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INTERVIEW/255: Kurdischer Aufbruch - und also Öcalan ...    Mustefa Ebdi im Gespräch (SB)


Der Kampf um Kobanê

Die kapitalistische Moderne herausfordern II - Konferenz an der Universität Hamburg, 3. bis 5. April 2015


Mustefa Ebdi ist Co-Bürgermeister der Stadt Kobanê, arabisch Ain al-Arab. Sie fungiert als Verwaltungszentrale des Kantons Kobanê, der wie die Kantone Afrin und Cizire seit Anfang 2014 unter dem Namen Rojava einen autonomen Status innerhalb Syriens beansprucht und in einer Kooperation von kurdischen, assyrischen und arabischen Parteien selbstverwaltet wird. Diese mehrheitlich kurdisch besiedelten und von der kurdischen Bevölkerung als Westkurdistan bezeichneten Gebiete im Norden Syriens werden seit Ende 2013 immer wieder vom Islamischen Staat (IS) angegriffen, wobei der Kanton Kobanê die Hauptlast der Aggression zu tragen hatte. Die Gefechte um die Stadt währten von September 2014, als der IS eine Großoffensive begann, die zur teilweisen Eroberung und weitgehenden Zerstörung Kobanês führte, bis zu ihrer Befreiung durch die Volksverteidigungseinheiten YPG und YPJ wie auch Einheiten der Freien Syrischen Armee (FSA) Ende Januar 2015.

Mustefa Ebdi, der Kobanê zusammen mit der Co-Bürgermeisterin Rodin Dabu vorsteht, beantwortete dem Schattenblick am 4. April 2015 am Rande der Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern II" einige Fragen zu dieser kriegerischen Konfrontation und ihren Folgen.


In der Eingangshalle des Audimax - Foto: © 2015 by Schattenblick

Mustefa Ebdi
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Herr Ebdi, haben Sie eine Erklärung dafür, warum der IS mit solcher Vehemenz und Gewalt, stärker noch als in anderen Gebieten in Syrien, gegen Rojava und im speziellen Kobanê vorgerückt ist?

Mustefa Ebdi (ME): Grundsätzlich ist der IS gegen alle, die für Frieden, Freiheit und Demokratie einstehen. Die Kurden in Rojava, die bis dahin kaum Rechte genossen, haben sich relativ früh im syrischen Bürgerkrieg für eine Selbstverwaltung entschieden. In diesem Zusammenhang hat sich der IS in seinem blutrünstigen Kriegszug gegen die Menschlichkeit sozusagen nochmals ein höheres Ziel gesetzt, um die demokratischen Werte und Errungenschaften, die wir in Rojava am weitesten vorangetrieben haben, vom Erdboden zu tilgen. Es geht zum einen gegen die Kurden, aber zum anderen auch gegen die demokratische Selbstverwaltung. Allerdings war es absehbar, daß der IS nach der Ausrufung des Islamischen Staates irgendwann auch gegen Rojava aufmarschieren würde, weil das Gebiet in die Grenzen des von ihm beanspruchten Territoriums fällt. Das war ein weiterer Grund für die Bekämpfung Rojavas, um diese Region für ihre menschenverachtende Ideologie zu vereinnahmen.

SB: Stimmt es, daß die Stadt Kobanê seit dem Beginn der dschihadistischen Angriffe auf sich allein gestellt war, was die humanitäre Lage in hohem Maße erschwert, zumal der geforderte Hilfskorridor über die Türkei für Lebensmittel und Waffen seitens der Erdogan-Regierung verweigert wird?

ME: Bis zur jetzigen Minute ist Kobanê noch immer abgeschottet. Es besteht nach wie vor ein Embargo von türkischer Seite. Wir haben zu keinem Zeitpunkt direkte militärische Unterstützung oder humanitäre Hilfe aus dem Ausland bekommen. Wenn überhaupt gab es eine Unterstützung durch die Waffenhilfe der Peschmerga aus Südkurdistan, also dem Nordirak, die uns zu Hilfe kamen, oder durch die Anti-IS-Allianz, die Stellungen des IS aus der Luft angegriffen hat. Aber eine direkte Hilfe hat es nie gegeben.

In diesem Szenario spielt die Türkei eine große Rolle, weil sie nicht möchte, daß die Kurden in Rojava gestärkt werden. Die Türkei fürchtet, daß die Errungenschaften der Kurden in Nordsyrien auf die Kurden innerhalb der Türkei überschwappen könnten. Dieser Punkt ist wichtig, um die Situation in Rojava zu verstehen. Wir fordern nicht nur eine kurzfristige Öffnung der Grenze zur Türkei, sondern eine Öffnung auf allen politischen Ebenen. Dies haben wir auch beim letzten Treffen des Europarates in Strasbourg zur Sprache gebracht, wo die Türkei vertreten ist. Uns geht es um eine international anerkannte Öffnung der Grenzen. Es kann nicht sein, daß ein Staat innerhalb der NATO wie die Türkei nach Lust und Laune über die Öffnung oder Schließung der Grenzübergänge entscheidet. Eine uneingeschränkte humanitäre wie auch militärische Hilfe ist für uns unabdingbar. Das werden wir auch weiterhin fordern, und die europäische Staatengemeinschaft sollte uns darin unterstützen.

SB: Erdogan kritisiert einerseits Israel wegen der Gaza-Blockade, andererseits schließt er die Grenze nach Rojava. Wie bewerten Sie die ambivalente Rolle der Türkei im Verhältnis zwischen Gaza und Rojava?

ME: Erdogan spielt ein doppeltes Spiel, seine Doppelmoral ist leicht zu erkennen. Dabei haben wir von Anfang an gesagt, daß wir mit der Türkei als einem Nachbarstaat diplomatische Beziehungen pflegen und in einen Dialog treten wollen. Erdogan ist jedoch strikt dagegen. Er hat einmal geäußert, daß selbst ein Kurdistan irgendwo in Afrika für ihn nicht hinnehmbar wäre. Darin zeigt sich seine grundsätzliche Haltung gegen die Kurden und insbesondere das Projekt einer demokratischen Autonomie in Rojava. Dabei richtet sich unsere Selbstverwaltung gegen niemanden, sie ist vielmehr der Ausdruck des Zusammenlebens einer Vielfalt von Ethnien und Kulturen. Das muß Erdogan akzeptieren.

Die Grenze zwischen Rojava und der Türkei ist Hunderte von Kilometern lang. Das bedeutet, daß wir immer in Nachbarschaft mit der Türkei leben werden. Mit seiner Forderung, daß die Blockade von Gaza aufgehoben werden muß, weil man Menschen nicht unterdrücken dürfe, will sich Erdogan lediglich als Gutmensch darstellen. Bei Rojava hingegen spricht er ganz anders. Daran erkennt man seine Unglaubwürdigkeit.

SB: Die Kämpfe um Kobanê zogen sich über mehrere Monate hin. Handelte es sich dabei um eine Art Stellungskrieg, wo sich die Verteidiger Kobanês und die IS-Milizen auf Distanz mit Mörsergranaten beschossen haben oder gab es erbittert geführte Nahkämpfe um Geländegewinne?

ME: Ich bin kein Vertreter der Volksverteidigungseinheiten und war auch nicht an der Front, sondern bin Vertreter einer zivilen Organisation. Daher kann ich Ihnen keine stichhaltige Antwort geben, aber ich kann mich dazu äußern, was ich mit eigenen Augen gesehen habe. Die Kämpfe wurden sowohl auf die eine als auch auf die andere Weise geführt. Am Anfang wurde auf Distanz gekämpft, aber nachdem der IS in die Randbezirke der Stadt eingedrungen war und seinen Vormarsch fortsetzte, kam es zu direkten Auseinandersetzungen, fast Auge in Auge. Es wurde um jede Straße und um jedes Haus gekämpft. Manchmal waren Verteidiger und Angreifer kaum mehr als zehn Meter voneinander entfernt. Unsere Kämpfer haben Löcher in die Wände geschlagen, um zielen zu können, und auf der anderen Seite geschah das gleiche. Je tiefer der IS in die Stadt drang, desto enger und heftiger wurden die Kämpfe. Es fehlte nur noch, daß man sich mit den Händen berühren konnte. Der Häuserkampf wurde von seiten des IS auf barbarische Weise ausgetragen.

SB: Die zivilen Einwohner Kobanês sind offenbar zum größten Teil geflohen. Zu welchem Zeitpunkt hatte die Zahl der Verteidiger ihren Tiefstand erreicht?

ME: Im kompletten Kanton Kobanê leben 450.000 Einwohner. Kobanê-Stadt selbst hatte eine Einwohnerzahl von 120.000. Am 6. Oktober letzten Jahres, am härtesten Tag der Kämpfe, waren etwa 2000 Menschen in Kobanê.

SB: Wieviele zivile Opfer hat der Angriff des IS auf Kobanê gefordert?

ME: Zivile Opfer gab es nach meiner Kenntnis 17, darunter auch Frauen und Kinder, vor allem durch abgeschossene Raketen, die in Wohnungen einschlugen. Man muß dabei aber berücksichtigen, daß auch Zivilisten, die keine andere Möglichkeit mehr gesehen hatten, als in den Volksverteidigungseinheiten zu kämpfen, bei den Gefechten zu Tode gekommen sind. Sie werden jedoch nicht zu den getöteten Zivilisten, sondern zu den gefallenen Kämpfern gerechnet.

SB: Als der IS seinen Angriff auf die Stadt begann, gab es die Befürchtung, daß Kobanê bald fallen würde. Wie kam es zum militärischen Umschwung?

ME: Diejenigen, die immer behauptet haben, daß Kobanê fallen wird, waren entweder Unwissende oder Gegner des demokratischen Projekts. Man hat nie die Volksverteidigungseinheiten oder die Übergangsregierung gefragt. Vor allem die Türkei, aber auch die Unterstützer des IS haben eine große Gegenpropaganda geführt. Es waren erbitterte Kämpfe, gar keine Frage, aber wir hatten die Überzeugung auf unserer Seite, für eine gute Sache zu kämpfen, was letztlich den Ausschlag gegeben hat. So konnte Kobanê schließlich befreit werden. Nachdem wir bei den Straßenkämpfen mehr und mehr Boden zurückgewannen, fühlten sich unsere Brüder, die Peschmerga, motiviert, uns zu unterstützen. Sie kamen aber erst, als sie sahen, daß der IS in Kobanê zu besiegen war und es dort Errungenschaften gab, die es wert waren, dafür sein Leben zu riskieren.

SB: Werden im Moment immer noch Kämpfe in Kobanê oder den anderen Kantonen geführt?

ME: Im Süden des Kantons Kobanê ist die Befreiung schon weit vorangekommen. Kämpfe mit dem IS gibt es eher östlich, 40 Kilometer von der Stadt Kobanê entfernt. Im Kanton Cizire kämpfen die YPG, YPJ und der Militärrat der Suroye (MFS) - das ist der Kampfverband der Assyrer - gemeinsam gegen den IS in Til Temir und Til Hemis. In Afrin dagegen herrscht zur Zeit weitgehend Ruhe. Wir ruhen uns auf den bisherigen Erfolgen aber nicht aus, weil wir aus den Erfahrungen wissen, daß es jederzeit wieder zu militärischen Auseinandersetzungen mit dem IS kommen kann. Darauf sind wir vorbereitet. In Südkurdistan, also im Irak, finden in Kirkuk, Machmur und im Shengal-Gebirge weiterhin heftige Kämpfe statt, an denen die YPG und die HPG als Kampfverband der PKK beteiligt sind.

SB: Vor drei Jahren fand in Hamburg schon einmal eine Konferenz zum kurdischen Aufbruch statt. Seitdem hat sich die Situation in Rojava sehr verändert. Mit welchen Erwartungen sind Sie als Co-Bürgermeister von Kobanê hierhergekommen?

ME: Natürlich haben wir große Erwartungen an diese Konferenz, weil hier die Philosophien von Abdullah Öcalan und das Projekt für eine demokratische Autonomie vorgestellt und diskutiert werden. Wir in Rojava sind die ersten, die die Ideen und Konzepte von Abdullah Öcalan in die Tat umgesetzt haben. In Rojava wird die demokratische Autonomie und Selbstverwaltung gelebt. Ich wünsche mir natürlich, daß die Besucher der Konferenz ein besseres Verständnis davon bekommen, was in den Kommunen in Rojava passiert. Für uns ist das eine große Herausforderung.

Auch in Nordkurdistan, also in der Südosttürkei, wird versucht, die demokratische Autonomie in der Gesellschaft zu verankern, aber dort hat man noch mit anderen Problemen zu kämpfen, so daß eine Umsetzung im Augenblick nicht möglich ist. Deswegen ist es mir besonders wichtig, den Besuchern hier nahezubringen, daß das, was wir hier auf der Konferenz schildern, bereits gelebt wird.

SB: Herr Ebdi, vielen Dank für das Gespräch.


Dolmetscher und Interviewpartner - Foto: © 2015 by Schattenblick

Yilmaz Kaba übersetzt für Mustefa Ebdi aus dem Kurdischen
Foto: © 2015 by Schattenblick


Beiträge zur Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern II" im Schattenblick unter
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4. Mai 2015


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