestieren. Die strukturelle Gewalt geht allerdings von den G20 aus, die Kriege führen, für asymmetrische Handelsbeziehungen und die Zerstörung ganzer Regionen sowie der Sozialsysteme verantwortlich sind. Das Treffen in Hamburg durchzuführen ist zudem eine Machtdemonstration, die auch dazu dienen soll, die linke Szene zu spalten. Für das Kapital ist scheinbar unerträglich, wenn, wie gegen CETA und TTIP geschehen, hunderttausend Menschen aus unterschiedlichen Spektren gemeinsam und kraftvoll ihren Protest zum Ausdruck bringen.

Insgesamt haben wir es momentan mit zunehmend erstarkenden rechtspopulistischen Kräften zu tun. Da wäre es immens wichtig, daß die radikalere, die außerparlamentarische, aber auch die parlamentarische Linke anfängt, sich gemeinsam dagegen zu organisieren. Das wäre ein richtungsweisender Schritt. Aber aufgrund der Geschichte und der Ohnmacht, die momentan bei vielen Linken vorherrscht, ist das nicht so einfach. Das gilt übrigens sowohl für die klassischen sozialistischen bzw. kommunistischen Organisationen als auch für die anarchistischen oder öko-sozialistischen bzw. links-ökologischen Strömungen, aufgrund der Vehemenz, sagen wir mal, des Klassenkampfs von oben, der vom Kapital und den herrschenden Eliten hier in Europa momentan inszeniert wird. Das betrifft Kriege, die Zerstörung der Sozialsysteme, die Aushebung des Arbeitsrechts, die Verrechtlichung neoliberaler Dogmen durch G20, Troika, CETA, Freihandelsabkommen und die Funktionalisierung der gesamten Gesellschaften zugunsten der Interessen großer Konzerne. Der Impuls dazu wird gegeben und auch umgesetzt. Viele Menschen fühlen sich weitgehend ohnmächtig.

Deshalb finde ich diese Konferenz als Forum zum Austausch über Ideen richtig gut. Es wurde im Vorfeld probiert, was teilweise auch gelungen ist, auch weitere Akteure und Gruppierungen mit einzubeziehen. So kommen zum Beispiel morgen Menschen aus der afrikanischen Community, die antikolonialistische Kämpfe führen und anfangen sich stärker zu organisieren. Das finde ich wichtig. Heute hat Rolf Becker, der ja ein Vertreter der kommunistischen Idee ist, hier gesprochen. Auch das ist wichtig. Es wäre natürlich gut, wenn eine noch weitgehendere Zusammenarbeit und gemeinsame Perspektivenentwicklung stattfinden würde. Die Frage, wie sich die deutsche Linke jetzt weiterentwickelt, ist von existentieller Bedeutung.

Im Rheinischen Kapitalismus, auch in der neoliberal gewendeten oder weiter entwickelten Form, neigt das System dazu, die Kräfte, die wirklich antikapitalistisch oder auch nur transformatorisch wirksam sind, in die Macht einzubinden und eben dadurch die Bewegung zu schwächen. Was 1998 mit den Grünen geschah, passiert jetzt mit der Orientierung auf Rot-Rot-Grün. Uns stehen in der Linken Auseinandersetzungen über unseren Umgang damit bevor. Die Linke hat meines Erachtens die Aufgabe, sich nicht hauptsächlich auf Regierungsbeteiligung zu orientieren, sondern zu schauen, wie sie Teil der gesellschaftlichen Linken sein kann und die Bewegungen in den Gewerkschaften und die fortschrittlichen Kräfte überhaupt so zu mobilisieren, daß wir gesellschaftlich tragfähig werden. Das wäre für mich eine linke Orientierung, und das haben wir hier in Hamburg auch als Wahlkampfstrategie beschlossen. Wenn wir dann gesellschaftliche Mehrheiten organisieren können, ist das eine andere Frage.

Wir haben einen relativ weit links stehenden Landesverband, auch wenn sich das nicht immer auf allen Ebenen widerspiegelt, aber der Landesverband hat zumindest klar beschlossen, daß wir für Rot-Rot-Grün bei der derzeitigen Orientierung von Rot-Grün nicht zu haben sind. Die Linke im Parlament ist ja nur ein kleiner Teil der Gesamtlinken und nicht unbedingt der dynamischste Teil. Aber momentan "schlafen" selbst die eigentlich dynamischen Teile innerhalb der Linken Bewegungen oder sind zerschlagen. Eigentlich müßte ganz viel passieren, weil der Kapitalismus weltweit in einer tiefen Krise steckt, was man auch daran sieht, daß immer stärker um die Profitmaximierung gerungen und die Verteilung von unten nach oben aufrechterhalten wird, Kriege angezettelt werden, sowohl auf physischer, sicherheitspolitischer und rhetorischer Ebene mitsamt der Diffamierung all derjenigen, die dagegen in irgendeiner Form noch etwas sagen oder andere Perspektiven auch nur anzudenken wagen. Im Grunde existiert ein Vakuum. In diesem Vakuum versuchen Kräfte wie Front National oder AfD Resonanz zu finden bzw. stellen sich auf, um linken Protest oder Ängste nach rechts zu binden.

Historisch ist das ein bekanntes Muster. In dieses Vakuum müßten wir als Gesamtlinke viel stärker mit einer eigenen Vision und eigenen Konzepten hineinwirken, was aber schon deswegen nicht so leicht ist, weil wir uns nicht auf eine gemeinsame Vision einigen können. Das ist verheerend, und deshalb sind Konferenzen wie diese und auch eine Vernetzung bzw. Vereinigung der unterschiedlichen linken Kräfte im höchsten Maße notwendig. Der Angriff der Rechten und faschistoiden bzw. rechtspopulistischen Kräfte wird mit Sicherheit noch stärker werden, weil das Kapital sich immer die Formation sucht, die es gerade braucht.

SB: Angesichts der Vitalität der kurdischen Befreiungsbewegung drängt sich geradezu die etwas zynische Frage auf: Muß es erst zu Situationen härtester Bedrängnis kommen, damit die Menschen aktiv werden?

MD: Das ist so nicht richtig. Das wäre kein Garant dafür. Dazu braucht man sich nur die vielen Regionen in der Welt anzuschauen, wo nichts passiert, obwohl der Druck so groß ist. Ich glaube, da kommen unterschiedliche Faktoren zusammen. Man muß auch sehen, daß die kurdische Bewegung sich über 40 Jahre entwickelt hat. Sie hat sich von einer marxistisch-leninistischen Kaderorganisation hin zu einer historisch- materialistischen dynamischen Kraft entwickelt, die versucht, auf der Basis einer Rückbesinnung auf kommunalistische, sozialistische, humanistische, anarchistische und kommunistische Traditionen sowie matriarchale und stammeskulturelle Gesellschaftsformationen eine Weiterentwicklung vorzunehmen. Die positiven Momente in diesen unterschiedlichen Gesellschaftsideologien oder Formationen zusammenzubringen, macht die Stärke der kurdischen Bewegung aus, quasi eine Synthese herzustellen aus den Errungenschaften der emanzipatorischen und humanistischen Kämpfe der letzten, sagen wir mal, 7000 Jahre, seit es eine nähere Geschichtsschreibung oder -forschung gibt. Da das ein neuer Ansatz ist, ist das für einige Akteure vielleicht auf den ersten, oberflächlichen Blick diffus. Aber eine nähere Auseinandersetzung damit ist auf jeden Fall wertvoll.

SB: Martin, vielen Dank für das lange Gespräch.


Beiträge zur Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern III" im Schattenblick unter:
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15. Mai 2017


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