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INTERVIEW/346: Niemanden vergessen - Stammplatz des Proletariats ...    Daniel Stone im Gespräch (SB)


Daniel Stone engagiert sich seit 2015 in der Basisgewerkschaft United Voices of the World (UVW Union) in London, deren Schatzmeister er seit November 2016 ist. Unabhängig davon ist er in Vollzeit für eine große Gewerkschaft tätig. Er interessiert sich seit langem für die Rechte von Migrantinnen und Migranten und hat sich intensiv mit der Geschichte Lateinamerikas befaßt. Gemeinsam mit weiteren Aktivistinnen und Aktivisten der UVW Union war er auf Einladung der Hamburger Gewerkschaftslinken am 25. März 2017 im Centro Sociale zu Gast. Im Anschluß daran beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen zu den Gründen seines Engagements, zum Charakter der britischen Klassengesellschaft und zur Labour Party unter Jeremy Corbyn.



Im Gespräch - Foto: © 2017 by Schattenblick

Daniel Stone
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Daniel, könntest du dich einmal vorstellen und erzählen, welche Aufgabe du in der Basisgewerkschaft UVW Union wahrnimmst?

Daniel Stone (DS): Ich heiße Daniel Stone und bin Schatzmeister der UVW. Ich kümmere mich also um die finanziellen Angelegenheiten der Gewerkschaft, wobei ich diese Aufgabe noch nicht lange wahrnehme, da ich sie erst Ende letzten Jahres übernommen habe. Zuvor war ich schon ein Unterstützer der UVW, nahm an ihren Demos teil und half auf freiwilliger Basis aus, Materialien zu beschaffen und die Präsenz in den sozialen Medien zu verbessern. Im November vertiefte sich dann mein Engagement, als ich offiziell zum Schatzmeister gewählt wurde.

SB: Rührt dein Engagement aus politischer Überzeugung und deinem Interesse an dieser Art von gewerkschaftlichem Kampf her?

DS: Ja, es ist ein politisches Engagement. Ich habe schon vorher in einer großen Lehrergewerkschaft gearbeitet, der National Union of Teachers, und das ist nach wie vor mein Job. Für Politik habe ich mich schon seit jeher interessiert.

SB: Bist du aufgrund deines persönlichen Umfelds an Arbeitskämpfen interessiert? Wie hat sich das lebensgeschichtlich bei dir entwickelt?

DS: Das ist gar nicht so einfach zu erklären. Dieses Interesse hat an und für sich sehr viel mit meiner Familiengeschichte zu tun, da meine Eltern beide Gewerkschafter waren. Die UVW ist jedoch von einem etwas anderem Schlag. Ich lernte sie erstmals kennen, als sie eine Aktion vor dem Barbican Centre, einem großen Kultur- und Konferenzzentrum in London, durchführten. Die UVW geht im Stil direkter Aktionen vor. Wenn man politisch bewußt lebt, sticht einem die höchst ungleiche Verteilung des Reichtums in London geradezu ins Auge, da man sie allerorten erlebt. Man sieht sie auch im Barbican, wo die Putzkolonnen mit ganz miesen Löhnen abgespeist werden. Die UVW steht für das Bewußtsein, daß London ein extremes Beispiel dieser Ungleichheit darstellt. Es ist das Zentrum des globalen Kapitals, die politische und kulturelle Hauptstadt des Vereinigten Königreichs, aber zugleich ein Ort, an dem diese soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit höchst präsent ist. London ist eine sehr politische Metropole, in der sich zahlreiche Gruppen und Organisationen in verschiedenen Belangen engagieren und insbesondere dieses fundamentale Problem der Ausbeutung schlecht bezahlter Arbeitskräfte adressieren. UVW steht in diesem Kontext für politisch aufregende und recht effektive Aktionen.

SB: Aus deutscher Perspektive scheint die Klassengesellschaft in Großbritannien sehr viel ausgeprägter zu existieren, als wir sie kennen.

DS: Ich kenne zwar die Verhältnisse in Deutschland nicht, kann aber bestätigen, daß Großbritannien geradezu obsessiv auf die Klassengesellschaft fixiert ist, wenn es darum geht, wie wir über uns sprechen. Das geht so weit, daß viele Leute größten Wert darauf legen zu betonen, daß sie nicht der Arbeiterklasse, sondern der Mittelschicht angehören. Das gilt in besonderem Maße für London, wo das Leben extrem teuer ist und zahllose Menschen mit niedrig entlohnten Jobs und bei überlangen Arbeitszeiten ihren tagtäglichen Kampf führen müssen, um halbwegs über die Runden zu kommen. Man könnte von einer fortdauernden Herrschaft der britischen Klassenkultur sprechen, wobei ein neues Element hinzukommt. Wir hatten in der Vergangenheit bedeutsame und einflußreiche staatliche Institutionen wie den National Health Service, das Bildungssystem oder die Wohnraumbeschaffung, welche die sozialen Unterschiede milderten und eine Gesellschaft mit einer geringeren Kluft zwischen weniger wohlhabenden und reicheren Leuten gewährleisteten. In der Thatcher-Ära wurden diese Errungenschaften zerfetzt, und wenn man seither auch nicht in jeder Hinsicht von Rückschritten sprechen kann, beherrscht doch ein zügelloser Neoliberalismus das Feld, der in London eine Heimstatt hat, das in den 80er Jahren zum Zentrum des Finanzkapitals aufstieg. Diese Form der Klassengesellschaft entspringt aber nicht dem historischen Wesen der britischen Kultur, sondern vergleichsweise jungen politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen.

SB: In Großbritannien existierte in der Vergangenheit eine vergleichsweise starke und kämpferische Arbeiterklasse. Die UVW setzt sich für Migrantinnen und Migranten in prekären und niedrig entlohnten Jobs ein, die nicht die Charakteristika der traditionellen britischen Arbeiterklasse aufweisen. Könnte man hinsichtlich der heutigen Verhältnisse von einer veränderten Klassenzusammensetzung sprechen?

DS: Ich halte das für zutreffend. Wie die UVW und andere Gewerkschaften wie die IWGB, die sich für Migrantinnen und Migranten einsetzen, zeigen, führen diese prekär Beschäftigten in vorderster Front Arbeitskämpfe. Sie bringen ihre miesen Bedingungen zur Sprache, die wiederum dazu beitragen, die Löhne anderer Arbeitskräfte zu drücken, was eine Funktion des Kapitalverhältnisses ist, das von großen Unternehmen auf diese Weise umgesetzt wird. Damit wird zugleich das politische Bewußtsein der Arbeiterklasse geschleift, und wenn ich auch nicht von mir behaupten kann, alles darüber zu wissen, zeugt doch schon die schrumpfende Mitgliederzahl der großen Gewerkschaften oder das Fehlen jeglicher Parteinahme für die Arbeiterklasse seitens der politischen Parteien von einer totalen Aushöhlung. Es ist einfach nichts mehr davon vorhanden. Das hat auch mit dem Niedergang der industriellen Produktion und der Verlagerung in den Bereich der Dienstleistung zu tun, wo immer mehr unsichere, schlecht bezahlte und prekäre Jobs geschaffen werden.

SB: Ist die Labour Party unter Jeremy Corbyn eine grundsätzlich andere als unter Tony Blair, und wie würdest du ihre Bedeutung für den organisierten Widerstand gegen Kapitalinteressen einschätzen?

DS: Das ist eine interessante Frage, weil ich selber Mitglied dieser Partei bin und mich auf lokaler Ebene in diesem Zusammenhang engagiere. Das hat nichts mit der UVW zu tun und ist gewissermaßen ein weiterer Strang meines derzeitigen Lebens. Wenn du mich fragst, ob ich Hoffnungen in die Main-Stream-Politik setze, würde ich Corbyn als große Chance einschätzen, die Labour Party zu verändern und neu aufzustellen. Das ist jedoch eine gewaltige Aufgabe, die ihre Struktur und insbesondere die Führungsriege einschließt. Die Parteiführung wird von einer Gruppierung des extrem rechten Flügels dominiert. Folglich müßte die Partei in wesentlichen Teilen reformiert werden. Die Mitglieder könnten diesen Prozeß herbeiführen, wenn sie entsprechend organisiert würden. Wenngleich ich mich aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen in der Parteiarbeit keiner Illusion hingebe, was alles auf diesem Wege zu erreichen sei, bin ich doch der Auffassung, daß es sich für mich um einen Weg handelt, den zu beschreiten sich lohnt. Es gibt einige wirklich gute Leute in der Labour Party, zumeist ältere Mitglieder, die eine hervorragende Arbeit machen.

Angesichts des britischen Wahlsystems, der Trägheit innerhalb der Partei wie auch in den großen Gewerkschaften bin ich allerdings skeptisch. Es findet derzeit ein Machtkampf zwischen Labour und großen Gewerkschaften wie Unite statt, die ihr traditionell nahestehen und aufgrund ihrer finanziellen Mittel über enormen Einfluß verfügen. Ich bin mir nicht sicher, wohin das führen wird, aber daß Unite eine progressivere oder gar linke Gewerkschaft wird, die so ähnliche Dinge wie UVW macht und sich für migrantische und ausgelagerte Arbeitskräfte engagiert, ist schon sehr unwahrscheinlich. Ich bleibe zwar grundsätzlich optimistisch hinsichtlich dessen, was prinzipiell möglich ist, aber pessimistisch, was die derzeitigen Strukturen und die gewaltige Trägheit betrifft. Die UVW führt hingegen bemerkenswert effektive Kampagnen in London durch und erfährt dadurch sehr viel Anerkennung. Der Kontrast zu dem aufgeblähten Apparat der Partei könnte kaum größer sein. Dessen ungeachtet bleibt Jeremy Corbyns Labour Party für mich die größte Hoffnung, linke Mainstream-Politik im Rahmen des Parlamentarismus durchzusetzen.

SB: Daniel, vielen Dank für dieses Gespräch.


Beiträge zum Jour Fixe mit der Basisgewerkschaft "United Voices of the World" (UVW Union) aus London im Schattenblick unter:
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