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INTERVIEW/333: Alle Truppen stehen still - wenn die ganze Welt es will ...    Sebastian Rave im Gespräch (SB)


Friedensbewegung mit internationalistischer Gegenperspektive

Interview am 13. Januar 2017 in Hamburg



S. Rave in Großaufnahme - Foto: © 2017 by Schattenblick

Sebastian Rave
Foto: © 2017 by Schattenblick

Panzer, die durch Norddeutschland in Richtung russische Grenze rollen? Eine vollständige US-Panzerbrigade mit 4000 Soldaten, die über Bremerhaven eingeschifft wird und dann, logistisch intensiv betreut durch die Bundeswehr, aber relativ unbeachtet von Politik, Öffentlichkeit und Medien, ihrem Bestimmungsort und -zweck zugeführt wird? Vor wenigen Jahren, ja noch vor einigen Monaten oder sogar Wochen hätten die meisten Bundesbürgerinnen und -bürger, so sie nicht über die diesen Militärtransporten zugrundeliegende Beschlußfassung der NATO bereits vorab informiert waren, dies wohl nicht für möglich gehalten. Doch seit Jahresbeginn läuft der größte Truppenaufmarsch seit dem Ende des sogenannten Kalten Krieges, dessen Wiederaufnahme entgegen anderslautender Behauptungen politischer Verantwortungsträger von vielen Friedensaktivistinnen und -aktivisten befürchtet bzw. festgestellt wird.

Die bundesweit wohl erste Friedensinitiative, die aus diesem aktuellen Anlaß zu Protesten aufgerufen hat, ist das Bremer Friedensforum, ein Zusammenschluß mehrerer Friedensgruppen und linker Organisationen. Der von ihm verfaßte Bremerhavener Appell [1] fand weit über die Region hinaus Beachtung und entfaltete eine gewisse Initialwirkung. Am 7. Januar fand in Bremerhaven unter dem Titel "Nein zum Säbelrasseln - Truppenverlegung stoppen!" eine Friedensdemonstration gegen diesen Truppenaufmarsch statt, an der rund 400 Menschen trotz winterlicher Kälte teilnahmen. Doch auch in anderen Städten und Regionen regen sich Proteste. In Hamburg fand am 13. Januar am Jungfernstieg eine von friedensbewegten und antimilitaristischen Menschen aus verschiedenen Hamburger Gruppen organisierte und unter dasselbe Motto wie in Bremen gestellte Kundgebung statt. [2]

Sebastian Rave, friedenspolitischer Sprecher der Partei Die Linke in Bremen, war am Bremerhavener Appell ebenso beteiligt wie an der Organisation der dortigen Friedensdemo. Am vergangenen Freitag war er eigens nach Hamburg gekommen, um auf der Antikriegskundgebung von den Bremer Ereignissen zu berichten und die hiesigen Proteste zu unterstützen. Im Anschluß daran fand er sich bereit, dem Schattenblick einige weiterführende Fragen zu beantworten.


Schattenblick (SB): In dem Aufruf zur heutigen Kundgebung steht: "Das Säbelrasseln der NATO vor der russischen Haustür erhöht die Kriegsgefahr". Der Truppenaufmarsch nahe der russischen Grenze wird mit dem angeblich aggressiven Verhalten Rußlands begründet. Wie begegnest du dem Argument, Rußland hätte mit der Annexion der Krim den Frieden gebrochen und müsse nun militärisch in die Schranken verwiesen werden?

Sebastian Rave (SR): Natürlich ist Rußland auch eine Großmacht, die dementsprechende Ambitionen hat, die sie auch mit gewalttätigen Mitteln durchsetzt. Aber Rußland ist nicht anders als die USA, Deutschland oder andere Großmächte. Dabei ist auch der Hintergrund dessen, was in der Ukraine passiert ist, zu sehen, was ja eine Expansionspolitik der EU war. Da wurde von europäischer Seite aus ganz klar versucht, politischen Einfluß zu nehmen. Das ist ein Ausdruck der Konkurrenzsituation, die da stattfindet und die im Zweifelsfall auch mit militärischen Mitteln geführt wird. Das Problem liegt meiner Meinung nach nicht darin, wer da was genau macht, sondern eben in dieser Konkurrenz.

SB: Der Hamburger Strafrechtsprofessor Reinhard Merkel hat 2014 die Auffassung vertreten, daß der Übergang der Krim zu Rußland keine Annexion, also nicht völkerrechtswidrig, gewesen wäre, sondern eine wenn auch nach ukrainischem Recht illegale Sezession. Das sei keine Wortklauberei, so Merkel, weil Annexion ein "Titel zum Krieg" sei. Für wie relevant hältst du diese Frage aus heutiger Sicht?

SR: Ich glaube, sie ist eher so mittelmäßig relevant. Natürlich gibt es das Selbstbestimmungsrecht der Menschen auf der Krim. Offensichtlich war es so, daß die ganz große Mehrheit der Leute keine Lust hatte, in der Ukraine dieser Form zu bleiben, sondern sich eher Rußland zugehörig fühlt. Ich finde aber auch, daß das Referendum nicht den dafür üblichen demokratischen Standards entsprochen hat. Wenn du haufenweise russische Soldaten vor Ort hast, wird damit natürlich schon eine gewisse Realität geschaffen. Trotzdem steht wie gesagt fest, daß die ganz, ganz übergroße Mehrheit der Menschen auf der Krim sich Rußland zugehörig fühlt. Das Ganze hat dann auch noch damit zu tun, daß in der Ukraine Faschisten mit an die Regierung gesetzt und von der EU dort auch geduldet wurden. Vor diesem Hintergrund finde ich es absolut nachvollziehbar, wenn gesagt wird: "Nee, dem fühlen wir uns nicht mehr zugehörig." Und so muß man das, glaube ich, auch sehen.

SB: Bei dem aktuellen Truppenaufmarsch geht es nicht nur um die US-Panzerbrigade, die jetzt durch Norddeutschland transportiert wird. Ab Februar soll Deutschland in Litauen ein eigenes Bataillon befehligen. Wurde diese direkte Beteiligung der Bundeswehr in dem heutigen Aufruf mit Absicht noch nicht aufgegriffen oder kommt das noch? Weißt du, ob auch dazu Proteste geplant sind?

SR: In Bremerhaven haben wir darauf zumindest schon aufmerksam gemacht. Es ist ja eine Kooperation der US-Army mit der Bundeswehr, die das Logistikzentrum in Garlstedt betreibt. Darüber läuft dieser ganze Transport, das ist sozusagen die Drehscheibe für die ganze Operation. Die Bundeswehr spielt da eine total wichtige Rolle, und es ist ganz klar, daß die Bundesregierung jede Möglichkeit hätte, das zu unterbinden, wenn sie es denn wollen würde. Deutschland ist souverän und kann auch nach NATO-Statut jederzeit sagen, daß es das nicht will. Offensichtlich ist es aber auch im Interesse der Bundesregierung, in dieser Form gegen Rußland vorzugehen. Für mich steht fest, es sind nicht nur die USA, die da was machen, sondern die NATO in ihrer Gänze und besonders auch Deutschland.

SB: 1983 war die Hoch-Zeit der Friedensbewegung, Hunderttausende gingen auf die Straßen. Neulich waren es in Bremerhaven wohl 400 Menschen, die gegen den Truppenaufmarsch protestierten. Wie geht deiner Erfahrung nach die Friedensbewegung heute mit dem Problem um, daß sich scheinbar nur sehr wenige Menschen mobilisieren lassen?

SR: Ich glaube, daß die Friedensbewegung tatsächlich neu aufgebaut werden muß. Man kann ganz viel von den Erfahrungen profitieren, die damals gemacht wurden. In Bremerhaven haben wir zum Beispiel auch darüber geredet, daß es 1983 diese große Hafenblockade gab, bei der 30.000 Leute den Hafen für mehrere Tage blockiert haben, als die Pershing-Raketen angeliefert worden sind. Das fand natürlich noch vor einem ganz anderen Hintergrund statt, im Kalten Krieg, wo sich zwei gegensätzliche Systeme gegenüberstanden und die Gefahr einer Vernichtung der Welt vielen Menschen sehr viel näher war als heute.

Das erklärt vielleicht, warum die Friedensbewegung heute nicht mehr die Stärke hat, die sie damals hatte. Ich glaube aber, wie gesagt, daß die Friedensbewegung neu aufgebaut werden muß, weil die Welt zunehmend instabiler wird und es immer mehr Konflikte zwischen den Großmächten gibt - sei es in der Ukraine oder in Syrien, was ein absoluter Stellvertreterkrieg geworden ist, bei dem jede Groß- und Regionalmacht irgendwie mitmischt und verschiedene Terroristengruppen und reaktionäre Kräfte aller Couleur unterstützt. Deswegen ist es absolut notwendig, die Friedensbewegung wieder aufzubauen. Ich glaube aber auch, daß sie Diskussionen führen muß, mit wem sie unter welchen politischen Aspekten und vor welchen Hintergründen zusammenarbeiten will.

Ich fand die Entwicklung mit dem Friedenswinter unglücklich. Mit Leuten zusammen auf die Straße zu gehen, die keine kritische Position zum Beispiel zum deutschen Imperialismus oder zu Imperialismus insgesamt vertreten, sondern nur den amerikanischen Imperialismus angreifen, finde ich sehr fatal. Das macht es den Medien total leicht, diese Friedensbewegung anzugreifen und sie als "Putin-Freunde" oder was auch immer hinzustellen. Die Diskussionen, die es dazu in der Friedensbewegung schon gegeben hat, müssen meiner Meinung nach noch weiter geführt werden. Und es muß eine neue Analyse geben, wie die politische Weltlage wirklich ist und was da eigentlich gerade passiert.

Rußland zum Beispiel hat natürlich Großmachtambitionen, ist aber auf der anderen Seite eine Großmacht im Schrumpfen, die höchstens über ein Zehntel des Militärhaushalts verfügt, den die USA haben. Trotzdem muß man da ein bißchen aufpassen, daß man nicht einseitig nur den US-Imperialismus kritisiert und dabei zum Beispiel den deutschen Imperialismus vergißt, der zur Zeit auch immer aggressiver wird. Da gibt es eine zunehmende Aufrüstung und immer mehr Militärinterventionen auf der ganzen Welt, und es ist total wichtig, das im Hinterkopf zu behalten und mitzubedenken.

SB: Tobias Pflüger, stellvertretender Vorsitzender der Partei Die Linke, hat in seiner Rede in Bremerhaven die Stadt Bremen und auch die Bundesregierung aufgefordert, die Truppentransporte zu unterbinden. Hat es deines Wissens nach in dem zurückliegenden halben Jahr, seit dieser Beschluß gefällt wurde, schon Initiativen von Regierungsseite gegeben, dagegen vorzugehen?

SR: In Bremen ist es auf jeden Fall so, daß der Senat, die Bürgerschaft und die Politik, abgesehen von der Linken, komplett die Köpfe in den Sand stecken oder abtauchen. Von denen hört man nichts, was ziemlich perfide ist vor allem vor dem Hintergrund, daß sowohl der Bremer Bürgermeister Carsten Sieling als auch der Bremerhavener Bürgermeister Melf Grantz den Aufruf "Bürgermeister für den Frieden" unterschrieben haben, was offensichtlich ein reines Lippenbekenntnis war. Zu der NATO-Operation, der Truppenverlegung und dem Aufrüsten in Osteuropa ist da null passiert, da gibt es überhaupt keinerlei Aussagen in irgendeiner Form. Die Linke ist die einzige Partei, die das thematisiert, in die Öffentlichkeit bringt und sich auch stark an der Demo in Bremerhaven beteiligt hat, sowohl im Vorfeld als auch auf der Demo selber. Wir werden da auf jeden Fall dranbleiben, das steht fest, weil dieses Manöver jetzt nur der Auftakt ist.

Die Truppen sollen ja alle neun Monate wieder aufgefrischt werden. Es gibt diese Rußland-NATO-Akte seit der Auflösung des Warschauer Paktes, wo die NATO damals zugestimmt hatte, keine dauerhaften Truppenstationierungen an der Grenze Rußlands aufrechtzuerhalten. Sie reden sich jetzt damit raus, daß sie sagen, das ist ja keine dauerhafte Stationierung, sondern rotiert alle neun Monate. Das bedeutet aber auch, daß alle neun Monate solche Operationen stattfinden werden. Wir wissen also, was in neun Monaten passiert und werden uns jetzt drauf vorbereiten können.

SB: Tobias Pflüger hat auch gesagt, die Linkspartei sehe in diesem Aufmarsch "eindeutig eine Eskalation gegenüber Rußland, die zu einer weiteren Aufrüstungsspirale zwischen der NATO und Rußland führen werde, die von beiden Seiten gestoppt werden müsse". Einmal angenommen, es gäbe einen sich wechselseitig hochschaukelnden Aufrüstungsmechanismus, was könnte die russische Regierung in der gegenwärtigen Situation tun, um dieser Dynamik entgegenzutreten?

SR: Natürlich könnte die russische Regierung sagen, daß sie sich da nicht drauf einläßt. Aber es wäre angesichts der Konkurrenzlogik unwahrscheinlich, daß da bei der russischen Regierung irgendwie ein Einsehen stattfindet und sie sagt, wir machen bei dieser Hochrüstungsspirale nicht mit. Rußland ist eine Großmacht mit Großkonzernen, die auch Kapitalinteressen im Ausland haben, die sie vertreten sehen wollen. Ich setze meine Hoffnung eher in eine Friedensbewegung in Rußland, die auch aufgebaut werden muß und zum Teil schon existiert. Am Anfang der Ukraine-Krise gab es auch in Moskau eine große Demonstration. Natürlich ist es sehr schwierig, linke Kräfte sind in Rußland total marginalisiert. Aber ich glaube, daß das unsere potentiellen Verbündeten wären.


S. Rave am Mikrophon - Foto: © 2017 by Schattenblick

Sebastian Rave spricht auf der Kundgebung am Hamburger Jungfernstieg
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: Der Befehlshaber der US-Streitkräfte in Europa, Generalleutnant Frederick 'Ben' Hodges, hat in Garlstedt gesagt, Rußland bereite sich auf Krieg vor, die russischen Behörden würden, wenn man denn so wollte, mobilisieren. In Teilen der hiesigen kritischen Presse wird umgekehrt natürlich gesagt, die Verlegung der Kampftruppen sei Bestandteil der Kriegsvorbereitungen der NATO, die systematisch gegen Rußland vorrückt. Wie gehen jetzt Friedensaktivisten mit der Problematik um, daß im Grunde jede Seite der anderen Kriegsabsichten vorwirft?

SR: Ich glaube, das einzige, was die Friedensbewegung machen kann, ist, sich auf das zu konzentrieren, was sie hier erreichen kann. Das heißt, die Bundesregierung unter Druck zu setzen, da nicht mitzumachen. Das gilt natürlich auch für die Länderparlamente, die Kommunen, Bürgermeister und so weiter. Im Bremerhavener Appell haben wir auch gesagt, daß es in der Hand der Regierenden hier liegt, die Truppentransporte und die Logik, die dahinter steht, zu durchbrechen. Das ist, was wir machen müssen. Und natürlich einen solidarischen Appell an die Friedensbewegungen in den USA, in Rußland und überall auf der Welt senden, um eine internationalistische Gegensperspektive zu entwickeln, um zu sagen, so wie wir es in dem Bremerhavener Appell gemacht haben: "Wir stehen für eine solidarische und gerechte Welt." Das kollidiert natürlich mit den Machtinteressen der Herrschenden, die tatsächlich auf allen Seiten aufrüsten.

SB: Du hast vorhin schon angesprochen, was Pflüger "Trickserei" genannt hat, nämlich die Umgehung des NATO-Rußland-Pakts durch eine ständige Rotation der stationierten Truppen. Würde man, wie abwegig auch immer, einen solchen Fall in umgekehrter Richtung konstruieren, also beispielsweise gegen die USA gerichtet, könntest du dir irgendwie vorstellen, wie Washington in einer solchen Situation reagieren würde?

SR: Wahrscheinlich nicht sehr besonnen, sondern mit Gegenmaßnahmen und Gegenoperationen, und zwar in einem ganz anderen Maße, als es Rußland könnte, allein weil sie eben ein etwa 13faches Militärbudget haben, und dementsprechend würde dann auch diese Gegenreaktion um ein Vielfaches heftiger ausfallen.

SB: Wie auch aus einer Analyse der ehemaligen MI5-Offizierin und Wistleblowerin Annie Machon im Auftrag des russischen Auslandssenders RT hervorgeht, hat die damalige Sowjetunion in der NATO-Rußland-Akte für den Abzug von 260.000 sowjetischen Soldaten aus der DDR die Zusage bekommen, daß sich die NATO nicht einen Schritt über die deutsche Grenze hinaus in Richtung Rußland ausdehnt. Tatsächlich wurden bereits 12 osteuropäische Staaten oder auch ehemalige Sowjetrepubliken in die NATO integriert, sogar welche, die direkt an Rußland angrenzen. Welche Rückschlüsse über die Absichten der NATO-Staaten sind daraus deiner Meinung nach zu ziehen?

SR: Die Frage beantwortet sich so ein bißchen von selbst, weil es eine offensichtliche Expansion ist, die da stattfindet und die auch gar nicht mehr groß verheimlicht wird. Das wird dann eben mit dem Sicherheitsinteresse der Länder in Osteuropa begründet. Es ist ein fataler Ausdruck einer Expansionslogik im Kapitalismus, wo Großmächte um viel Einfluß, Rohstoffe, Märkte, Arbeitskräfte und so weiter streiten und versuchen, sich den Reichtum der Welt in dieser gegeneinander gerichteten Konkurrenz zu sichern.

SB: Vielen Dank, Sebastian, für das Gespräch.


Fußnoten:

[1] Bremerhavener Appell siehe http://www.bremerfriedensforum.de/

[2] Siehe auch den Bericht zu der Kundgebung im Schattenblick unter www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:
BERICHT/254: Alle Truppen stehen still - wenn das ganze Volk es will ... (SB)

17. Januar 2017


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