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INTERVIEW/348: Übergangskritik - Alter, Wert und Gegenwert ...    Georg Fülberth im Gespräch (SB)


Auf der Konferenz "Am Sterbebett des Kapitalismus?", die am 3. und 4. März bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin-Friedrichshain stattfand, nahm der Autor und Politikwissenschaftler Georg Fülberth an der Podiumsdiskussion über "Digitalen Postkapitalismus" teil. Gegenüber dem Schattenblick nahm er Stellung zur Krise der Care-Arbeit, die im nächsten Panel behandelt wurde, und ging auf den Begriff der Revolution ein, zu dem er sich in seinem Vortrag auf originelle Weise geäußert hatte.



Im Gespräch - Foto: © 2017 by Schattenblick

Georg Fülberth
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Im Bereich der Care-Arbeit sind die Löhne sehr niedrig. Nun soll sie aufgewertet, gar zu einem gesellschaftlichen Produktionsfaktor werden. Sehen Sie dafür irgendwelche Aussichten, auch angesichts des Umstands eines Überangebots an Arbeitskräften, die mit Niedriglohnbedingungen zufriedenzustellen sind, zum Beispiel in der Altenpflege?

Georg Fülberth (GF): Es ist offensichtlich, daß die reale politische Entwicklung hier gespalten ist. Der Care-Bereich oder die Arbeit am Menschen ist ja ein ganz breites Band von Möglichkeiten. Es gibt inzwischen hochbezahlte Arbeit am Menschen, man denke da an den Beruf des Lehrers. Der Lehrer war am Ende des 18., zu Beginn des 19. Jahrhunderts meist ein entlassener Soldat, bestenfalls ein Unteroffizier, der wahrscheinlich auch nicht viel mehr wußte als seine Schüler, der nichts verdient hat, der beim Pfarrer am Sonntag auch noch die Orgel spielen mußte, von milden Gaben gelebt hat und dann bei den reichen Bauern reihum im Dorf herumging und ernährt wurde. Heute ist der Lehrer ein begehrter Beruf. Es sind oft sogar Beamte, weil sie es für sich einmal so organisiert haben und natürlich auch dafür kämpfen konnten. Dazu gehört eben, daß das Wissen, die Bildung ein Produktionsfaktor geworden ist.

Und so ist dieser Beruf, der ja auch Arbeit am Menschen und in weitester Form Care-Arbeit darstellt, auch wenn es zeitweilig eine Lehrerschwemme gibt, dann tatsächlich anders situiert. Wir sehen im Ansatz zur Zeit auch erfolgreicher werdende Kämpfe von Menschen, die in dem Segment beschäftigt sind, den ich den Pink-Bereich nenne, nämlich die Arbeit mit kleinen Kindern. Der Beruf der Erzieherinnen und des Erziehers ist nicht attraktiv, er ist körperlich anstrengend, vor allem, wenn man zum Körper auch die Ohren und die Nerven rechnet. Aber vertreten durch die Gewerkschaft ver.di, zum Teil auch durch die GEW, fangen sie an zu kämpfen, weil ihre Arbeit in einem relativ geburtenschwachen Land wie der Bundesrepublik und angesichts der Tatsache, daß die Demographie nach Ansicht einiger Leute zu kippen droht, auch in Wert gesetzt wird.

Wir haben es hier mit zwei Bewegungen zu tun: Bei Lehrern gibt es das schon lange und bei den Erziehern besteht eine Chance dazu. Ganz elend sieht es dagegen in der Altenpflege aus, weil die Gesellschaft sich der Tatsache, daß sie altert und immer mehr Menschen pflegebedürftig werden, noch nicht recht gestellt hat. Wenn man genau hinschaut, erkennt man allerdings, daß die Altenpflege gespalten ist. Es gibt einen Bereich, der von der Alterung der Menschen gut profitiert, nämlich der medizinische Bereich. Auch die mäßig bezahlten Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger sind auf der Skala derjenigen, die mit Menschen arbeiten, sagen wir mal so, nicht ganz unten. Da hat sich etwas geändert, weil die ÖTV vor 30 Jahren einen starken Schub durchgesetzt hatte. Wir haben also einige Bewegungen, in denen das nicht so negativ aussieht wie es nahezuliegen schien. In der Altenpflege haben wir aber noch ein anderes Problem, das auch einen gewissen Zynismus der Gesellschaft zeigt, denn Kinder sind ja künftige Produzenten und werden dann doch irgendwie gepflegt. Alte Menschen sind eben keine künftigen Produzenten. Diese Sicht rührt von einem Zivilisationstyp her, der letzten Endes an der Produktionsfähigkeit orientiert ist.

Wenn es um Produktionsfähigkeit geht, müssen wir natürlich fragen, ob wir das, was man die materielle Basis der Gesellschaft nennt, nur auf den Begriff der Produktion verengen. Produktion schafft die vielen Artefakte, die dann offensichtlich ökologisch zu einer großen Schwierigkeit werden. Das ist wahrscheinlich ein Bereich der Care-Arbeit, der durch gründlicheres Nachdenken über den Zivilisationstyp, in dem wir leben, bearbeitet werden müßte. Es gibt so einen tröstlichen und auch wieder halbzynischen Nebenaspekt. Weil alte Menschen immer auch Konsumenten darstellen, selbst wenn sie pflegebedürftig sind, könnte dies unter Umständen dazu führen, daß auch die Nachfrage nach Arbeit in diesem Bereich besser entlohnt werden sollte.

SB: Deutschland ist stark exportorientiert und mehrt auf dieser Basis das gesamtgesellschaftliche Produkt. Wie steht dies im Verhältnis zu reproduktiven Tätigkeiten, die an und für sich keine neuen Güter in die Welt setzen, sondern im wesentlichen Verbrauchsfunktionen darstellen?

GF: Wieder einmal haben wir erfahren, daß Deutschland Exportweltmeister ist, das heißt, es werden sehr viele Güter produziert. Dies betrifft insbesondere die Chemieindustrie auf der einen und die Elektro- und Metallindustrie auf der anderen Seite. Ein großer Teil dieser Produkte wird exportiert.

Dadurch entstehen Industrien in anderen Staaten oft erst gar nicht, weil sie keine Konkurrenzmöglichkeit haben oder aber niederkonkurriert werden. Das bedeutet, daß große Teile der Menschheit - nördliches Afrika, Afrika insgesamt, der Nahe Osten -, wie Elmar Altvater dann gesagt hätte, außer Wert gesetzt werden, die dann als Flüchtlingsströme hierherkommen. Intern sehen wir, daß die Binnennachfrage im Augenblick funktioniert, weil wir in einer guten Konjunkturphase sind, aber immer wenn die Konjunktur nachläßt, merkt man plötzlich, daß dann auch der Binnenkonsum zurückgeht. Dann klaffen Export und Binnenkonsum auseinander, und dann haben wir einen Bereich des gesellschaftlichen Konsums, nämlich die Arbeit am Menschen und mit Menschen, der nach wie vor stiefmütterlich beurteilt wird. Hinsichtlich dessen sehe ich im Augenblick keine Perspektive, weil sich die Gewerkschaften hier offensichtlich nicht auf eine gemeinsame Politik einigen können.

SB: Eben sind Sie auf den Begriff der Revolution eingegangen, der heutzutage eher gemieden wird. Inwiefern hat er aus Ihrer Sicht als theoretischer Horizont oder als prinzipielle Notwendigkeit zur Überwindung bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse überhaupt noch Gültigkeit, oder würden Sie ihn vollends etwa zugunsten des Transformationsbegriffs verwerfen?

GF: Der Revolutionsbegriff wird, so sehe ich es, politisch gemieden, aber ansonsten ist Revolution jede neue Innovation, jede neue Mode, jeder neue Stil wird heute als Revolution verkauft.

SB: Wie ist es mit der sozialen Revolution?

GF: Meines Erachtens hat Hobsbawm in seinem Buch "Zeitalter der Extreme" darauf aufmerksam gemacht, daß wir eine soziale Revolution innerhalb des Kapitalismus nach 1945 hinter uns haben, erstens durch das Verschwinden einer ganzen Klasse, eigentlich der Bauern, in den hochindustrialisierten Ländern und zweitens durch den Aufstieg der Intellektuellen. Früher waren Intellektuelle Akademiker. Innerhalb einer Gesellschaft waren das ein paar Zehntausende, heute sind es Millionen. Auch das sind soziale Revolutionen innerhalb des Kapitalismus.

Außerdem war Revolution ursprünglich ein konservativer Begriff, der aus der Astronomie kommt. Revolutio ist die Bewegung der Gestirne. Der Begriff Revolution ist eigentlich erst im 19. Jahrhundert im politischen Sinn entstanden, vorher nicht. Ein Beispiel dazu: Eine sehr schöne Geisteswissenschaft des 19. Jahrhunderts war die Altertumswissenschaft, insbesondere die alte Geschichte. Die hat plötzlich den Begriff der Revolution auf einen Vorgang angewandt, den die Zeitgenossen niemals als Revolution begriffen hätten, nämlich die Revolution in Großbritannien von 133 v. Chr. bis 31 v. Chr. Das heißt, sie hat eine Vorstellung von Revolution um 2000 Jahre zurückprojiziert.

Der Begriff der Revolution im 19. Jahrhundert ist ganz stark durch zeitgeschichtliche Erlebnisse geprägt, genauso wie der heute kaum noch gebräuchliche Begriff der Hegelschen Dialektik im 19. Jahrhundert eingeführt worden ist. Man hat die große industrielle Revolution erlebt, man hat eine große politische Revolution 1789 und folgende erlebt, dann folgten kleine Revolutionen im 19. Jahrhundert. Damit hat man ein Zeiterleben in einen Begriff gefaßt: Revolution. Man kann es Revolution oder auch grüner Kakadu nennen, das ist eigentlich egal.

Etwas ganz anderes ist, daß dieser Zivilisationsbruch, in dem immer mehr Artefakte in die Welt gesetzt werden, in dem nach wie vor die Arbeit an Menschen, für Menschen, von Menschen niedrig geachtet wird, überwunden werden muß. Wem der Begriff Revolution gefällt, soll ihn benutzen, wem der Begriff grüner Kakadu gefällt, soll den benutzen. Nur soll man die Notwendigkeit dieses Bruchs nicht zukleistern, indem man ihn durch andere Begriffe ersetzt, die so tun, als wenn eine neue Gesellschaft ganz von allein entstehen würde. In diesem Sinne scheint mir der Begriff der Transformation nicht erhellend zu sein.

SB: Im Augenblick durchleben wir das wundersame Martin-Schulz-Phänomen, daß die Menschen Hoffnung in einen ehemaligen EU-Funktionär und -Parlamentspräsidenten setzen, der früher eher der SPD-Rechten angehörte und jetzt als Aushängeschild des sozialen Fortschritts gilt. Wie würden Sie das kommentieren?

GF: Über ihn als Person möchte ich nichts sagen. Es ist der Ausdruck der gleichen Grundstimmung, die zum Aufstieg der AfD geführt hat. Weil ein Segment in der Gesellschaft der Ansicht ist, daß es so nicht weiter geht und etwas anderes her muß, aber man gleichzeitig nicht weiß, was es sein soll, weil man sich den Bruch nicht vorstellen kann, werden jede Menge von Surrogaten benutzt. Der Aufstieg der AfD ist ein Surrogat, die Fremdenfeindlichkeit in ganz Europa ist ein Surrogat und - natürlich mit anderen politischen Vorzeichen, das sei zugestanden - auch Herr Schulz ist ein Surrogat für etwas, das die Leute nicht kriegen können.

SB: Herr Fülberth, vielen Dank für das Gespräch.


Beiträge zur Konferenz "Am Sterbebett des Kapitalismus?" im Schattenblick unter:
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19. April 2017


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