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INTERVIEW/317: Im Nebel der Staatsräson - Klage gegen Erdogan ...    Britta Eder im Gespräch (SB)


Strafanzeige wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Interview am 28. Juni 2016


Die Hamburger Rechtsanwältinnen Britta Eder und Petra Dervishaj haben in Zusammenarbeit mit dem "Verein für Demokratie und internationales Recht MAF-DAD" am 27.06.2016 bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe eine Strafanzeige gegen den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan sowie weitere Verantwortliche aus Politik, Militär und Polizei eingereicht. [1] Diesen wird vorgeworfen, in den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei, insbesondere in der Stadt Cizre, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben. [2] Die Anzeige erfolgte im Namen von Angehörigen von Opfern wie auch zahlreichen Bundestags- und Landtagsabgeordneten, Menschenrechtlern, Ärzten, Prominenten und Wissenschaftlern.

Zwischen dem 4. und 11. September 2015 wurden demnach während eines Ausnahmezustands in Cizre 21 Zivilistinnen und Zivilisten getötet. Viele Opfer wurden im direkten Umfeld ihres Hauses bzw. auf ihrem eigenen Grundstück durch Sicherheitskräfte erschossen. Es handelt sich um Fälle, die insbesondere durch Zeugenaussagen gut dokumentiert sind. Ein weiterer Schwerpunkt der Strafanzeige ist der Tod von mindestens 178 Menschen, die während einer weiteren Ausgangssperre vom 14. Dezember 2015 bis 2. März 2016 in drei Kellerräumen vor den Angriffen des türkischen Militärs mit Artillerie, Panzern und weiteren schweren Waffen Schutz gesucht hatten.

Sie teilten Abgeordneten, Presse und Amnesty International telefonisch mit, daß die Keller weiter angegriffen würden und viele Menschen dringend ärztliche Hilfe benötigten. Amnesty International startete daraufhin eine Urgent Action. Dennoch wurden keine Krankenwagen durchgelassen, der Kontakt zu den Personen brach ab, und aus den Kellern wurden bisher 178 größtenteils verbrannte Leichen geborgen. Aufgrund der in der Anzeige dargestellten Zeugenaussagen und sonstigen Beweise besteht der Verdacht, daß Sicherheitskräfte teilweise Benzin in die Keller gegossen und diese dann in Brand gesetzt bzw. die Menschen zuerst mit schweren Waffen getötet und die Leichen anschließend verbrannt haben.

Auf einer Pressekonferenz am 27.06.2016 in Berlin stellten Britta Eder und Petra Dervishaj, der Abgeordnete der Türkischen Nationalversammlung Faysal Sariyildiz (HDP), der sich während der Ausnahmezustände in Cizre aufhielt, die Vorsitzende von MAF-DAD, Rechtsanwältin Heike Geisweid, sowie der Vorsitzende des Menschenrechtsvereins der Türkei (TIHV), Ercan Kanar, die Anzeige vor. Am folgenden Tag beantwortete Britta Eder dem Schattenblick einige Fragen zu Hintergrund und Zielsetzung dieser Initiative.


Schattenblick (SB): Wie kam es dazu, diese Strafanzeige vorzubereiten und einzureichen, die von einem großen Unterstützerkreis mitgetragen wird?

Britta Eder (BE): Es gab sehr viele Menschen, die das Bedürfnis hatten, das aktuelle Geschehen im Südosten der Türkei publik zu machen und aufzuarbeiten. Dabei ist völlig klar, daß es in der Türkei selbst zu keiner Aufklärung und Strafverfolgung dieser Vorgänge kommen wird, weil der türkische Staat alles dafür tut, daß das nicht geschieht. Die Verantwortlichen wissen natürlich, daß es sich um Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt. Aus diesem Grund wurden die Angriffe auf die kurdische Bevölkerung von zahlreichen Menschen in Deutschland zur Sprache gebracht, wobei man sich auch daran erinnerte, daß schon einmal von mir eine Strafanzeige gegen Recep Tayyip Erdogan eingereicht worden ist. Auf diese Weise nahm die Idee Gestalt an, es unter den derzeitigen Voraussetzungen noch einmal zu versuchen und zu sehen, welche Wirkung sich damit erzielen läßt. Es fragte auch eine Reihe von Medien unter Bezugnahme auf die damalige Strafanzeige bei uns an, ob wir vorhätten, das noch einmal in Angriff zu nehmen. So kam es dazu, die aktuelle Initiative auf den Weg zu bringen.

SB: Wie war die Resonanz bei der gestrigen Pressekonferenz in Berlin?

BE: Die Resonanz war recht erfreulich. Die schreibende Presse war zahlreich vertreten, Reuters war da, das Thema fand überall in den Online-Portalen Eingang, auch bei der Tagesschau, FAZ und Zeit. Dabei wurde deutlich, daß sich auch die Presse die Frage gestellt hat, worin der Unterschied zu der letzten Strafanzeige gegen Erdogan aus dem Jahre 2011 besteht und warum wir uns diesmal bessere Chancen ausrechnen. Mein Eindruck war, daß die Medien durchaus an einer Berichterstattung interessiert waren. Gleichzeitig fand allerdings auch der Besuch Ursula von der Leyens in der Türkei statt, der offenbar bestimmten Medien wie zum Beispiel dem Fernsehen die nicht unwillkommene Gelegenheit bot, über etwas anderes als die Strafanzeige zu berichten. Aber insgesamt gesehen sind wir mit der aktuellen Resonanz sehr zufrieden.

SB: Worin besteht der Unterschied zur Strafanzeige von 2011, die damals von der Generalbundesanwaltschaft nicht angenommen wurde?

BE: Ein Unterschied zur Strafanzeige im Jahr 2011 ist inhaltlicher Art. Die damalige Strafanzeige bezog sich auf mehrere Einzelfälle, die an unterschiedlichen Orten im Südosten der Türkei stattgefunden hatten und sich über mehrere Jahre verteilten. Es handelte sich unseres Erachtens um Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die im Rahmen einer langen Geschichte des Konflikts begangen worden waren - dies vor dem Hintergrund der schweren Auseinandersetzungen in den 90er Jahren, bei denen es zu massiven Übergriffen auf die Zivilbevölkerung kam. Während es sich zwischen 2002 und 2011 eher um einzelne Vorfälle handelte, werden heute tagtäglich Kriegsverbrechen von den türkischen Sicherheitskräften begangen. Insofern erfolgen die Angriffe viel massiver, was auch von vielen Menschen in der Türkei hervorgehoben wird. Sie bezeichnen die derzeitigen Geschehnisse als noch viel schlimmer als jene in den 90er Jahren, gerade auch hinsichtlich ihrer seelischen Auswirkungen. Obwohl alle gedacht hätten, schlimmer als in den 90er Jahren könne es nicht mehr kommen, ist die Situation heute noch schrecklicher.

Zum anderen ist bei der Praxis der Generalbundesanwaltschaft, mit derartigen Vorfällen umzugehen, eine gewisse Veränderung zu beobachten. Als das Völkerstrafgesetzbuch Anfang der 2000er Jahre in Kraft trat, erkannte auch die Bundesrepublik Deutschland das sogenannte Weltrechtsprinzip an. Demnach können Kriegsverbrechen nicht nur dann verfolgt werden, wenn sie in Deutschland oder von Deutschen begangen werden. Vielmehr können Kriegsverbrechen, wo immer auf der Welt sie begangen werden, in Deutschland verfolgt werden. Der Generalbundesanwaltschaft wurden damals keine angemessenen finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt, um sich mit dieser Problematik zu befassen, und sie verfuhr nach der Praxis, nicht ernsthaft tätig zu werden, solange sich keiner der Täter für längere Zeit in Deutschland aufhält. Das Hauptziel war dabei zu verhindern, daß sich Kriegsverbrecher in Deutschland aufhalten oder gar niederlassen, ansonsten wurden die Verfahren eingestellt.

Das hat sich in den letzten Jahren etwas verändert. So wurden in einigen Bereichen auch ohne konkrete Tatverdächtige hier in Deutschland durchaus Ermittlungen durchgeführt. Wie aus einer im vergangenen Jahr veröffentlichten Doktorarbeit hervorgeht, betraf das Ermittlungen in Sri Lanka, wozu noch der Komplex Syrien kommt. Dort werden ohne konkrete Täter Beweise gesammelt, und das nicht nur mit dem Ziel, gegebenenfalls jemanden hier in Deutschland vor Gericht zu stellen, sondern diese Ergebnisse beispielsweise auch einem internationalen Strafgerichtshof oder einem anderen nationalen Gericht zur Verfügung zu stellen, falls dort irgendwann ein Verfahren stattfindet. Dem liegt die Auffassung zugrunde, daß es die Aufgabe des Ermittlungsverfahrens sei, im Sinne der Weltgemeinschaft Beweise zu sammeln, damit solche Taten, wenn nicht jetzt, so doch später gerichtlich verfolgt werden können.

SB: War das auch der Ansatz bei der Strafanzeige gegen Erdogan, Zeugenaussagen von derzeit in Deutschland lebenden kurdischen Betroffenen ins Feld zu führen, um Ermittlungen der Generalbundesanwaltschaft anzustoßen?

BE: Genau, und auf der Pressekonferenz kam ja auch Herr Faysal Sariyildiz zu Wort, ein Abgeordneter der prokurdischen Partei HDP in der Türkei. In der Anzeige geht es um zwei Ausgangssperren in der Stadt Cizre, eine achttägige und eine über 80tägige Ausgangssperre. Herr Sariyildiz hielt sich in beiden Fällen während der gesamten Zeit der Sperre in Cizre auf. Er ist Augenzeuge viele Taten, er ist selber Geschädigter einer der Taten und er ist der tatnächste Zeuge vom Hörensagen von vielen dieser Fälle. So hat er zum Beispiel mit einer Person telefoniert, die sich in einem Keller aufhielt und später umgekommen ist. Diese habe ihm berichtet, daß sie die Nachricht erhalten hätten, sie könnten den Keller verlassen und zum Krankenwagen gehen. Als jedoch der 16jährige Abdullah Gün hinausgegangen sei, habe man ihn erschossen. Die Person, die Herrn Sariyildiz davon berichtet hat, ist tot. Abdullah Gün ist tot. Somit ist er der tatnächste Zeuge.

SB: Wie könnte der weitere rechtliche Ablauf aussehen, je nachdem, ob die Generalbundesanwaltschaft Ermittlungen aufnimmt oder nicht?

BE: Sollte die Generalbundesanwaltschaft beschließen, nicht tätig zu werden, könnte man dagegen eine Beschwerde einlegen und auch ein Klageerzwingungsverfahren anstreben. Allerdings ist diesem Weg schon bei normalen Strafverfahren statistisch gesehen wenig Erfolg beschieden. Die andere Möglichkeit wäre, daß die Generalbundesanwaltschaft tatsächlich Ermittlungen gegen konkrete Personen aufnimmt oder ein sogenanntes Strukturermittlungverfahren einleitet und bestimmte Zeugen vernimmt, die hier in Deutschland anwesend sind.

SB: Die Strafanzeige wird in diesem Fall unter anderem gegen einen amtierenden Staatspräsidenten eingereicht. Genießt er aufgrund seines Amtes Immunität, die ihn vor Strafverfolgung schützt?

BE: Die Strafanzeige richtet sich gegen Herrn Erdogan wie auch eine ganze Reihe weiterer politisch und militärisch Verantwortlicher. Herr Erdogan selbst genießt grundsätzlich zunächst einmal Immunität. Würde in Deutschland ein Verfahren wegen Beleidigung durchgeführt, könnte er diese Immunität voll und ganz in Anspruch nehmen. Im Bereich des Völkerstrafrechts ist die Immunität hingegen nicht hundertprozentig. Die Generalbundesanwaltschaft kann davon ausgehen, daß ihm diese Immunität zusteht, und die Klage mit dieser Begründung abweisen. Sie könnte sich aber auch anders entscheiden. Wenn hierzulande beispielsweise jemand etwas in einem Supermarkt klaut, setzt die Staatsanwaltschaft das Strafverfolgungsinteresse Deutschlands um. Im Bereich des Völkerstrafrechts ist es ein Interesse der Weltgemeinschaft, daß keine Kriegsverbrechen verübt werden. Deshalb sollten auch Staatsoberhäupter nicht in der Lage sein, sich kraft ihrer Immunität endgültig von einer Anklage befreien zu können. Die Praxis der Generalbundesanwaltschaft tendiert derzeit jedoch dahin, eine derartige Immunität anzuerkennen.

Andererseits sehen wir im geschichtlichen Verlauf, wie schnell sich das ändern kann. Genau deshalb sagen wir auch, daß die Generalbundesanwaltschaft ermitteln soll. Wenngleich ich nicht im einzelnen mit den Ermittlungen im Falle Syriens vertraut bin und daher den aktuellen Stand nicht kenne, kann man doch davon ausgehen, daß sicher niemand damit die Erwartung verbunden hat, Assad werde ein Jahr später in Deutschland vor Gericht stehen. Wie jeder weiß, lehrt die Geschichte, daß die meisten Kriegsverbrechen, wenn überhaupt, erst lange Zeit später Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens werden.

SB: Ist die Bundesregierung oder ein zuständiges Ministerium beteiligt, wenn die Generalbundesanwaltschaft tätig wird?

BE: Nein, das ist hier anders als zum Beispiel im Fall von Herrn Böhmermann oder auch bei den 129b-Verfahren. Über unsere Klage entscheidet allein die Generalbundesanwaltschaft. Wenngleich eine Diskussion darüber geführt wird, dies zu ändern und ein Gericht in die Entscheidung mit einzubeziehen, ob ein Verfahren eingestellt werden darf oder nicht, ist das gegenwärtig nicht Gesetzeslage.

Wir haben die Anzeige allerdings nicht nur der Generalbundesanwaltschaft zukommen lassen, sondern auch dem Justizministerium zur Kenntnis gebracht. Dabei geht es nicht darum, daß sich das Ministerium in das Verfahren einmischt, sondern daß es den in der Klage geschilderten Sachverhalt zur Kenntnis nimmt. Unseres Wissens ist dieser Sachverhalt erstmals in deutscher Sprache so chronologisch im Sinne einer Beweisaufnahme formuliert worden. Die Bundesregierung und das Justizministerium sollten in Erwägung ziehen, ihren Einfluß gegenüber der Türkei geltend zu machen. Beispielsweise sollten Vertreter der Vereinten Nationen endlich Zugang zu dieser Region bekommen und unabhängige Untersuchungen vornehmen können.

SB: Welche Erwartungen verbinden Sie mit der Anzeige gegen Erdogan und andere Verantwortliche hinsichtlich der Wahrnehmung der in den Kurdengebieten verübten Greueltaten in der deutschen Öffentlichkeit?

BE: Es geht insbesondere darum, das wenige, was wir sicher wissen, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Mangelnde Berichterstattung der meisten Medien hat dazu geführt, daß ein regelrechtes Loch hinsichtlich der Informationen aus dieser Region vorherrscht. Wir haben über Vorfälle in Cizre berichtet, doch gibt es Ausgangssperren in zahlreichen weiteren Städten, über die wir wesentlich weniger Informationen haben. Das läßt sehr Schlimmes in all jenen Städten befürchten, über die wir derzeit wenig oder gar nichts erfahren. Es gilt daher, den Druck zu erhöhen, damit die Vereinten Nationen und Menschenrechtsorganisationen Zugang zu dieser Region erhalten. Auch in dieser Hinsicht sehen wir unsere Arbeit keineswegs als beendet an, sondern wollen auch künftig die Ereignisse dokumentieren.

SB: Sind für die Zeit, bis die Generalbundesanwaltschaft eine Entscheidung getroffen hat, weitere Veranstaltungen oder andere Aktionen angedacht, um weiterhin über die Entwicklung in der Türkei zu informieren?

BE: Wir wollen auf jeden Fall weitere Veranstaltungen durchführen und versuchen, unsere bislang erstellte Dokumentation als Buch zu veröffentlichen. Darüber hinaus bemühen wir uns darum, die weiteren Ereignisse fortlaufend zu dokumentieren. Das ist nicht nur aufwendig, sondern auch menschlich sehr schwierig, da es den Zeuginnen und Zeugen sehr schwer fällt, über das zu reden, was geschehen ist. Wir kennen das in Deutschland nur zu gut, wenn wir an die Verbrechen während des Nationalsozialismus denken. Auch dort fiel es den Überlebenden außerordentlich schwer, zeitnah über das zu berichten, was sie erlebt und erlitten hatten. Es sind nicht nur einzelne Menschen betroffen, eine ganze Gesellschaft ist traumatisiert.

Die Strategie der türkischen Regierung und der Verantwortlichen vor Ort zielt darauf ab, unvorstellbare Grausamkeiten zu verüben und damit nicht nur die Opfer selbst zu treffen. Betroffene dieser Taten sind nicht nur die Menschen, die erschossen oder verbrannt worden sind, betroffen ist die Gesamtgesellschaft. Betroffen sind aber auch wir, die wir es kaum schaffen, umfassend darüber zu berichten, was dort passiert, und uns mit diesen unvorstellbaren Dingen auseinanderzusetzen. An der gestrigen Pressekonferenz nahm ein Kurde teil, dessen Schwester im Keller verbrannt ist. Er zeigte mir Bilder mit Überresten eines Körpers, der angeblich der seiner Schwester sein soll. Man muß zu den Sicherheitskräften gehen, die einem nur verbrannte Teile von Fleisch und Knochen übergeben und sagen: Das ist deine Schwester!

Die wenigen Menschen, die es wagen, sich aus einer menschenrechtlichen Sicht damit zu befassen, sehen sich staatlicher Repression ausgesetzt. So hat eine in der Türkei anerkannte Rechtsmedizinerin und Menschenrechtlerin, die selbst keine Kurdin ist, in den Kellern menschliche Knochen identifiziert und in einem Fall einem zwölfjährigen verbrannten Mädchen zuordnen können. Diese Medizinerin ist eine von drei Personen, die vor anderthalb Wochen verhaftet worden sind, weil sie symbolisch die Redaktion von Özgür Gündem übernommen haben, wo auch der Journalist der Reporter ohne Grenzen festgenommen worden ist. Es liegt auf der Hand, daß sie nicht zufällig verhaftet wurde, da sie zu den wenigen Zeuginnen gehört, die mit ihrer fachlichen Kompetenz etwas zu den Ereignissen in den kurdischen Städten sagen können. Auf diese Weise versucht der türkische Staat, die Dokumentation seiner Taten zu verhindern.

SB: Das Weltrechtsprinzip soll dem Anspruch nach der Straflosigkeit bei Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein Ende bereiten. Wie schätzen Sie den Widerspruch ein, daß es dennoch das Recht des Stärkeren bleibt, da schwächere Staaten oder Bevölkerungsgruppen nicht in der Lage sind, es zu eigenen Gunsten in Anspruch zu nehmen?

BE: Das ist natürlich richtig, auch im Völkerstrafrecht gilt das Recht der Herrschenden, wie der vorliegende Fall zeigt. Wenngleich der Internationale Strafgerichtshof weltweit Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verfolgen soll, gilt das zunächst nur für die Staaten, die seine Charta unterzeichnet haben. Alle wesentlichen Staaten, die in größere Konflikte eingebunden sind, haben nicht unterzeichnet und können deshalb auch nicht vor diesen Internationalen Strafgerichtshof gebracht werden. Dazu zählen Rußland und die USA, aber auch die Türkei. Ein anderer Weg führt über den UN-Sicherheitsrat, dessen Beschlüsse jedoch Ausdruck derselben Kräfteverhältnisse sind.

Die Herrschenden der Welt entscheiden darüber, wer strafverfolgt wird und wer nicht. Das muß man ganz klar sehen. Am Fall Libyens kann man studieren, wie zunächst Gaddafi beseitigt und dann eine willfährige Regierung eingesetzt wurde, die man völkerrechtlich anerkennt. Ruft diese Regierung andere Staaten zu Hilfe, ist das vorgeblich mit dem Völkerrecht vereinbar, während andere Gruppierungen, die gegen diese Regierung kämpfen, als Terroristen gelten. Auch in dieser Sphäre ist das Recht kein Instrument der wahren Gerechtigkeit.

SB: Die strategischen Interessen der Bundesrepublik bedingen einen Schulterschluß mit der türkischen Regierung, der bei aller vordergründigen Kritik am Kurs Erdogans eine Intervention in der Kurdenfrage auszuschließen droht. Auf welche Weise könnte Ihre Klage dazu beitragen, dieser Allianz etwas entgegenzusetzen?

BE: Angesichts dieser Ausgangssituation hätte man sicher sagen können, daß sich derzeit nichts bewegen läßt. Das kann uns aber nicht daran hindern, es trotzdem zu versuchen. Ich glaube, daß man bestimmte Schritte nicht nur in Hinblick auf die aktuelle Lage bewerten kann, sondern immer auch in bezug auf die Geschichte sehen muß. Nehmen wir den Genozid an den Armeniern, der jetzt wieder ins Gespräch gekommen ist. In dieser Hinsicht ist jede Dokumentation wichtig. Und es ist gleichermaßen wichtig, Ermittlungen einzufordern. Wir haben die Information auch an die Vereinten Nationen geschickt, und vielleicht sind diese ja bereit, beispielsweise den Fall von Herrn Faysal Sariyildiz aufzuarbeiten. Es geht darum, das nicht nur tagesaktuell, sondern auch in einem historischen Gesamtzusammenhang zu sehen.

SB: Erhoffen Sie sich von der Strafanzeige auch eine unmittelbare Wirkung auf die Kriegspolitik der türkischen Regierung gegen die Kurdinnen und Kurden?

BE: Wir sind keine große Menschenrechtsorganisation mit bezahlten Mitarbeitern. Dennoch versuchen wir, die uns zugänglich gemachten Informationen zu veröffentlichen und beispielsweise Amnesty international und Human Rights Watch zur Verfügung zu stellen, die ihrerseits versuchen, Zugang zu den Städten im Südosten der Türkei zu bekommen. Es geht darum, möglichst viel zu dokumentieren und weiteren Druck aufzubauen. In diesem Rahmen können wir darauf hinwirken, daß dort möglicherweise bestimmte Dinge nicht passieren, wobei man das immer als einen Teil der gesamten Arbeit sehen muß. Die erste Strafanzeige von 2011 ist zwar eingestellt worden, hatte aber trotzdem eine gewisse Wirkung. Zum Beispiel haben deutsche Gerichte danach in Verfahren gegen Kurdinnen und Kurden die dort geschilderten Verbrechen als wahr angenommen. Zudem kamen damals auch Chemiewaffeneinsätze zur Sprache, für die es dann zumindest in den zwei folgenden Jahren keine Anzeichen mehr gab.

Zudem ist es sehr wichtig, die betroffenen Menschen zu unterstützen. Es ist unglaublich schwer, in einer Situation zu überleben, in der man am nächsten Tag tot sein kann. Wenn Menschen mit Verletzten in einem Haus festsitzen, und beim Versuch, einen Krankenwagen zu erreichen, der nächste erschossen wird, gibt es keinerlei Sicherheit mehr. Im Sinne einer psychologischen Heilung müssen diese Menschen zunächst wieder erfahren, daß es andere Menschen gibt, die das, was geschehen ist, als Verbrechen anerkennen. Damit meine ich Verbrechen gar nicht mehr im juristischen Sinne. In diesem Sinn ist ein ganz wesentlicher Schritt, daß deutsche Juristinnen es als das anerkennen, was es ist.

SB: Frau Eder, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnoten:

[1] http://www.mafdad.org/de/strafanzeige-gegen-recep-tayip-erdogan-u-a-nach-dem-volkerstrafgesetzbuch-wegen-kriegsverbrechen-und-verbrechen-gegen-die-menschlichkeit/

[2] Siehe dazu:
INTERVIEW/289: Treffen um Rosa Luxemburg - und niemand sieht hin ...    Nick Brauns im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0289.html

3. Juli 2016


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