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INTERVIEW/308: Migrationskonferenz Kampnagel - Kollateralschaden Migration und Flucht ...    Ilhan Akdeniz im Gespräch (SB)


In der Fremde sich zu behaupten, geht nur mit anderen zusammmen

Interview mit Ilhan Akdeniz von der ADHK am 27. Februar 2016 auf Kampnagel in Hamburg


Hinter der scheinbar so schlichten Aussage "Flüchtling zu sein ist keine Wahl!", so auch der Titel des von der Konföderation für Demokratische Rechte in Europa (ADHK) gehaltenen Vortrags auf Kampnagel, verbirgt sich weit mehr als das auf allen TV-Kanälen ins Gewissen rufende Elend jener Flüchtlinge, die zum Beispiel am griechisch-mazedonischen Grenzübergang Idomeni mit der unversöhnlichen Realität der Abschottung Europas konfrontiert sind. Migration und Flucht sind immer auch das Resultat einer kapitalistischen Wirtschaftsweise im Bunde mit einer imperialistischen Politik. Produktionsketten werfen nur Profit ab, wenn Märkte und Transitwege, der Abbau von Ressourcen und die Verbilligung der Arbeitskraft in einer sich rasant vernetzenden Welt frei verfügbar und jederzeit abrufbar sind. So kann die Nutzung einer Wasserstraße für den internationalen Schiffsverkehr so wertvoll sein, daß für deren Schutz selbst die Souveränitätsrechte eines Staates beschnitten oder Regierungen installiert werden, die gegen die Interessen der eigenen Bevölkerung einzig und allein dem globalen Kapital dienen. Wenn jetzt Flüchtlinge vermehrt nach Europa kommen, wird oft vergessen, daß sie dies nur tun, weil die westliche Staatenwelt in ihren Heimatländern Krieg um Bodenschätze und geostrategische Ziele führt.

Ein weiterer unverzichtbarer Baustein im System kapitalistischer Produktion betrifft den regulierten Zustrom von Arbeitsmigranten. Bereits in den 50er Jahren setzte eine Einwanderungswelle vor allem aus Italien, Griechenland und Spanien nach Deutschland ein, die ihren Höhepunkt in den Anmeldebüros in der Türkei fand. Armut, kaum ausreichende Lebensperspektiven und die Hoffnung, in den Genuß demokratischer Grundrechte zu kommen, die sie im eigenen Land entbehren mußten, brachte zigtausende junger türkischer Männer in die deutschen Metropolen, wo Arbeitskräfte speziell in Berufsbranchen dringend gesucht wurden, die deutschen Erwerbstätigen keinen Anreiz boten, schlecht bezahlt waren und Knochenarbeit erforderten.

Daß Betriebe und Berufsverbände den Ali aus Anatolien mit offenen Armen empfangen haben, ist ein sich bis heute hartnäckig haltendes Gerücht. Die Wirklichkeit sah viel trister aus. Das Einquartieren in firmeneigene Holzbaracken unweit des Arbeitsplatzes, eine latente bis offene Ablehnung der einheimischen Bevölkerung und die sich bald einstellende Gewißheit, in vielen Bereichen der gesellschaftlichen Teilhabe unterprivilegiert und ausgegrenzt zu sein, gaben dem Willkommensgruß den schalen Beigeschmack, geduldet, vielleicht toleriert, aber als Mensch nicht akzeptiert zu werden. All das führte in der Folge zu einer Ghettoisierung, die den türkischen Gastarbeitern allerdings einen Teil ihrer kulturellen Identität und das Gefühl zurückgab, wenigstens innerhalb engumgrenzter Stadtviertel heimisch und frei von Ressentiments leben zu können, gleichzeitig aber ein Rad in Bewegung setzte, für das Soziologen in späteren Jahren den Begriff der Parallelgesellschaften schufen, um darüber hinwegzutäuschen, daß eine Integration im Sinne eines multiethnischen Zusammenlebens von der Politik über Jahrzehnte weder erwünscht noch angestrebt war - die Rückkehrprämie in den 80er Jahren ist ein gutes Beispiel dafür.

Die ökonomische Situation der etwa zwei Millionen in Deutschland lebenden Türken und Kurden hat sich inzwischen verbessert. Mit über 70.000 türkischstämmigen Unternehmen, die fast eine Million Menschen beschäftigen, stellt ihre Community einen wichtigen Wirtschaftsfaktor dar, auch wenn sich dieser vornehmlich aus dem Kleingewerbe und mittelständischen Betrieben speist. Eine politische Gleichstellung, wie im Grundgesetz verbürgt, ist damit jedoch nicht verbunden. Nach wie vor besitzen Menschen mit Migrationshintergrund, unabhängig davon, ob sie einen deutschen Paß besitzen oder nicht, schlechtere Berufsperspektiven, weisen eine höhere Arbeitslosenquote auf und sind verstärkt seit den 90er Jahren Diskriminierungen und rassistischen Übergriffen ausgesetzt, die unter anderem in Solingen und Mölln Todesopfer forderten.

In der Schwebe zwischen ihrem Herkunftsland, zu dem sie oft keine emotionale Bindung haben, und Deutschland als ihrer ideellen Heimat fühlen sie sich bisweilen wie Fremde im eigenen Herzen, nirgends zugehörig. In dem Kampf um Selbstwert und Souveränität sind Migrantenorganisationen keine wirkliche Hilfe, da diese in der Regel als Folie des türkischen Generalkonsulats fungieren. Nicht erst seit den Flüchtlingsströmen des letzten Jahres wachsen wieder Mauern und stacheldrahtbewehrte Grenzen in Europa empor, werden Gesetze bis an den Rand der Legitimität verschärft, die die Gesellschaften nachhaltig verändern und das Kleinod in der Erinnerung, daß alle Menschen einen Nabel besitzen, in unerreichbare Sphären verrücken. Die ADHK will ein Bewußtsein für den Reichtum der kulturellen Vielfalt wecken und daran gemahnen, daß die größte Gefahr immer schon von der Vereinheitlichung des gesellschaftlichen Lebens ausgegangen ist. Im Anschluß an den besagten Workshop hatte der Schattenblick Gelegenheit, dem Vortragsredner Ilhan Akdeniz einige Fragen zu stellen.


Ilhan Akdeniz im Porträt - Foto: © 2016 by Schattenblick

Ilhan Akdeniz
Foto: © 2016 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Die Konföderation für Demokratische Rechte in Deutschland (ADHK) ist 1976 gegründet worden. Was war das Motiv für den politischen Aufbau Ihrer Organisation?

Ilhan Akdeniz (IA): Die ADHK wurde von der türkischstämmigen Arbeiterschaft, aber auch von türkischen Studenten gegründet, um ein Sprachrohr für die Interessen des migrantischen Anteils in der bundesdeutschen Bevölkerung zu schaffen und eine Teilhabe am gesellschaftspolitischen Leben zu fördern. Damals war der Verein als Föderation nur in Deutschland aktiv, aber nach einigen Jahren entstanden auch in der Schweiz, in Österreich, Frankreich und England Niederlassungen.

SB: Sind die politischen Ziele der ADHK heute noch dieselben wie in der Gründungszeit?

IA: Für die Gruppe der türkischen Migranten hat sich nicht viel geändert, denn sowohl die deutsche Politik als auch das Mutterland Türkei sahen in den türkischen Migranten nur Gastarbeiter. Die Bundesrepublik ging davon aus, daß sie hierher zum Arbeiten kommen, ein bißchen Geld verdienen und nach ein paar Jahren wieder zurückkehren. Aber das Gegenteil ist eingetreten. Das war eine Fehleinschätzung der deutschen Politiker wie auch der politischen Elite in der Türkei, die diese Zielgruppe als Devisenbringer auffaßte, damit Geld in die Türkei fließt. Tatsächlich war es so, daß sich die Arbeiter aus der Türkei hier für eine längere Zeit nur als Gäste gefühlt haben. Erst, als sie ihre Familien nachholten und hier Kinder bekamen, entschieden sie sich dafür, zu bleiben, damit ihre Kinder eine bessere Zukunft haben und Bildung erfahren.

SB: Es geht dabei auch um das Problem der Integration. Man kann Integration in erster Linie als Forderung an die Zuwanderer stellen, sich den deutschen Verhältnissen anzupassen. Das wäre eine Deutungsart, eine weniger zwingende bestünde darin, Voraussetzungen zu schaffen, damit sich die Migranten mit allen Aspekten ihrer Kultur und Identität hier heimisch fühlen und die bundesdeutsche Gesellschaft dadurch bereichern. Diese Art der Entwicklung hat es in der Geschichte zu allen Zeiten gegeben. Wo sehen Sie die größten Mängel in der deutschen Politik, die sich über Jahrzehnte auf den Standpunkt stellte, Deutschland sei kein Einwanderungsland, obwohl dies faktisch längst so war?

IA: Die Politik muß endlich begreifen, daß eine einseitige Forderung nicht zielführend sein kann. Wir erleben jetzt dasselbe Problem mit den Flüchtlingen. Wenn man von Fluchtursachen spricht, muß man auch über Verantwortlichkeiten reden. Solange die deutsche Politik nicht lernt, warum diese Menschen hier sind, kann sie nicht lautstark und unreflektiert Integration fordern. Es geht um ein echtes Zusammenleben mit- und nicht um ein erzwungenes nebeneinander.

SB: Welche Voraussetzunge müßten aus Ihrer Sicht von deutscher Seite erfüllt werden, damit ein Mensch hier heimisch werden kann - kommunales Wahlrecht für alle, gleiche Ausbildungschancen?

IA: Es geht nicht nur um das Kommunalwahlrecht. Die Menschen, die hierhergekommen sind, haben ein Recht auf Bildung, Wohnunterkunft und daß die Abschlüsse in den Herkunftsländern anerkannt werden. Das gilt vor allem für die Neuankömmlinge. Über ein Wahlrecht für die Türken und Kurden oder Italiener, die in den 60er Jahren hierhergekommen sind, kann man dann immer noch sprechen.

SB: Die erste Generation der Gastarbeiter hat im Grunde keine Integration genossen - man hat sie einfach arbeiten lassen. Inzwischen hat sich die dritte Generation selbst integriert, sowohl sprachlich als auch kulturell. Im Vortrag erwähnten Sie, daß Ihr Sohn in der Türkei Urlaub macht und nicht mehr die Heimat besucht. Was müßte die deutsche Politik Ihrer Ansicht nach jetzt leisten, damit sich die alten Fehler mit den türkischen Gastarbeitern nicht wiederholen?

IA: Die Verschärfungen im Asylgesetz müssen weg. Jetzt fordert die Bundesrepublik von Italien und Griechenland auch noch, daß sie die Flüchtlinge gemäß dem Abkommen von Dublin aufnehmen und versorgen. Deutschland muß einräumen, einen Fehler gemacht zu haben, und sich bei den betroffenen Staaten entschuldigen. Richtig ist dagegen die deutsche Forderung für eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge auf alle europäischen Staaten. Es geht aber nicht an, daß der Bundesinnenminister Thomas de Maizière in einer einzigen Nacht das Asylgesetz verändert und die Menschen in gute und schlechte Flüchtlinge aufteilt. Daß man die Menschen aus Albanien, Serbien, Rumänien oder dem Kosovo, die seit 20 Jahren hier leben, jetzt plötzlich zurückschickt, weil ihre Staaten zu sicheren Herkunftsländern deklariert wurden, ist durch nichts zu rechtfertigen. Daß diese Länder sicher sein sollen, glaube ich nicht. Unsere Forderung ist ein Asylrecht für alle, unabhängig von den Heimatländern der Flüchtlinge.

SB: Die ADHK hat sich von ihren Gründungsjahren an vornehmlich für die Interessen der in Europa lebenden Türken und Kurden eingesetzt. Versteht sich die Konföderation heute auch als politische Stimme der Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak, Iran, Afghanistan und afrikanischen Staaten?

IA: Ich bin selber Kurde und habe viele Erstaufnahmeunterkünfte besucht. Ich habe immer die Forderung aufgestellt, daß wir als Konförderation die Interessen aller Geflüchteten verteidigen müssen. Für uns gibt es keinen Unterschied zwischen Migranten und Flüchtlingen, jeder ist ein Mensch, egal, wo er herkommt, ob aus Togo, Eritrea, Kurdistan oder der Türkei.


Plakat der ADHK mit dem bekannten Bild des 2014 ertrunkenen syrischen Kleinkinds Aylan - Foto: © 2016 by Schattenblick

ADHK fordert Verständnis für die Lage der Flüchtlinge
Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Die Konferenz hier auf Kampnagel ist nicht unwesentlich von der Organisation Lampedusa in Hamburg ausgerichtet worden. Arbeitet die ADHK auch mit Gruppen zusammen, die speziell von den Flüchtlingen in Selbstorganisation gegründet worden sind und gibt es eine Basis für einen gemeinsamen politischen Kampf?

IA: Ich bin Mitglied der Karawane-Gruppe Hamburg und habe mich persönlich sehr dafür eingesetzt, daß die Menschen, die hierherkommen, ein Bleiberecht bekommen. Zum Teil haben wir es geschafft und den Rest kriegen wir auch noch hin.

SB: Erfahren Sie für Ihre Arbeit Unterstützung von etablierten politischen Parteien?

IA: Die großen Parteien haben wir bereits abgeschrieben, aber mit kleinen Parteien oder Ortsgruppen gibt es Formen der Zusammenarbeit bei bestimmten Themen. Wir sind unabhängig, aber wenn ein Parteiprogramm unseren Forderungen entgegenkommt, kann sich darüber ein Konsens bilden.

SB: Gewerkschaften werden durch Arbeiterbeiträge getragen. Wie finanziert sich Ihre Organisation, erhalten Sie öffentliche Fördermittel?

IA: Ich persönlich finde es gut, wenn Gewerkschaften oder Bürgerinitiativen nicht als Anhängsel einer Partei arbeiten. Tun sie es doch, kann man von ihnen nicht viel erwarten. Das haben wir immer wieder erleben müssen. Nein, wir bekommen keine öffentlichen Gelder. Wir sind eine Selbstorganisation und haben vom Staat bis jetzt keinen Cent bekommen. Im wesentlichen finanzieren wir uns durch Spenden, Mitgliederbeiträge und andere Aktivitäten. Aber Geld ist auch nicht das Thema.

SB: In der ADHK arbeiten Türken und Kurden zusammen. Wie ist das Verhältnis zwischen beiden Ethnien auch angesichts der angespannten Situation in der Türkei?

IA: Supertoll.

SB: Der Südosten der Türkei, wo mehrheitlich Kurden leben, ist strenggenommen Kriegsgebiet. Immer wieder verhängt die Armee Ausgangssperren, riegelt ganze Städte ab und läßt Scharfschützen auf Passanten schießen. Viele Menschen sind gestorben. Beeinflußt die kriegstreiberische Kurdenpolitik des Recep Tayyip Erdogan das Zusammenleben von Kurden und Türken hier in Deutschland?

IA: Die Menschen schon, aber die Politik nicht. Wenn ich auf eine Demonstration gegen Erdogans Krieg gegen die Kurden gehe, sehe ich einen Deutschen, einen Peruaner oder auch jemanden aus Eritrea, aber keinen deutschen Politiker. Sicherlich gibt es innerhalb des kurdischen Mittelstands in der Türkei Anhänger von Erdogan, aber auch Gegner seiner Politik. Unter den Kurden hier in Deutschland sind viele gegen Erdogans Repressionsregime, aber auch in der türkischen Community macht man sich vermehrt Sorgen über den Kurs der Türkei und die Zerwürfnisse in der Gesellschaft dort. In Anti-Erdogan-Demonstrationen wie in Köln 2014 kamen Zigtausende zusammen, um ihren Protest auszudrücken. Darunter waren auch etliche türkische Kemalisten, auch wenn sie mit der kurdischen Freiheitsbewegung nicht unbedingt sympathisieren. Erdogan ist der Pfad, auf dem die politische Repression voranschreitet, aber auch vor seiner Amtszeit als Ministerpräsident ist es von seiten des Staates wiederholt zu Übergriffen auf den kurdischen Bevölkerungsanteil gekommen. Jetzt ist alles viel schlimmer geworden, so daß sich auch unter den Türken, vor allem, wenn sie modern eingestellt sind, ein wachsender Unmut gegen Erdogan regt.


Ilhan Akdeniz, am Rednertisch sitzend vor zwei Fahnen der ADHK - Foto: © 2016 by Schattenblick

Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Die HDP ist im letzten Jahr ins türkische Parlament gewählt worden, was Anlaß zu großer Hoffnung gab, weil endlich eine echte Opposition gegen Erdogan die politische Bühne betrat. Die HDP spannt einen Bogen von den kurdischen Interessen hinüber zu den säkularen zivilgesellschaftlichen Kräften. Wie schätzen Sie die Wirkung dieser Partei auf eine mögliche Veränderung in der Türkei ein?

IA: Als Kurde und linksorientierter Mensch sehe ich in der HDP eine Bereicherung, weil sie das demokratische Element im türkischen Parlament verstärkt. Allerdings glaube ich nicht, daß sich mit einem politischen Instrument wie der HDP viel ändern wird, sondern bin vielmehr der Überzeugung, daß sich Kurden und Türken zusammentun und für eine Demokratie in der Türkei kämpfen müssen.

SB: Für einen Schulterschluß stehen die Zeichen im Moment nicht gerade günstig. Was wäre Ihrer Meinung nach im politischen Sinne nötig, um die Türkei zu demokratisieren - Druck von außen oder müßte sich eine Kraft von innen heraus erheben?

IA: Ich glaube, die Menschen in der Türkei haben von Gezi gelernt, daß etwas machbar ist. Die Kräfte im Inneren tun bereits, was sie können. Natürlich wäre es denkbar, daß die westlichen Staaten mit Erdogans Politik brechen und die Türkei so gezwungen wäre, sich für einen anderen Weg zu entscheiden, aber das halte ich für sehr unwahrscheinlich. Jedenfalls war es nicht unbedingt hilfreich, daß Angela Merkel Erdogan eine Wahlspende von drei Milliarden Euro gegeben hat.

SB: Dieses Geld soll aus deutscher Sicht eigentlich der Flüchtlingsabwehr dienen, um die Politik in der EU wieder ins Lot zu bringen.

IA: Mag sein, aber dennoch ist die Einbindung der Türkei in das System der Flüchtlingsregulation kein geeignetes Mittel, um Erdogans Politik zu stoppen. Zum einen hat Erdogan kein Interesse daran, sich wie ein Esel vor den Karren der EU spannen zu lassen und zum anderen kann die Flüchtlingsfrage letztendlich nur durch einen Frieden in Syrien gelöst werden. Also müßte viel stärker daran gearbeitet werden, den Bürgerkrieg dort zu beenden, sonst werden sich Flüchtlinge immer wieder auf den Weg machen.

SB: Es heißt zwar, die Türkei habe 2,8 Millionen Flüchtlinge aufgenommen, aber ein Teil davon hat sich wieder in Richtung Europa aufgemacht. Was halten Sie von der These, daß Erdogan die Flüchtlinge nach Europa durchgewunken hat, um die EU an den Verhandlungstisch zurückzuzwingen?

IA: Das läßt sich schwer überprüfen. Erdogan hat mit Rußland Probleme wie auch mit dem Irak, mit Syrien, Bulgarien und Griechenland. Tatsächlich hat sich die Türkei unter seiner Amtszeit als Ministerpräsident kein Jota in Richtung einer EU-Mitgliedschaft bewegt. Vielmehr wurde er von den europäischen Staaten isoliert. Jetzt versucht er, die Flüchtlingspolitik als Instrument zu nutzen, um die Europäer, in erster Linie jedoch Deutschland, für eine Aufnahme in die EU zu gewinnen. Mehr hat Erdogan nicht in Händen, aber das macht er gut, und Merkel spielt mit.

SB: Rojava ist für die Türkei ein rotes Tuch. Sie will im Nachbarland keine kurdische Autonomieregion, geschweige denn einen eigenständigen kurdischen Staat. Mit den Flüchtlingen kommen auch syrische Kurden in die Türkei. Sieht Erdogan in ihnen eine Gefahr?

IA: Nein, keine Gefahr, vielmehr versucht er, aus den geflüchteten Menschen insgesamt Kapital für seine politischen Interessen zu schlagen. Erdogans Alptraum ist ein Kurdistan, soviel ist sicher. Diejenigen, die dort für eine kurdische Autonomie kämpfen, sind in seinen Augen allesamt Terroristen. Ihm wäre es am liebsten, wenn Rojava vollständig entvölkert wäre. Dazu dienen auch die Bombardierungen der türkischen Luftwaffe als Teil seiner regionalpolitischen Strategie.

SB: Assad und Erdogan waren früher so etwas wie politische Freunde. Inzwischen ist daraus eine tiefe Feindschaft geworden. Wie erklären Sie sich den Umschwung in den politischen Beziehungen zwischen der Türkei und Syrien?

IA: Für die Türkei war Syrien unter Hafiz Assad eine Diktatur, und auch sein Sohn Baschar wird inzwischen als Diktator gesehen. Als sich Abdullah Öcalan in den 1990er Jahren in Syrien aufhielt, hat die Türkei dies als Unterstützung von Terroristen ausgewiesen. Es stimmt schon, daß zwischen Erdogan und Baschar Assad für eine lange Zeit gute Kontakte bestanden. Das änderte sich, als Erdogan über die Moslembrüder aus Ägypten versucht hat, sich als Führer der islamischen Welt zu verkaufen. Man denke in diesem Zusammenhang an den Eklat beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos 2009, als er zu Israels Präsidenten Schimon Peres sagte, die Israelis wüßten sehr gut, wie man Kinder tötet. Dadurch ist sein Ansehen bei den Moslems weltweit enorm gestiegen. In der Folge knüpfte Erdogan Bande zu den islamistischen Staaten Katar und Saudi-Arabien und erhielt von beiden Ländern großzügige Geldmittel, die er dazu nutzte, über die Türkei Terror nach Syrien zu exportieren. Assad ist kein Waisenknabe und der lebende Beweis dafür, daß auch ein Alawit ein Diktator sein kann. Erdogan schwebt wahrscheinlich vor, aus Syrien ein zweites Katar oder Saudi-Arabien zu machen und so für das Sunnitentum weitere Gebiete zu erobern.

SB: Die ADHK setzt sich für demokratische Rechte in Deutschland und Europa ein. Inwiefern weist Deutschland Demokratiedefizite auf?

IA: Ein Beispiel dazu: Die Schweiz steht für eine direkte Demokratie. Dort werden wichtige Gesetzesänderungen durch Volksabstimmungen getroffen, aber wenn es um Wirtschafts- und nationale Fragen geht, existiert diese direkte Demokratie nicht mehr. Dasselbe gilt auch für Deutschland. Als die USA den Irak angegriffen haben, hat Kanzler Schröder eine uneingeschränkte Solidarität zugesagt, obwohl BND-Mitarbeiter in Bagdad saßen und wußten, daß Saddam keine Massenvernichtungswaffen besaß. Wenn so etwas möglich ist, bedeutet dies, daß es eine Demokratie, wie wir sie uns wünschen, in Deutschland nicht gibt. Das heißt, das bestehende System muß geändert werden.

SB: Wenn Sie sich ein Bild für die Zukunft ausmalen könnten, wie würde eine gelungene Demokratie für Sie dann aussehen?

IA: Hier auf Kampnagel habe ich Demokratie erlebt, weil die Menschen friedlich miteinander sprechen konnten. Wenn die Politik dazu bereit ist, wird auch eine solche Demokratie möglich sein.

SB: Herr Akdeniz, vielen Dank für das Interview.


Zwei Fahnen der ADHK hängen an der Wand - Foto: © 2016 by Schattenblick

ADHK tritt für die Völkerverständigung ein
Foto: © 2016 by Schattenblick


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21. März 2016


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