Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REPORT

INTERVIEW/248: Gälisch kämpfen für die Schwachen ...    Treasa Ní Cheannabháin im Gespräch (SB)


Gaza zwischen den Mühlsteinen Ägypten und Israel

Interview mit Treasa Ní Cheannabháin am 8. Januar 2015 in Bearna



Die 1953 geborene Treasa Ní Cheannabháin gehört in Irland zu den führenden Vertreterinnen des traditionellen Sean-nós-Gesangs. Durch ihr unermüdliches Engagement hat sie sich zudem auf der grünen Insel einen Ruf als Vorkämpferin für die Palästinenser erworben. Frau Ní Cheannabháin, die Mutter dreier erwachsener Töchter ist, lebt mit ihrem Ehemann, dem ägyptischen Arzt Saber Elsafty, in dem westlich der Stadt Galway gelegenen Örtchen Bearna, in dem heute noch Gälisch die vorherrschende Sprache ist. Dort kam es am 8. Januar zum folgenden Interview.

Treasa Ní Cheannabháin zu Hause im Sessel in der Nahaufnahme - Foto: © 2015 by Schattenblick

Treasa Ní Cheannabháin
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick: Bitte erzählen Sie uns etwas über ihre Sozialisation, wie Sie ihren Mann kennengelernt und und ob Sie sich vorher für die Politik im allgemeinen und die des Nahen Ostens im besonderen interessiert haben.

TNC: Ich bin in Carna in Connemara, dem Teil der Grafschaft Galway geboren und aufgewachsen, in dem die gälische Sprache noch gesprochen wird. Heute lebe ich in Bearna, was weit näher an der Stadt Galway liegt, dennoch auch zur sogenannten Gaeltacht gehört. Ich habe als Jugendliche die sechziger Jahre erlebt, die auf der ganzen Welt große Umwälzungen mit sich brachten. Im Norden Irlands ist die Bewegung für Gleichberechtigung der Katholiken auf erbitterte Gegenwehr der protestantischen Herrschaft der Unionisten gestoßen, was schließlich den Bürgerkrieg auslöste. Damals verfolgte ich wie alle anderen in Irland die Ereignisse im Norden der Insel mit großem Interesse.

Relativ früh habe ich erkannt, daß es für mich und meinesgleichen in Connemara, einem infrastrukturell und wirtschaftlich vernachlässigten Teil Irlands, praktisch keine Perspektive gab, sobald wir die Schule verließen. Arbeitsplätze waren Mangelware. Die Auswanderung nach England oder in die USA war seit Generationen für viele die einzige Chance, ein halbwegs menschenwürdiges Leben zu führen. Damals hat Seosamh Ó Cuaig, der als Journalist für die irischsprachige Zeitung Inniu in Westport schrieb, die Armut und die Perspektivlosigkeit im Westen Irlands thematisiert. 1969 haben er und andere die Coiste Cearta Sibhialta na Gaeilge (Bürgerrechtskomitee für die gälische Sprache) gegründet, bei der ich mich engagierte. Den meist jungen Anhängern der CCSG ging es darum, gegen die Benachteiligung der gälischsprachigen Gebiete an der Atlantikküste durch die Zentralregierung in Dublin zu protestieren sowie mehr Investitionen und mehr Selbstverwaltung einzufordern.

1970 kam es zu einem großen Arbeitskampf in der irischen Zementindustrie, der über viele Monate ging. Bis dahin hatte ich von Gewerkschaften, Streiks, Tarifverhandlungen et cetera keine Ahnung. Jedenfalls haben der Arbeitgeberverband und die Bauindustrie versucht, die Streikenden in die Knie zu zwingen, indem sie Beton aus Nordirland per Lastwagen oder aus Großbritannien per Schiff importierten. Solche Bemühungen haben die streikenden Arbeiter von der Zementindustrie und ihre Genossen in den anderen Gewerkschaften, allen voran die Löscharbeiter in den großen Häfen wie Dublin, Cork, Galway, Drogheda oder Waterford durch Sabotage- und Blockadeaktionen ihrerseits zu verhindern versucht. Irgendwann im Sommer 1970 haben wir im entlegenen Carna erfahren, daß ein mit Beton beladenes Schiff in Kürze in unserem kleinen Hafen Cill Chiaráin erwartet wurde. Der wurde hauptsächlich von Fischern, aber auch für den Export von Seetang benutzt. Jeden Monat lief ein Schiff dort ein, um rund 400 Tonnen gemahlenen Seetang zu laden. Bis heute ist das Ernten von Seetang für viele Familien eine wichtige Einnahmequelle.

An dem Tag, an dem das Schiff mit dem Beton bei uns einlief, ist in mir das Feuer der Gerechtigkeit entflammt, denn ich habe erkannt, daß der Kampf um Menschenrechte unverbrüchlich mit der sozialen Frage verbunden ist. Wir, die Jugendlichen und sozial Engagierten von Carna und Cill Chiaráin, haben eine Menschenkette gebildet und somit die Lastwagen, die den Beton in Empfang nehmen sollten, daran gehindert, den Kai zu erreichen. Die Fahrer und die Schiffsbesatzung waren mächtig sauer. Aber was soll's. Es war ein mieser Trick seitens der hiesigen Unternehmen, den landesweiten Streik der Beschäftigten der Zementindustrie schwächen zu wollen. Das durfte unter keinen Umständen gelingen und ist es am Ende auch nicht.

Danach ging es mit dem Kampf um die Gleichstellung für die gälische Sprache um so energischer weiter. Wir haben Behörden besetzt, die englischen Namen auf den Straßenschildern übergepinselt und vieles mehr gemacht. Ich habe mich als eine der wenigen Frauen bei der CCSG, die von Männern dominiert war, engagiert. Tatsächlich bin ich die einzige Frau gewesen, die 1974 am 50 Kilometer weiten Marsch von Carna bis Bearna teilgenommen hat, um gegen den katastrophalen Zustand der Straßen bei uns zu protestieren. Damals hatte ich keinen Führerschein, aber ich kann mich erinnern, daß man bei Fahrten mit dem Auto oder mit dem Bus in Connemara wegen der vielen Schlaglöcher nicht ruhig sitzen konnte.

Wir hatten viele Ziele, von denen das wichtigste die Schaffung einer eigenen Selbstverwaltung oder Lokalbehörde gewesen ist. Man darf nicht vergessen, daß die Gaeltacht in Connemara von der Fläche her so groß ist wie die Grafschaft Leitrim (in Irland bilden nach der Zentralregierung in Dublin die Grafschaften die nächsttiefere Verwaltungsebene - Anm. d. SB-Red.). Wir dachten, daß man nach der Einführung einer eigenen Autonomie nicht mehr nach Galway-Stadt fahren müßte, um die Genehmigung zum Bau eines Wohnhauses zu beantragen oder die Kraftfahrzeugsteuer zu bezahlen und ähnliches. Durch eine Autonomie hofften wir zudem, bei uns neue Betriebe zu schaffen bzw. zur Ansiedlung zu veranlassen, ähnlich wie es die Industrial Development Authority (IDA) im restlichen Irland tut.

Schon damals gab es die staatliche Institution Gaeltarra Éireann, die seit 1957 die wirtschaftliche Entwicklung in den Gaeltacht-Gebieten fördern und Arbeitsplätze schaffen sollte. Gaeltarra war eine Wortneuschöpfung, die aus der Verbindung zwischen Gael- für Gälisch bzw. aus der Gaeltacht stammend und earra, dem irischen Wort für Ware, entstanden ist. Darüber hinaus forderten wir die Gründung eines gälischsprachigen Radio- und Fernsehsenders.

Als Gaeltarra Éireann 1980 durch Údarás na Gaeltachta ("die Behörde für die Gaeltacht") ersetzt wurde, dachte ich mir, die CCSG hätte das Hauptziel endlich erreicht. Kurz danach habe ich meinen Mann in Kopenhagen kennengelernt, und wir haben uns in der Grafschaft Mayo, die nördlich von Galway ebenfalls an der Atlantikküste liegt, niedergelassen. Wegen meiner Arbeit als Lehrerin und meiner Rolle später als Mutter habe ich die Entwicklung in der Gaeltacht etwas aus den Augen verloren. Später habe ich erfahren, daß ‚darás na Gaeltachta kaum etwas anderes als die alte Gaeltarra Éireann im neuen Gewand war. Sie war keine Regionalverwaltung aller Gaeltacht-Gebiete - in Galway, Mayo, Donegal, Cork, Kerry, Waterford und Meath -, sondern diente lediglich der Industrieansiedlung. Sie war zudem finanziell nicht besonders gut ausgestattet und hatte im Geflecht der staatlichen Behörden wenig Macht. Aber immerhin besaß sie einen Vorstand, dessen Mitglieder von den Menschen in der Gaeltacht direkt gewählt wurden. 1989 wurde zum Beispiel der bereits erwähnte Seosamh Ó Cuaig Vorstandsmitglied von Údarás na Gaeltachta.

Einstöckiges Bauernhaus mit Reetdach und weißgekalkter Außenwand - Foto: © 2015 by Schattenblick

Ein für Connamara typisches Bauernhaus älteren Stils
Foto: © 2015 by Schattenblick

Rückblickend denke ich schon, daß die CCSG einiges erreicht hat. Ohne sie hätte der Staat vermutlich nicht 1972 Raidió na Gaeltachta und 1996 den gälischen Fernsehsender TG4 ins Leben gerufen. Zu Ostern 1970 hatte der Piratensender Saor Raidió Chonamara seinen Betrieb aufgenommen. Wir fanden das alle wahnsinnig aufregend. Endlich hatten wir unseren eigenen Sender mit Volksmusik und Nachrichten aus der Region - und das alles auf Gälisch. Wie der Zufall so will, befaßte sich einer der ersten Berichte von Saor Raidió Chonamara mit der Geschichte der blockierten Entladung des Schiffes mit dem Beton in Cill Chiaráin. Der durchgehende Erfolg von Saor Raidió Chonamara einschließlich der Tatsache, daß die Polizei trotz größter Mühe den Betreibern nicht auf die Schliche kommen konnte, hat den Beweis geliefert, daß es ein Publikum für einen gälischsprachigen Sender gab. Dies hat die Skeptiker dann zum Verstummen gebracht. Anfangs sendete Raidió na Gaeltachta nur wenige Stunden am Abend. Inzwischen sendet es rund um die Uhr, ist digital im Internet als Livestream zu hören und hat eine eigene Mediathek mit Podcasts, die man herunterladen kann. TG4, das wegen der hohen Qualität seiner Programme von den Kritikern seit Jahren hoch gelobt wird, kann man ebenfalls nicht nur terrestrisch und über Kabel in Irland empfangen, sondern sich auch weltweit online ansehen. Zusammenfassend kann man sagen, daß meine Politisierung durch die Beteiligung am Kampf für die gälischsprechende Bevölkerung Irlands um ihre Rechte erfolgt ist.

SB: Sie waren auch Teil der "Gluaiseacht" (Bewegung).

TNC: Wohl wahr, wenn auch nur ein kleiner. (lacht) Jedenfalls kam eines Tages im Herbst 1982 mein Ehemann - wir waren inzwischen verheiratet und lebten in Castlebar in Mayo - von der Arbeit weinend nach Hause. Er hielt eine Zeitung in der Hand. Ich war ziemlich erschrocken, denn ich hatte ihn bis dahin niemals weinen gesehen. Als ich ihn fragte, was los war, zeigte er mir die schrecklichen Bilder in der Zeitung, deren Anblick ihn ins Mark erschüttert hatte. Es waren die ersten Fotos des Massakers von Sabra und Schatila. Er erzählte mir, die christlichen Milizen des Libanons hätten mit Hilfe der Israelis in Beirut ein grausames Blutbad angerichtet. Bei dem berüchtigten Überfall auf die beiden Flüchtlingslager waren Tausende Menschen ums Leben gekommen, der größte Teil davon Kinder, Frauen und Senioren, denn zuvor waren die palästinensischen Kämpfer gegen die Sicherheitsgarantie von US-Präsident Ronald Reagan für ihre Familien nach Ende der Belagerung von Beirut ins ausländische Exil gegangen. Ab diesem Tag fing ich ernsthaft an, mich für das Schicksal der Palästinenser zu interessieren.

Bis dahin wußte ich nur Oberflächliches von der Israel-Palästina-Problematik. Natürlich hatte ich von Jassir Arafat und der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) gehört. Aber in den siebziger Jahren hatten die Palästinenser wegen der vielen Flugzeugentführungen sowie des Überfalls auf das israelische Mannschaftsquartier bei der Olympiade 1972 in München in den Medien einen schweren Stand. Nach dem Sechstagekrieg galten die Israelis in der allgemeinen Wahrnehmung als mutiges und progressives Völkchen, das die zahlenmäßig überlegenen Armeen der arabischen Autokratien besiegt hatte. Ich erinnere mich, wie der Schriftsteller und Publizist Desmond Fennell, der Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre eine Führungsrolle bei der "Gluaiseacht" innehatte, vom Erfolg der Israelis, Hebräisch wiederzubeleben, schwärmte. Er trat damals dafür ein, ähnlich dem israelischen Modell die Gaeltacht zu einem autonomen Gebiet zu erklären, in dem nur Gälisch gesprochen wird und in dem sich jeder, der des Gälischen mächtig war, egal, woher er kam, niederlassen kann. Er hat mir sogar empfohlen, eine Zeit in einem Kibbuz zu verbringen. Damals war ich eine Bewunderin Israels.

SB: Zu der Zeit galt das für viele Menschen.

TNC: Der Einmarsch der Streitkräfte Israels 1982 in den Libanon, die Belagerung von Beirut und das grausame Massaker von Sabra und Schatila haben meine Betrachtungsweise des israelisch-palästinensischen Konfliktes nachhaltig verändert. Noch vor Ende desselben Jahres sind mein Mann und ich der Organisation Medical Aid for Palestinians (MAP) beigetreten, die von der britischen Ärztin Swee Chai Ang, die den Massenmord in Beirut zum Teil miterlebt hatte, gegründet wurde. Unser Kontakt zu der Gruppe entstand über die irische Ärztin Philomena McKenna, die ebenfalls in jenem Sommer in den palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon humanitäre Hilfe geleistet hatte. Sie lebt heute in Galway und ist mit einem Palästinenser verheiratet, den sie damals im Südlibanon kennengelernt hatte. Wir haben der MAP regelmäßig Geld gespendet, dafür deren Kaffeebecher und T-Shirts erhalten und diese wiederum verkauft, um weitere Spendengelder einzutreiben.

Ein wichtiger Meilenstein aus meiner Sicht war die Zweite Intifada, die im September 2000 durch den provokanten Besuch des damaligen israelischen Premierministers Ariel Scharon auf dem Jerusalemer Tempelberg ausgelöst wurde. Damals waren unsere Töchter fast erwachsen, und ich hatte wieder mehr Zeit, mich in politischen Angelegenheiten zu engagieren. Gegen den drohenden Krieg der USA und Großbritanniens gegen den Irak habe ich 2002 und 2003 mit meiner Familie und politischen Freunden protestiert, an Demonstrationen teilgenommen et cetera. Bereits damals war klar, daß der Einmarsch in den Irak und der gewaltsame Sturz Saddam Husseins die ganze Region in Brand setzen würden. Inzwischen war ich Mitglied der Galway Alliance Against War (GAAW) geworden, die Teil der irischen Friedensbewegung ist.

SB: Wann genau fingen Sie an, sich für die Palästinenser stark zu machen?

TNC: Das geschah 2001. Der Komponist Raymond Deane, der wenige Monate zuvor mit Freunden in Dublin die Ireland Palestine Solidarity Campaign (IPSC) ins Leben gerufen hatte, hielt einen Vortrag über den Nahost-Konflikt im Atlanta Hotel in Galway. Ich weiß nicht mehr, wie wir davon erfahren hatten. Jedenfalls waren wir da, und nach dem Vortrag sprach ich mit Raymond und fragte ihn, ob man nicht etwas für die palästinensischen Kinder tun könnte, zum Beispiel sie zum Ferienaufenthalt nach Irland zu bringen. Er fand das eine gute Idee, und aus diesem Gespräch heraus haben einige Interessierte, darunter ich und mein Mann sowie Adrian Parks, Tom Lonergan, Richard Kimball und Martin Gleeson als auch die Galwayer Ortsgruppe der Ireland Palestine Solidarity Campaign, den Galway Palestine Childrens Appeal gegründet.

Im Vorfeld der Expo 2000 in Hannover hat meine Tochter Róisín, nachdem sie ihr Medizinstudium an der Universität erfolgreich absolviert hatte, den bekannten Volksmusiker Dónal Lunny kennengelernt. Dieser sollte im Rahmen des irischen Beitrags das eine oder andere Musikstück komponieren. Ihm waren einige CDs als Ideenanreger zugeschickt worden, darunter auch die von Róisín. Dadurch lernten sie sich kennen.

Niall Farrell von der Galway Alliance Against War (GAAW) hatte angeregt, wir sollten unser eigenes Lied haben, um uns vor Beginn eines jeden Protestmarsches einzustimmen. Ich habe bei Demonstrationen gegen den Irakkrieg häufig ein oder mehrere Lieder gesungen, um die Stimmung zu heben. Das Lied stand fast immer in der Sean-Nós-Tradition, denn nebenbei wollte ich auch Werbung für das Gälische machen. Jedenfalls fiel mir eines Abends auf der Heimfahrt nach einer Protestaktion auf, daß es keine richtigen Antikriegslieder in gälischer Sprache gab. Doch nicht nur das; es gab praktisch keine Antikriegslieder auf Englisch, die sich mit der Lage der Palästinenser befaßten. Also kam ich zu der Überzeugung, daß wir ein Lied über Palästina brauchten.

Ich würde mich niemals als Komponistin bezeichnen, bestenfalls als Interpretin. Dessen ungeachtet ist eines Abends beim Abwasch, als ich nebenbei über die Palästinenser-Problematik nachdachte und darüber, wie ich es musikalisch ausdrücken könnte, das Lied in fünf Versen einfach aus mir herausgeströmt. Ich taufte es "An Phailistín", gab es Róisín und bat sie, es Dónal Lunny vorzuspielen, der ohnehin demnächst zusammen mit Sharon Shannon in Galway ein Konzert zugunsten unseres Hilfswerkes für die palästinensischen Kinder geben wollte. Daraus ist das erste Konzert geworden, das wir zugunsten Palästinas veranstaltet haben. Ich hatte früher eigene Konzerte gegeben, um Spendengelder einzutreiben für Coláiste na Coiribe, die erste Oberschule nicht nur in Galway, sondern in ganz Irland, in der der Unterricht ausschließlich auf Gälisch erfolgt und die 1992 gegründet wurde.

Nun war das Problem, daß die Melodie bzw. die Musik einem anderen Musiker, Seán Monaghan, gehörte. Ich fragte Seán, ob ich es für An Phailistín benutzen könnte. Sein Lied hieß "Mo Vailintín" ("My Valentine"). So gesehen paßte die Musik zum Refrain für mein "An Phailistín" sehr gut. Als wir dann in Galway das Konzert für Palästina machten, verliebten sich Dónal Lunny und Sharon Shannon beide in das Stück. Sharon wollte es sogar auf ihrem neuen Album haben, das kurz darauf aufgenommen wurde. Aber Seán Monaghan hat dagegen sein Veto eingelegt, und das mit gutem Recht, denn zu dem Zeitpunkt hatte er seine ursprüngliche Version des Stückes selbst noch nicht veröffentlicht. Im Nachhinein bin ich froh darüber, daß sich Seán so entschieden hat, denn dadurch waren ich, Róisín, Dónal Lunny und Sharon Shannon gezwungen, uns schnell eine neue Musik für den Text auszudenken. Das haben wir in weniger als achtzehn Stunden geschafft, da wir bereits bei der Studioproduktion waren, als wir erfuhren, daß wir die Melodie von Seán Monaghan nicht benutzen konnten.

Der Rest ist Geschichte. Obwohl das Stück 2003 auf Sharon Shannons Album "Libertango" erschienen ist, durfte ich es als Singleauskopplung unter meinem Namen veröffentlichen. Freundlicherweise sagte mir Sharons Manager, John Dunford, ich könnte damit machen, was ich wollte. Wir haben die CD für fünf Euro auf den Markt gebracht. Da die Einnahmen ausdrücklich zur Linderung des Leids der Menschen in Palästina verwendet werden sollten, haben viele, die die CD gekauft haben, noch zusätzlich fünf oder mehr Euro gespendet. Insgesamt haben wir durch den Verkauf der CDs mehr als 10.000 Euro eingefahren.

Im Rahmen unserer damaligen Antikriegsaktionen in Galway haben wir in der Öffentlichkeit sehr viel zur Aufklärung der Situation in den Lagern der Palästinenser beitragen können. Das ist wichtig, denn die pro-israelische Lobby ist in westlichen Medien sehr stark und sehr aktiv. Was Informationen und Erkenntnisse betrifft, bin ich schon lange nicht mehr nur auf europäische oder amerikanische Medien angewiesen. Früher hörte mein Mann Kurzwellenradio aus der Nahost-Region und erzählte mir, was dort berichtet wurde. Seit wir Satellitenfernsehen haben, können wir bei uns zu Hause alle arabischen Sender empfangen und erweitern damit unseren Überblick über die Geschehnisse.

Wegen meiner guten Kenntnisse habe ich auf dem Höhepunkt des Krieges im Irak - vom Einmarsch im März 2003 bis zur berühmten Verkündung von "Mission Accomplished" durch George W. Bush auf dem Deck eines Flugzeugträgers im Juni - täglich zehn- bis zwanzigminütige Interviews bei Raidió na Gaeltachta gegeben. Die waren so aufschlußreich, daß manche Hörer glaubten, ich würde aus dem Herzen Bagdads berichten. Ein Mann rief beim Sender an, um sich zu bedanken, und erzählte, er fahre morgens nicht zur Arbeit, ehe er mein Interview zum Thema Nahost in der Nachrichtensendung gehört habe. Zu meinen Quellen gehörten damals unter anderem Al Jazeera, der libanesische, der Hisb-allah nahestehende Fernsehsender Al-Manar und die verschiedenen palästinensischen Medien. Über sie hat man eine ganz andere Sicht auf den Irakkrieg als aus den englischsprachigen Medien, deren Korrespondenten vor Ort fast alle bei den anglo-amerikanischen Invasionstruppen "eingebettet" waren.

Die schreckliche Ermordung der Zeichner und Redakteure der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo gestern in Paris hat mich an den Raketenangriff der US-Luftwaffe auf das Al-Jazeera-Büro in Bagdad bei der Einnahme der irakischen Hauptstadt erinnert. Als Familie hatten wir über Wochen die Berichte Tariq Ayyoubs aus Bagdad verfolgt. In meinem geistigen Auge kann ich ihn immer noch sehen, wie er nachts, mit der Bagdader Skyline im Hintergrund, auf dem Dach des Al-Jazeera-Büros steht und mit Helm und Schutzweste live über die US-Luftangriffe berichtet. An dem Tag, an dem er starb, beschoß ein Panzer der US-Armee das Hotel Palestine, das als Medienzentrum bekannt war, und tötete zwei Journalisten, den Ukrainer Taras Protsyuk von Reuters und José Couso vom spanischen Sender Telecinco. Damals galt aus Sicht des Pentagons Al Jazeera als feindlicher Sender, und alle nicht-eingebetteten Journalisten waren suspekt.

SB: Haben Sie seit der Hochzeit mit ihrem Mann nur in Irland gelebt oder vielleicht einige Jahre in Ägypten verbracht?

TNC: Wir sind die ganze Zeit hier gewesen. Die Kinder haben als Jugendliche jeweils ein Jahr in Ägypten bei den Verwandten meines Mannes, der aus einer Ortschaft in der Nähe von Alexandria kommt, verbracht.

SB: Von daher sind die familiären Verbindungen nach Ägypten recht stark?

TNC: Das kann man ohne weiteres so sagen. Wir haben eine kleine Ferienwohnung in Alexandria, die wir für unsere regelmäßigen Besuche benutzen. Die meisten unserer Verwandten leben in Alexandria, andere wiederum in Kairo.

SB: Vor einigen Jahren haben Sie für Schlagzeilen in irischen und britischen Medien gesorgt, als Sie in Gaza eingeschlossen wurden. [1] Wie hat sich dieser sonderbare Vorfall zugetragen?

TNC: Ich habe vorhin die rund 10.000 Euro, die wir durch den Verkauf der CD "Mo Phailistín einnahmen", erwähnt. Davon haben wir relativ bald 3000 Euro Waisenheimen in Gaza zukommen lassen können. 2006 waren ich, Richard Kimball und Patricia Celia in Palästina, sowohl im Westjordanland als auch im Gazastreifen.

SB: Sind Sie über Ägypten eingereist?

TNC: Nein, wir reisten über Israel ein. Unsere erste Station war der Flughafen von Tel Aviv, wo man uns dreckig behandelt hat. Nach der Erfahrung dort sowie an den Grenzübergängen zwischen Israel und den besetzten Gebieten habe ich zum ersten Mal nachvollziehen können, was die Palästinenser alles durchmachen müssen, wenn sie irgendwohin reisen wollen. Wir kamen am Flughafen von Tel Aviv mit einer Maschine aus London so gegen vier Uhr morgens an. Richard Kimball, der US-Staatsbürger ist, leitete unsere kleine Gruppe. Bei der Paßkontrolle lief zunächst alles glatt. Die Beamten, die Englisch sprachen, sahen den US-Reisepaß, hörten Richards amerikanischen Akzent und begegneten ihm mit recht freundlicher Höflichkeit. Er legte auch die irischen Pässe von mir und Patricia vor, ohne daß es das geringste Problem gab. Wir waren mit den Formalitäten praktisch durch, als die Beamten uns fragten, wo wir in Israel übernachten wollten. Als wir antworteten, wir wollten bei der Assali-Familie in der Altstadt von Ostjerusalem absteigen, veränderten sich Verhalten und Mimik der israelischen Grenzbeamten schlagartig - und zwar negativ.

SB: Waren Ihre Gastgeber den israelischen Behörden bekannt?

TNC: Nein. Das sind unbedeutende Leute, keine Prominenten. Es war allein der arabische Name, der die Reaktion bei den Beamten auslöste. Sie sahen schockiert aus. "Warum wollen Sie dahin?", fragten sie uns staunend. Wir sagten, das seien Freunde von uns. Daraufhin wurden wir zu einem Zimmer am anderen Ende des Terminals geschickt, wo wir erst einmal warten sollten. Es gab keine Erklärung, warum wir die Grenzkontrolle nicht passieren durften. Wir saßen fünf Stunden dort. Wir mußten eine Leibesvisitation über uns ergehen lassen und durften nicht ohne Begleitung auf Toilette. Unser ganzes Gepäck wurde ausgepackt und penibel durchsucht. Selbst unsere Zahnpaste und die Schokoladen, die wir als Geschenke mitgebracht hatten, wurden darauf überprüft, ob sie Sprengstoff enthielten! In meiner Reisetasche haben sie eine kleine Batterie und einen kleinen Schraubenzieher, den ich benutzte, um die Schrauben meiner Brille gelegentlich wieder festzuziehen, gefunden und so getan, als hätten sie Material zum Bombenbau sichergestellt. Gegen halb zehn haben sie uns ins Land gelassen, nicht ohne uns vorher eine deutliche Warnung mit auf den Weg zu geben.

Straßensperren aus Beton und Wachtürme am Eingang der israelischen Grenzanlage Erez - Foto: Zero000, freigegeben via Wikimedia Commons

Grenzübergang Erez zwischen Südisrael und dem nördlichen Gazastreifen
Foto: Zero0000, freigegeben via Wikimedia Commons

Wir hatten vorher über die irische Botschaft einen Antrag zur Einreise nach Gaza gestellt, waren also in der Lage, nicht nur die Westbank, sondern auch den südlichen Teil des besetzten palästinensischen Gebietes zu besuchen. Dort sind meine Augen so richtig aufgegangen, was die Lage der Menschen dort betrifft. Im Westjordanland, wo wir zuerst waren, haben die Palästinenser eine gewisse Mobilität. Immerhin können sie in Städte wie Ramallah fahren oder Verwandte im nächsten Dorf besuchen. Sie können im gewissen Sinne Ausflüge machen. Die Situation in Gaza war dagegen nicht nur eng, sondern auch katastrophal - und das schon vor der Abriegelung von der Außenwelt 2007 durch Israel und Ägypten, dem fürchterlichen Blutvergießen und den Verwüstungen durch die Operation Gegossenes Blei zur Jahreswende 2008/2009 und Protective Edge im Juli und August vergangenen Jahres. Was ich an Leid in den Krankenhäusern von Gaza und an Armut in dem gesamten Landstrich, nicht nur in den Flüchtlingslagern, gesehen habe, werde ich niemals vergessen. Die Kinder liefen ohne Socken oder Schuhe einfach in Flipflops herum, obwohl es noch März und recht kalt war.

Als wir wieder in Irland waren, sagte ich meinen Mitstreitern in der Galway Ortsgruppe der Ireland Palestine Solidarity Campaign, wir sollten unsere Energie auf Gaza konzentrieren und den anderen Hilfsorganisationen das Westjordanland überlassen. Schließlich ging und geht es bis heute den Menschen auf der Westbank vergleichsweise gut. Immerhin können sie, wenn auch mit Schwierigkeiten verbunden, Reisen ins Ausland machen. Auch wirtschaftlich steht das von der Fatah verwaltete Westjordanland viel besser da als der durch Abriegelung und Boykott bestrafte, von der Hamas regierte Gazastreifen. Uns hatte auch das Schicksal der beiden Aktivisten der International Solidarity Campaign (ISC), Rachel Corrie aus den USA und Tom Hurndall aus England, die beide von den israelischen Streitkräften 2003 in Gaza getötet worden waren, nicht losgelassen. Wir wußten seitdem, daß auch ausländische Aktivisten nicht verschont wurden.

Nach der Rückkehr aus dem Heiligen Land hatte ich die Idee, Kinder aus Gaza zu Ferienzwecken nach Irland zu holen, ähnlich wie einige irische Hilfsorganisationen das seit Jahren mit ukrainischen und weißrussischen Kindern aus der Region um den Unglücksreaktor Tschernobyl machen. Auf diesem Weg wollten wir einigen wenigen Kindern die Gelegenheit geben, mindestens einmal diesem Gefängnis zu entkommen und entspannte Tage in einem schönen, kriegsfreien Teil der Welt zu verbringen. Ich wußte, daß die Menschen in Gaza inzwischen auch von Ägypten abgeschnitten waren, also habe ich meinen Freunden und meinem Mann halb im Scherz gesagt, "Sollte diese Mauer da irgendwann einmal fallen, werde ich die erste sein, die von Ägypten nach Gaza einreist".

Ende Januar 2008 ist dieser Fall eingetreten. Mein Mann war zum Mittag nach Hause gekommen und hatte, wie üblich, als erstes die Fernsehnachrichten um 13.00 Uhr eingeschaltet. Topthema auf allen Kanälen war der Einsturz der Mauer zwischen dem südlichen Gazastreifen und Ägypten in der Nähe von Rafah. Durch monatelange Wühlarbeit hatten Hamas-Mitglieder das Fundament der vom ägyptischen Militär errichteten Stahlmauer geschwächt. In der Nacht vom 22. auf den 23. Januar haben sie die Mauer dann mit Sprengstoff zum Einsturz gebracht. Hunderttausende Palästinenser strömten nach Ägypten, um sich mit Waren des täglichen Lebens einzudecken. Wir saßen eine Weile sprachlos da und schauten uns die erstaunliche Live-Berichterstattung von der BBC und Al Jazeera an. Nach einer Weile sagte mein Mann zu mir, "Deine Chance ist gekommen - jetzt oder nie". Wir wußten beide, daß wir schnell handeln mußten, denn es würde nicht lange dauern, bis Hosni Mubaraks Leute die Mauer wieder errichteten.

Ursprünglich wollten ich und mein Mann allein dahin, aber meine Tochter Naisrin, die Medizin studierte, Semesterferien von der Universität hatte und damals 17 Jahre alt war, machte Terz und insistierte darauf, daß sie mich begleiten wollte. Sie könne Arabisch genauso gut sprechen wie ihr Vater, war ihr Hauptargument. Jedenfalls haben wir am selben Nachmittag die Flugkarten - Dublin-London, London-Kairo - online gebucht. Saber sollte zuhause bleiben und die Stellung halten.

In Kairo wurden wir von meiner Nichte empfangen. Zu dritt nahmen wir ein Taxi und fuhren nach Al-Arisch, der Hauptstadt des Gouvernements Nordsinai, die unweit des südlichen Gazastreifens liegt. Die Fahrt von rund 330 Kilometer kostete uns etwa 200 Euro, wenn ich mich richtig erinnere, und dauerte rund fünf Stunden. Al-Arisch liegt rund 50 Kilometer vom Gazastreifen und dem Grenzübergang Rafah entfernt. Eigentlich wollten wir bis Rafah durchfahren, wurden aber in Al-Arisch an einem Kontrollpunkt aufgehalten. Was wir nicht wußten, auch meine Nichte nicht, war, daß die regulären ägyptischen Taxis nur bis Al-Arisch fahren durften. Wer von dort nach Rafah wollte, mußte in Al-Arisch ein spezielles Taxis nehmen. Jedenfalls fielen wir, zwei Europäerinnen und eine Ägypterin, die mit einem Taxi aus Kairo nach Rafah wollten, an der Straßenkontrolle des Militärs voll auf.

SB: Und Sie hatten das Geld des Galway Palestinian Children's Fund, das Sie verteilen wollten, dabei?

TNC: Die ganzen 7500 Euro in meiner Handtasche fest unterm Arm. (lacht) Der Kommandeur vor Ort bat uns in sein Büro. Dort angekommen, nahm er ein Päckchen Zigaretten und warf es auf den Tisch. "Sehen Sie diese Zigaretten?" fragte er rhetorisch. "Sie kosten hier in Al-Arisch seit dem Fall der Mauer vor drei Tagen zehnmal soviel wie normal!" Al-Arisch, das nur etwas mehr als 100.000 Einwohner hat, war vom Andrang der Palästinenser überfordert. Da sie nicht weiter nach Ägypten hineingelassen wurden, kauften Sie dort alles auf, was es gab. Entsprechend waren die Preise vom einem Tag auf den nächsten explodiert. Die ägyptischen Händler, die sich natürlich niemals eine solche Gelegenheit entgehen lassen, machten den dicken Reibach. Insgesamt waren die Verhältnisse in Al-Arisch ziemlich schlecht. Die Stadt war übervölkert und alle waren verdreckt, weil das Wetter zu dem Zeitpunkt kalt und regnerisch war. Der Kommandeur ließ uns nach einer kurzen Unterredung gehen, warnte uns aber davor, zu versuchen, nach Gaza zu gehen, weil die Lage in der Grenzregion unüberschaubar und gefährlich sei.

Ich war immer noch wild entschlossen, Gaza zu erreichen, also checkten wir erst einmal in ein kleines Hotel, das Swiss Hotel, in Al-Arisch ein, weil wir gehört hatten, daß dort die internationale Presse untergekommen war. Es stimmte auch. Wir trafen dort unter anderem die Reporter von der BBC und Al Jazeera. Alle Pressevertreter hatten am ersten Tag nach dem Mauerfall von der Grenze bzw. von der anderen Seite in Gaza berichtet, waren aber von den ägyptischen Behörden vertrieben worden. Sie warteten in Al-Arisch auf die nächste Chance, wieder dorthin zu fahren. Ich hatte meine Kontakte in Gaza gemacht und stand bereits telefonisch mit einem davon, Mohammed Ijad, in Verbindung. Mohammed hat mir während der ganzen Zeit viel geholfen.

Im Hotel war das Personal an der Rezeption unheimlich hilfsbereit. Ich habe es die erste Zeit nicht kapiert, bis meine Nichte mir steckte, daß das alles Informationszuträger des ägyptischen Geheimdienstes waren. Zudem lungerten stets drei Mitarbeiter des Geheimdienstes oder der Sicherheitspolizei, ich weiß nicht welche, vor dem Hotel oder in der Lobby herum. Hatte ich am ersten Tag jedem, der es hören wollte, erzählt, daß wir nach Gaza wollten, so habe ich es danach gelassen. Als wir immer wieder vom Hotelpersonal oder sonst jemanden gefragt wurden, wie unsere Pläne aussehen würden, sagten wir, wir hielten eine Reise nach Gaza für keine gute Idee mehr und wollten statt dessen zum Badeort Scharm El-Scheich im Süden des Sinai.

Beim Telefongespräch sagte mir Mohammed in Gaza, er habe einen Neffen, der in Kairo studiere und zu diesem Zeitpunkt ebenfalls in Al-Arisch festsaß. Ich fragte Mohammed, ob er für uns in Gaza ein Taxi arrangieren könnte, um uns abzuholen, da wir keinen der Taxifahrer in Al-Arisch trauten, und er sicherte mir zu, dies zu tun. Um den Ausbruch zu begünstigen, bat ich Mohammed darum, seinen Neffen damit zu beauftragen, in ein Geschäft für Frauenkleider zu gehen und uns eine Niqab, einen Gesichtsschleier, zu besorgen. Als er dann zu uns ins Hotel kam, hatte er alles dabei. Wir haben uns entsprechend gekleidet, und als dann das Taxi aus Gaza unten vor der Tür stand, sind wir schnell hineingesprungen und davongefahren. Den Leuten vom ägyptischen Geheimdienst im Hotel war unsere plötzliche Abreise nicht entgangen. Sie gerieten in hektische Aufregung. Wegen der nicht auszuschließenden Möglichkeit, daß wir verfolgt wurden, hat unser Taxifahrer nach wenigen Minuten die Hauptstraße von Al-Arisch nach Rafah verlassen, um uns über irgendwelche Feldwege nach Gaza zu bringen.

Interessant war, daß auf diesen weniger bekannten Routen ganze Konvois von Lastwagen voller Güter, unter anderem Lebensmittel, auf dem Weg nach Gaza waren. Bei der Fahrt nach Gaza sind wir einmal von bewaffneten Männern aufgehalten und kontrolliert worden. Ich wußte nicht, was passieren würde. Es waren einfach Wegelagerer, die den Andrang nach Gaza benutzen, um sich etwas Geld zu verdienen. Ein Glück für uns, daß unser Taxifahrer die Beduinensprache beherrschte und alles mit ihnen regeln konnte. Während der Unterredung flüsterte mir meine Nichte zu, sie könne praktisch kein Wort von dem verstehen, was der Taxifahrer mit den Männern besprach.

Schließlich kamen wir in Gaza an. Dort habe ich in Begleitung von Mohammed und einigen seiner Freunde die Krankenhäuser und Flüchtlingslager vor Ort besucht und unsere Hilfsgelder verteilt. Vor dem Flug nach Ägypten waren ich und mein Mann in Irland zur Bank gegangen und hatten das ganze Geld in Fünfzig-Euro-Scheine umgetauscht und sie einzeln in Umschläge gesteckt. Ich weiß im nachhinein nicht, ob das eine gute oder eine schlechte Idee war, denn sobald man irgendwo ankam und sich herumsprach, eine ausländische Frau verteile Geld, wurden wir belagert, so daß wir unser Vorhaben abbrechen und anderswohin gehen mußten.

SB: Hätten Sie nicht Mohammed oder den Kontakten vor Ort das Geld zur Verteilung überlassen können?

TNC: Das wollte ich aber nicht. Obwohl ich Mohammed vertraute - schließlich hatte er sich bei dem Taxi als vollkommen zuverlässig erwiesen -, war ich doch selbst die einzige, der ich es zutraute, das Geld tatsächlich in die Hände der armen Frauen zu geben. Und das habe ich auch dann getan, obwohl es der schwierigere Weg war.

SB: Sie konnten aber Gaza nicht mehr verlassen, sondern steckten dort fest. Wie ging es weiter?

TNC: Wir waren bereits mehrere Tage in Gaza gewesen und hatten das meiste Geld schon verteilt, als es dort zu einer ungeheuren Explosion kam. Die israelische Luftwaffe hatte eine Bombe auf eine Gruppe betender Polizisten in Khan Younis geworfen und neun von ihnen getötet. Zu diesem Zeitpunkt befanden wir uns in Gaza-Stadt. Bis zu diesem Zeitpunkt bzw. seit dem Mauerfall hatte es keine militärischen Vorfälle gegeben. Alles war ruhig geblieben. Ich hatte bereits 2006 bei Palästinensern gewohnt und wußte, wie es bei ihnen abläuft, zum Beispiel, daß man nicht auf dem Dach schlafen sollte, weil man dort von den Israelis angegriffen werden könnte. Das war halt die gängige Vorsichtsmaßnahme. Durch den Bombenangriff war ich aber sehr beunruhigt. Zudem gingen die Semesterferien meiner Tochter am 11. Februar zu Ende. Also ließen wir alles fallen und brachen so schnell wie möglich nach Rafah auf, nur um dort festzustellen, daß die Ägypter die Mauer wieder errichtet und den Grenzübergang geschlossen hatten.

Dort habe ich der internationalen Presse die ganzen Interviews gegeben. Zuvor hatte ich mich mit einem palästinensischen Journalisten angefreundet, der als Stringer in Gaza für die Nachrichtenagenturen arbeitete und der unsere Geschichte in Umlauf brachte und somit erst richtig bekannt machte. Bei den Auftritten vor den Kameras habe ich nicht nur über unsere persönliche Situation gesprochen, sondern stets das Leid der Bevölkerung in Gaza hervorgehoben, die Verantwortlichen in Ägypten und Israel heftig kritisiert und ein Ende der verbrecherischen Blockade gefordert. Ohne es zu wissen, war ich plötzlich in den Schlagzeilen. Selbst meine Schwester, die seit 50 Jahren in Cape Cod an der US-Ostküste lebt, kam eines Abends nach Hause und bekam mich in den amerikanischen Fernsehnachrichten zu sehen. Später sagte sie mir, sie hätte in dem Moment einen Herzinfarkt bekommen, wenn unsere andere Schwester sie nicht einige Tage zuvor darüber informiert hätte, daß ich nach Ägypten mit Ziel Gaza aufgebrochen war.

Mir graute es davor, den Gazastreifen über den Übergang Erez nach Israel verlassen zu müssen, denn ich war schon einmal dort gewesen und wußte, welcher Tortur die israelischen Zollbeamten einen dort unterziehen. Als ich mit zwei Freunden 2006 die Grenze in Erez passierte, waren wir fast die einzigen Menschen dort. Nur eine palästinensische Frau aus Gaza saß in der hinteren Ecke des Wartesaals, während ihr Paß auf dem Tisch vor dem israelischen Zollbeamten lag, der seelenruhig und zufrieden die Tageszeitung las. Im Vergleich dazu wurden wir schnell abgefertigt. Natürlich wurden unsere Sachen allesamt ausgepackt und genauestens unter die Lupe genommen. Aber der Umgang mit dieser Frau hat mich betroffen gemacht. Es war eine reine Schikane. Aber die erleidet quasi jeder Palästinenser, der aus welchem Grund auch immer die Grenze zwischen Israel und den besetzten Gebieten passieren will. Ich hatte zudem Angst, Gaza über Erez zu verlassen, weil uns als Sympathisanten der Palästinenser alles mögliche passieren könnte - siehe die Fälle von Rachel Corrie und Tom Hurndall.

Also wollten wir unbedingt wieder nach Ägypten, kamen aber vorerst nicht über die Grenze. Die Ägypter behaupteten, wir wären illegal nach Gaza hineingelangt. Die israelischen Luftangriffe, die mit dem Überfall auf die Polizeistation begonnen hatten, setzten sich inzwischen fort. Alle hatten Angst im Gazastreifen - wir auch, da wir nun in Khan Younis lebten. Damals, vielleicht auch heute noch, benutzten die Israelis einen perfiden Trick. Nach einem Bomben- oder Raketenangriff warteten sie, bis die ganzen Helfer gekommen waren, um die Toten und Verletzten zu bergen, und griffen dann die Unglücksstelle erneut an.

SB: Den Amerikanern wird vorgeworfen, mit der Praxis des sogenannten "Double Tap" bei ihren Drohnenangriffen in Afghanistan und Jemen dasselbe zu machen.

Freiwillige wühlen im Schutt der zerstörten mehrstöckigen Dar-al-Fadila-Waisenschule - Foto: International Solidarity Movement, freigegeben nach Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0 Geneneric via Wikimedia Commons

Eine 2009 bei der israelischen Militäroperation Gegossenes Blei zerstörte Waisenschule bei Rafah
Foto: International Solidarity Movement, freigegeben nach Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0 Geneneric via Wikimedia Commons

TNC: Jedenfalls haben die Ägypter nach drei Tagen in Khan Younis mit wiederholten Stippvisiten am nahegelegenen Grenzübergang bei Rafah Erbarmen gezeigt und meiner Tochter und meiner Nichte erlaubt, Gaza zu verlassen. Sie mußten mit einer Gruppe palästinensischer Ausreisewilliger in einen großen schwarzen Bus der Polizei mit lackierten Fenstern einsteigen und wurden zunächst zu einer Baracke im Niemandsland gefahren. Dort mußten alle aussteigen. Die Männer wurden von den Frauen und Kindern getrennt, in einen anderen Teil des Gebäudes gebracht und überprüft. Danach waren die Frauen und Kinder an der Reihe. Meine Tochter Naisrin durfte nach Ägypten einreisen, denn sie hat einen ägyptischen Ausweis. Meine Nichte, die schreckliche Angst hatte, wegen des Vorfalls ihre Stelle als Lehrerin zu verlieren, ebenfalls. Sie wurde von den Polizisten wegen ihrer Teilnahme an der ganzen Aktion übel beschimpft, jedoch nicht weiter bestraft. Es gab später auch keine negativen beruflichen Folgen für sie - Gott sei Dank.

SB: Wie haben Sie es selbst geschafft, dort wieder herauszukommen?

TNC: An der Stelle der eingerissenen Stahlmauer hatte die ägyptische Armee eine lange, doppelstöckige Reihe Schiffscontainer installiert. Zwischen den Containern gab es eine Lücke, die räumlich so begrenzt war, daß sie jeweils nur ein Mensch passieren konnte. Auf der Gaza-Seite der Containermauer gab es rund 5000 Menschen, die nach Ägypten einreisen wollten. Nicht wenige von ihnen waren Leute wie ich, welche die Sprengung der Stahlmauer genutzt hatten, um Gaza schnell zu besuchen. Es waren Palästinenser, Ägypter palästinensischer Herkunft, Briten, Belgier, Deutsche und Menschen anderer Nationalitäten. Alle wollten wieder raus und gingen jeden Tag nach Rafah, um ihr Glück zu versuchen.

An dem Tag, an dem meine Tochter und meine Nichte nach Ägypten zurück durften, hatte ich mich mit ihnen, zusammen mit einer großen Menschenmenge, durch die kleine Gasse zwischen den Containern durchgequetscht. Da standen wir zu dritt auf der anderen Seite der Mauer, und ein ägyptischer Offizier kontrollierte unsere Personalien. Die beiden Mädchen mit ihren ägyptischen Ausweisen durften weiter, aber ich mit meinem irischen Reisepaß durfte es nicht. Meine Tochter und meine Nichte machten zunächst einen Aufstand, damit ich mitkommen durfte, aber es half nichts. Da sagte ich den beiden, sie sollten mich zurücklassen, denn Naisrin mußte zurück zur Uni und meine Nichte zu ihrer Arbeit an der Schule. Nach vielem Zureden und Drängen meinerseits sind sie meinem Rat gefolgt. Ich beschloß auf alle Fälle auf ägyptischem Territorium zu bleiben und nicht nach Rafah zurückzugehen.

SB: Sonst wären Sie möglicherweise heute immer noch im Gazastreifen. (lacht)

TNC: Das vielleicht nicht, (lacht ebenfalls) aber ich wäre gezwungen gewesen, den israelischen Übergang bei Erez für die Ausreise zu benutzen. Das wollte ich partout nicht. Ich stand jedenfalls da und schaute mir zunächst den ganzen Lastwagenverkehr an, der über die Grenze lief - Viehtransporte et cetera. Ich wußte nicht, wie es weitergehen oder was ich machen sollte. Nach einer Weile habe ich beschlossen, mich vom Spalt im Containerwall zu entfernen und mich unter einem Baum, den ich in der Nähe erspäht hatte, hinzusetzen. Da saß ich nun in meiner westlichen Kleidung, denn wir hatten in Gaza die Niqabs abgenommen. Nach einer Weile kam ein ägyptischer Offizier auf mich zu, erkundigte sich über mich und fragte in perfektem Englisch, ob er mir irgendwie helfen könnte. Ich weiß nicht, woher die ganze Freundlichkeit kam. Vielleicht wollte er nur sein Englisch üben. Jedenfalls habe ich ihm meine Geschichte erzählt. Bei unserer Trennung hatten die beiden Mädchen die Mobiltelefone mitgenommen, während ich in meiner Tasche noch den Schlüssel für die Wohnung in Alexandria hatte. Er sagte mir, er wisse, wo meine Tochter und Nichte wegen der Einreise überprüft werden würden. Er ging los, gab ihnen den Schlüssel und kam nach rund zehn Minuten mit meinem Mobiltelefon zurück.

Irgendwann wurde es Abend. Der Fahrzeugverkehr am Grenzübergang ließ nach, der Platz davor lichtete sich. Hinter mir liefen irgendwelche ägyptischen Soldaten herum. Ich entschied, den Niqab und die Handschuhe wieder anzuziehen, denn meine Nichte hatte mir gesagt, daß mich normalerweise kein ägyptischer Mann, solange ich sie trage, bedrängen oder mir zu nahe kommen würde. Kurz darauf tauchte ein Kommandeur mit einigen Soldaten auf und wollte meinen Paß sehen. Zusammen mit seinen Männern forderte er mich nachdrücklich auf, zurück nach Gaza zu gehen. Mit dem bißchen Arabisch, das ich beherrsche, setzte ich mich gegen seine Forderung energisch zur Wehr. Ich bin mit einem Ägypter verheiratet, meine Töchter sind Ägypterinnen, wir haben eine Wohnung und Verwandte in Alexandria, wandte ich ein. Die Diskussion ging rund eine Dreiviertelstunde. Inzwischen war der Platz leer. Der Grenzübergang war geschlossen. Also steckten sie mich in einen Jeep und nahmen mich zu einem anderen Teil der Grenzanlage mit. Daraufhin habe ich in einem Feldbüro der ägyptischen Armee drei Tage verbracht.

Das war schon eine interessante Erfahrung, die höheren ägyptischen Offiziere, die dort an der Grenze Dienst schoben, in ihrem Quartier zu beobachten. Daß sich eine westliche Frau dort aufhielt, hat ihnen überhaupt nicht gepaßt. Ich konnte an ihren Gesichtern erkennen, wie sie sich die Frage stellten: "Was macht die Alte bloß hier?" Sie wären mich lieber gestern als heute losgeworden, wußten jedoch wegen der ganzen Vorschriften nicht, wie sie es anstellen sollten. Gleich am ersten Tag lief der Akku in meinem Mobiltelefon leer. Ich hatte keine Verbindung zur Außenwelt mehr. Mein Mann und meine Familie wußten nicht, wo ich war.

SB: Sie haben sich bestimmt große Sorgen gemacht.

TNC: Auf jeden Fall. Meine Tochter Róisín hat mir nachher die Hölle heiß gemacht. "So etwas machst du niemals wieder", bleute sie mir ein. Ich wußte zunächst nicht, wie ich aus dem Schlamassel herauskommen sollte. Irgendwann fiel mir ein, daß mein Mann einen Neffen hatte, der im Hotel Palestine in Alexandria arbeitet. Also habe ich die Militärs um Erlaubnis gebeten, ihn anzurufen, was mir gewährt wurde. Daraufhin rief er meinen Mann in Irland an und berichtete ihm, daß ich an der Grenze feststecke und mich dort in der Obhut der ägyptischen Streitkräfte befinde. Auf Anraten der Botschaft in Dublin flog Saber nach Kairo, konnte aber dort in den Ministerien nichts erreichen. Daher kam er nach Rafah, wo die Militärs seinen Ausweis eingezogen haben. Auf die Frage, wann wir beide wieder gehen dürften, wurde uns gesagt, "sobald die Grenze offiziell wieder geöffnet worden ist". Und wann sollte es soweit sein? "Sobald es der Oberbefehlshaber verfügt", lautete die Antwort. Gemeint war natürlich Präsident Mubarak.

Wegen der recht spartanischen Bedingungen in dem Feldbüro hat mein Mann nach vielem Plädieren bewirkt, daß wir nach Al-Arisch gehen und in einem Hotel einchecken durften. Wir waren formell aber immer noch unter Hausarrest. Außerdem hatten sie unsere Pässe noch. Doch nach einem oder zwei Tagen kam ein Offizier von Rafah ins Hotel, gab uns prompt die Pässe und erklärte, wir könnten wieder gehen, wohin wir wollten, nur nicht nach Gaza!

SB: Der Sturz Mubaraks 2011, das Intermezzo mit Mohammed Mursi von der Moslembruderschaft als erstem gewählten Präsidenten Ägyptens und dann der Putsch der Militärs 2013 unter der Führung von General Abdel Fatah Al Sisi - Ägypten hat innerhalb weniger Jahre eine Reihe gewaltiger Umwälzungen durchlebt. Was meinen Sie, als jemand mit einem besonderen Blick für die ägyptischen Verhältnisse, hat sich am Nil zugetragen? Haben bestimmte Kräfte in der Wirtschaft und beim Militär den arabischen Frühling benutzt, um den alten Mubarak und seinen Klan loszuwerden? Woran ist die Präsidentschaft Mursis samt Regierung der Moslembruderschaft gescheitert? Und welche Richtung wird Ägypten Ihres Erachtens einschlagen? Stehen dem bevölkerungsreichsten arabischen Staat weitere Jahrzehnte der Diktatur bevor?

TNC: Ich reise seit dreißig Jahre regelmäßig nach Ägypten. Ich erinnere mich an die Zeit unmittelbar vor und nach dem angloamerikanischen Einmarsch in den Irak im März 2003. In Irland sind wir von der Friedensbewegung dermaßen häufig dagegen auf die Straße gegangen, daß unsere Schuhsohlen schließlich durch waren. Als unsere gesamte Familie im Juni desselben Jahres Ferien in Ägypten machte, war von einer Stimmung gegen die Militärintervention der Briten und Amerikaner im Zweistromland keine Spur vorhanden. Das öffentliche Leben lief genauso wie sonst weiter. Weil mein Arabisch immer noch ziemlich rudimentär ist, bat ich immer wieder meinen Mann, die Taxifahrer zu fragen, was sie über die Eroberung des Iraks dächten bzw. wie die allgemeine Meinung sei. Schließlich hatten viele Ägypter in den fetten Jahren, also vor dem Einmarsch nach Kuwait 1990, dem Golfkrieg 1991 und den jahrelangen Wirtschaftssanktionen, im Irak gearbeitet und dabei gut verdient. Also konnte ich die fehlende öffentliche Empörung der Ägypter über die jüngsten Ereignisse dort nicht verstehen. Die Taxifahrer waren immer sehr vorsichtig und überlegten sich lange, bevor sie auf die Fragen meines Mannes eingingen. Vorher wollten sie alles über uns wissen. Sie merkten, daß der Akzent meines Mannes etwas fremdländisch klang, was auf die vielen Jahre in Irland zurückzuführen war, und waren daher mißtrauisch. Er mußte dieses Mißtrauen erst zerstreuen, bevor sie sich ihm öffneten. Nachdem sie sich überzeugt hatten, daß er wie sie auf der Seite der einfachen Palästinenser und Iraker stand, schütteten sie ihm ihr Herz aus.

Uns gegenüber beschwerten sich die Taxifahrer über das Spitzelsystem Mubaraks. Sie berichteten von Fällen, daß Leute, die in Internetcafés Kritisches über das Mubarak-Regime geschrieben oder in Kaffeehäusern eine radikale Veränderung des Regierungssystems propagiert hatten, später verschwanden. Man ging davon aus, daß die Sicherheitspolizei bzw. der Geheimdienst sie verschleppt hatte. Jedenfalls wurden sie niemals wieder gesehen. Sie verschwanden im ägyptischen Gefängniskomplex oder wurden einfach ermordet. Solche Vorkommnisse sorgten für eine Atmosphäre der Angst. Die Menschen waren eingeschüchtert, weil jeder von den Behörden leicht beseitigt werden konnte. Ein bekannter ägyptischer Journalist - ich habe seinen Namen vergessen -, der in seinen Artikeln die Korruption des Mubarak-Klans angeprangert hatte, wurde eines Tages von der Polizei abgeholt, bis weit in die Wüste hinaus gefahren, dort nackt ausgezogen und zum Sterben zurückgelassen. Irgendwie konnte er sich retten und arbeitet heute als Journalist in Katar oder Dubai.

In Ägypten wußten die Menschen schon länger, wie Mubaraks Repressionsapparat funktioniert. Ich glaube, die neuen sozialen Medien wie Facebook und Twitter haben wesentlich zur Revolution in Ägypten im Januar und Februar 2011 beigetragen, denn sie halfen den jungen Menschen, sich gegenseitig zu unterstützen, Ideen auszutauschen und sich gegen den Sicherheitsapparat zu organisieren. Dagegen wußten viele aus der Alten Garde um Mubarak vermutlich nicht, wie man einen Computer überhaupt bedient. Schließlich lieferte die Selbstverbrennung des armen Gemüseverkäufers Mohamed Bouazizi Mitte Dezember 2010 in Tunesien den Funken, die den ganzen Arabischen Frühling auslöste.

SB: Aber zu jenem Zeitpunkt wurde Ägypten bereits seit Monaten von Streiks und Arbeitsniederlegungen erschüttert.

TNC: Ja. Seit 2004 kam es in Ägypten verstärkt zu Arbeitskämpfen und -niederlegungen. Die arbeitende Bevölkerung protestierte gegen sinkende Lebensstandards und die Privatisierung von Staatsbetrieben infolge von IWF-Reformen. Allein 2010 hat es einen landesweiten Lastfahrerstreik gegen Steuererhöhungen, wochenlange Arbeitsniederlegungen in der Textilbranche, die in Ägypten viele Menschen beschäftigt, sowie große Demonstrationen für einen staatlichen Mindestlohn gegeben.

SB: Außerdem hat der Skandal um ein vom Mubarak-Klan eingefädeltes Gasgeschäft mit Israel für große Empörung gesorgt.

TNC: Die einfachen Ägypter waren außer sich, als sie erfuhren, daß sie als Konsumenten 40 Prozent mehr für ägyptisches Erdgas bezahlten als die Israelis. Das Gasgeschäft mit Israel hatte Hussein Salem, ein Berater Mubaraks, der als einer der reichsten Männer Ägyptens Scharm El-Scheich zum Touristenort aufgebaut hatte, eingefädelt. Die Pipeline lief vom Roten Meer über die Sinai-Halbinsel nach Israel. All diese Dinge haben sich gegen Ende des ersten Jahrzehntes des neuen Jahrtausends summiert und den Thron Mubaraks immer mehr ins Wanken gebracht. Als dann Ende 2010, Anfang 2011 die Anti-Regierungsproteste in Tunesien ausbrachen und nach Ägypten übergriffen, waren die Tage Mubaraks als "Pharao" am Nil gezählt.

Ähnlich wie in Tunesien war es ein Todesfall gewesen, der die Massen richtiggehend erregt hatte. Im Juni 2010 wurde in Alexandria der 28jährige Khaled Saeed von zwei Polizisten aus einem Internetcafé geschleppt und auf offener Straße zu Tode geprügelt. Das Foto von seinem blutig-entstellten Gesicht - sein Bruder hatte es per Mobiltelefon im Leichenschauhaus aufgenommen - verbreitete sich rasch über Facebook und Twitter. Unter dem Slogan "Ich bin Khaled Saeed" kam es schnell zu einer Massenmobilisierung der Jugend gegen Polizeiwillkür und -gewalt.

Als es dann im Januar 2011 zu den großen Demonstrationen auf dem Kairoer Tahrir-Platz kam, nahmen die Bilder von Khaled Saeed und vieler anderer Todesopfer der Polizei eine prominente Stelle ein. Der Geduldsfaden der Menschen mit der Repression und dem Notstandsgesetz, das seit 1967 in Kraft war und praktisch jede politische Versammlung verbot, war gerissen. Es ist auch kein Zufall gewesen, daß das Notstandsgesetz zwei Wochen nach dem Sturz Mubaraks aufgehoben wurde. Dieses Gesetz war auch der Grund, warum es 2003 in Ägypten zu keinen nennenswerten Protesten gegen den Irakkrieg gekommen war.

SB: Wurde Mubarak vielleicht von den eigenen Generälen geopfert, um den gigantischen Militärapparat, den er aufgebaut hatte und dessen Einfluß weit in die ägyptische Wirtschaft reicht, zu retten?

TNC: Irgendwie schon. Die Proteste auf dem Tahrir-Platz und anderswo in Ägypten hatten im Januar 2011 ein ungeheures Ausmaß angenommen. Nach tagelangen, schweren Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten war klar, daß die gigantische Menschenmenge von Regierungsgegnern auf dem Tahrir-Platz auch mit Gewalt nicht zu vertreiben war. Ohne sichtbare Zugeständnisse würden die Proteste nicht abflauen, würde der Tahrir-Platz nicht geräumt werden, würde das öffentliche Leben in Ägypten nicht zur Normalität zurückkehren. Ich und meine Familie haben von Irland aus die damaligen Geschehnisse in Ägypten mit großem Interesse verfolgt. Wir und unsere Freunde von der Friedensbewegung haben auch einige Male vor der ägyptischen Botschaft in Dublin demonstriert und uns solidarisch mit der Demokratiebewegung am Nil gezeigt. Nach zwei Wochen höchster Anspannungen traten Mubarak und mit ihm wichtige Vertreter seines Regimes wie Vizepräsident Omar Suleiman, lange Jahre der gefürchtete Chef des ägyptischen Geheimdienstes, endlich ab.

Ein von Menschen und Zelten völlig überfüllter Tahrir-Platz auf dem Höhepunkt der demokratischen Revolution in Ägypten - Foto: Jonathan Rashad, freigegeben nach Creative Commons Attribution 2.0 Geneneric via Wikimedia Commons

Hunderttausende Demonstranten auf dem Tahrir-Platz zwei Tage vor dem Rücktritt Hosni Mubaraks
Foto: Jonathan Rashad, freigegeben nach Creative Commons Attribution 2.0 Geneneric via Wikimedia Commons

SB: Bei den Parlamentswahlen im Dezember 2011 und Januar 2012 hat die Moslembruderschaft den Sieg davongetragen. Im Juni ist ihr Kandidat Mohammed Mursi erster frei gewählter Präsident Ägyptens geworden. Doch die Machtübernahme scheint die Moslembruderschaft überfordert zu haben. Obwohl Mursi versprach, Präsident aller Ägypter zu sein, haben er und seine Parteikollegen durch ihr Bündnis mit den Salafisten in der verfasssungsgebenden Versammlung neben den Anhängern des alten Regimes auch die Kopten, Säkularisten und die städtische Mittelschicht gegen sich aufgebracht. Unter dem Vorwand, das um sich greifende Chaos zu beenden, hat das Militär im Sommer 2013 Mursi verhaftet und mit brutaler Gewalt die Macht wieder an sich gerissen. Damals schienen die meisten Oppositionellen den anti-demokratischen Schritt zu begrüßen. So konsequent und umfassend, wie das Militär unter Präsident und Generalstabschef a. D. Al Sisi die Diktatur wieder installiert hat, dürften viele der Demokratiebefürworter den Sturz der Moslembruderschaft inzwischen bereuen. Woran sind die Moslembrüder gescheitert? Haben sie zuwenig auf Bündnisse mit anderen gesellschaftlichen Kräften gesetzt oder ihre Feinde innerhalb des Sicherheitsapparats unterschätzt?

TNC: Ich habe viel von der Moslembruderschaft gehalten und sogar während der Mubarak-Ära gute Erfahrungen mit ihr gemacht. 2009, nach der israelischen Militäroperation Gegossenes Blei gegen Gaza, haben wir einen Container voller Hilfsmittel für die Menschen dort organisiert. Seit ich und mein Mann uns bei der Solidarititätskampagne für Palästina engagieren, bin ich fünf Mal in Gaza gewesen. Insgesamt haben wir Hilfsgüter im Wert von rund 90.000 Euro dorthin schicken können. Wir waren zur Jahreswende 2008/2009 zu Besuch in Ägypten, als die Operation Gegossenes Blei begann. Angesichts der schrecklichen Fernsehbilder wollte mein Mann sofort nach Gaza gehen, um als Arzt medizinische Nothilfe zu leisten. Wir haben statt dessen beschlossen, gemeinsam zurück nach Irland zu fliegen, um von dort aus humanitäre Hilfe zu organisieren und dann später mit Geld und Gütern nach Ägypten zu kommen und nach Gaza zu reisen. Vorher gingen wir zum Hauptquartier des ägyptischen Ärzteverbandes in Kairo, dessen Mitglieder, so schien es mir, mehrheitlich Moslembrüder waren, um uns über die beste Art der Hilfe beraten zu lassen.

Natürlich lief dort zu dem Zeitpunkt eine große Hilfsaktion für Gaza an, denn die Not war groß und die in Gaza regierende Hamas-Bewegung ist quasi eine Ablegerin der ägyptischen Moslembruderschaft. Doch deren Hilfsmaßnahmen erstreckten sich über weit mehr als die Linderung des Leids der Gaza-Bewohner oder der sozial Benachteiligten in Ägypten. Sie betreiben seit Jahren karitative Einrichtungen in den meisten Ländern Afrikas. Beim Besuch im besagten Gebäude habe ich mir anhand von Plakaten und Flugblättern einen Überblick über die verschiedenen Projekte der Moslembruderschaft im In- und Ausland - wie zum Beispiel das Bauen von Brunnen für ländliche Gemeinden - verschafft. Es war ziemlich beeindruckend. Jedenfalls wollten wir Hilfe von ihnen, um später unsere Container mit den Sachspenden aus Irland nach Gaza zu transportieren. Aufgrund der großen Spendenbereitschaft der Menschen in Irland konnten wir Ende Mai fünf Container für Gaza aufs Schiff laden - drei aus Cork und zwei aus Galway - und Richtung Ägypten senden.

Doch die Container haben Gaza nicht erreicht. Ich mußte selbst nach Kairo fliegen und mich nach ihrem Verbleib erkundigen. Die Filmemacherin Dervla Glenn hat mich dabei begleitet und eine später preisgekrönte Dokumentation über Gaza gedreht. Zusammen mit meinem Mann haben wir die Container schließlich gefunden, auch wenn finden vielleicht nicht der richtige Begriff ist. Sie befanden sich angeblich in einem Sportstadion in Al-Arisch, wo sich seit Jahren die Hilfsgüter für Gaza himmelhoch auftürmten, weil sie wegen der gemeinsamen Blockade-Politik Israels und Ägyptens nicht nach Gaza ausgeliefert wurden. Irgendwo in diesem Durcheinander sollten unsere Container sein. Wir trafen den Manager des Stadions. Er lud uns auf eine Tasse Tee in sein Büro. Dort erzählte er uns, daß er eigentlich Sportfunktionär sei und die Schnauze voll habe, als Lagerverwalter zu arbeiten. Er wollte, daß das Stadion so schnell wie möglich geräumt und wieder für seinen ursprünglichen Zweck genutzt werden würde. Er berichtete uns, daß er alle paar Tage einen Telefonanruf von den israelischen Behörden bekam, die ihm sagten, sie hätten gern so und so viel von diesem oder jenem - zum Beispiel eine bestimmte Anzahl Paletten Pasta - aus dem Fundus der Hilfsmittel. Er lieferte die so bestellten Güter an die Israelis aus, die sie wiederum über den Erez-Übergang im Norden nach Gaza brachten. Also haben die Israelis die Hilfsgüter aus der ganzen Welt als die ihrigen an die Bedürftigen in Gaza verteilt.

Mit unseren Containern hätte es Probleme gegeben, hieß es. Es wurde behauptet, sie hätten verderbliche Waren enthalten und könnten deshalb nicht nach Gaza ausgeliefert werden. Das stimmte aber nicht. Wir haben streng darauf geachtet, nichts Verderbliches zu verpacken. Darüber hinaus haben wir keine Second-Hand-Sachen, sondern immer nur neue, unverbrauchte Produkte angenommen. Der Grund dafür war, daß die Menschen in Gaza mit Second-Hand-Sachen Probleme hatten: Im Falle einer nötigen Reparatur hätten sie schwer an Ersatzteile herankommen können. Davon hatte ich mich bei meinem Besuch 2006 mit eigenen Augen überzeugen können: Eigentlich ganz gute Brutkästen und Dialyse-Geräte vergammelten in einer Abstellkammer des Krankenhauses, weil niemand die notwendigen Teile hatte, um sie zu reparieren. Die Israelis behaupteten, die Gaza-Bewohner wären sich zu fein für Second-Hand-Sachen, aber das stimmt nicht. Am Ende glaube ich nicht, daß unsere Container den Weg nach Gaza geschafft haben.

SB: Und das trotz der Hilfe der Moslembruderschaft?

TNC: Nicht nur der Moslembruderschaft. Ich habe mich auch an das Rote Kreuz und den Roten Halbmond gewandt und war bei ihnen vorstellig geworden. Die Leiterin des Roten Kreuzes in Ägypten, Dr. Nagdy, hat mich schwer enttäuscht. Sie wollte nicht einmal meine Anrufe entgegennehmen. Diplomatische Unterstützung erhielt ich aus Irland von Éamon Ó Cuív, damals Staatsminister im Ministerium für Gemeinwesen, Ländliches und die Gaeltacht. Ich hatte mich vorher an ihn gewandt, denn er vertritt als Abgeordneter meinen Wahlkreis, Galway West, im Dubliner Parlament. Er schwor mir später hoch und heilig, daß die Container nach Gaza ausgeliefert worden waren, aber es gab keinen einzigen schriftlichen Beleg dafür. Also weiß ich bis heute nicht, was aus den Containern und Hilfsgütern aus Irland geworden ist.

SB: Um auf die ursprüngliche Frage zurückzukommen, woran sind Ihrer Meinung nach Mursi und die Moslembrüder, als sie in Ägypten an der Macht waren, gescheitert?

TNC: Als Mursi 2012 die Präsidentenwahl gewann, habe ich mich gefreut, denn er war das erste demokratisch legitimierte Staatsoberhaupt, das die Ägypter jemals hatten. Man wußte, daß er Akademiker war und wenig politische Erfahrung besaß und lediglich 20 Millionen Stimmen bei mehr als 50 Millionen registrierten Wählern erhalten hatte. Dennoch war es ein Anfang und der Aufbruch in eine neue demokratische Ära. So dachten ich, meine ägyptischen Familienmitglieder und Verwandten sowie vermutlich die meisten Menschen des Landes. Trotz der Hilfe, die wir in der Vergangenheit von der Moslembruderschaft erhalten hatten, stand ich ihnen als politische Kraft etwas skeptisch gegenüber. Mein Mann wollte bei der Präsidentenwahl eigentlich nicht für Mursi stimmen, sagte aber, es gäbe sonst keine Alternative. "Sollten wir etwa Ahmed Schafiq wählen?", der unter Mubarak Premierminister gewesen war, fragte er, natürlich rhetorisch.

Nachdem Mursi im Amt war, haben die säkularen Kräfte und die Jugend in den Städten ihm nicht genügend Zeit gegeben, das Land zu reformieren. Sie wollten alles zu schnell und beschwerten sich über die Langsamkeit des Reformprozesses. Ich weiß, daß sich Mursi mit Befugnissen ausstattete, die nicht einmal Mubarak gehabt hatte. Sein Argument, das man nicht von der Hand weisen kann, war, daß er ansonsten keine Chance hätte, sich gegen die Alte Garde im Militärapparat durchzusetzen. Ob er wirklich jemals eine Chance hatte, werden wir niemals wissen. Schließlich hat er selbst kurz nach der Amtseinführung als Präsident Al Sisi, der bis dahin Militärgeheimdienstchef war und ihn nur 13 Monate später stürzen sollte, als neuen Oberbefehlshaber der Streitkräfte eingesetzt, um den alten, General Mohammed Tantawi, loszuwerden. Mursis Situation war aussichtslos. Er mußte gleichzeitig mit den Anhängern des alten Regimes im Staatswesen zusammenarbeiten, die städtische Jugend, die mit riesigen Demonstrationen weiterhin grundlegende Veränderungen forderte, zufrieden stellen und zudem der eigenen religiös motivierten Anhängerschaft Erfolge vorweisen, damit die Salafisten nicht der Moslembruderschaft das Wasser abgruben.

SB: Gleichwohl hatte er sich Fehler geleistet, die nicht hätten sein müssen. Im November 2012, nur wenige Monate nach der Wahl und nachdem er versprochen hatte, "Präsident aller Ägypter" zu sein, blieb er demonstrativ der feierlichen Einsetzung des neuen Papstes der koptischen Kirche, Tawadros II, in der Sankt-Markus-Kathedrale in Kairo fern und ließ sich einfach von seinem Aide-de-camp vertreten. Im Juni 2013 hat er Adel El-Khayat, Mitglied der Salafistengruppe Gamaa Islamijja, die 1997 bei einem schrecklichen Massaker in Luxor 58 Touristen ermordete, zum Gouverneur von Luxor ernannt. Mit Entsetzen haben weite Teile der Öffentlichkeit, allen voran führende Vertreter der ägyptischen Tourismusbranche, reagiert.

TNC: Es steht außer Zweifel, daß er sich während seiner kurzen Zeit im Amt viele schwere Fehler geleistet und somit einen Gutteil der ägyptischen Bevölkerung gegen sich aufgebracht hat. Bei seiner ersten Auslandsreise als Präsident besuchte er den Iran. Für viele war das ein Signal, daß er Ägypten ebenfalls zu einer islamischen Republik machen wollte. Natürlich kann man das anders und weniger bedrohlich deuten. Durch die Annäherung an den Iran wollte er vermutlich die außenpolitische Eigenständigkeit Ägyptens zurückerlangen, durch die Zusammenarbeit mit Teheran die ägyptische Wirtschaft ankurbeln sowie den konfessionellen Graben im Nahen Osten zwischen Sunniten und Schiiten überbrücken. Das sind alles lobenswerte Absichten. Doch Mursis Wahl des Irans zum Ziel seiner ersten Auslandsreise als ägyptischer Präsident war vor allem für die USA eine Ohrfeige. Die Amerikaner, die Ägypten jährlich Militärhilfe im Wert von mehr als einer Milliarde Dollar zukommen lassen, haben die Entscheidung als Zeichen der Undankbarkeit empfunden.

Ich habe Mursi angesichts der schwierigen Lage, in der er steckte, nur das Beste gewünscht. Auch wenn er Fehler machte, habe ich im Bekanntenkreis stets dafür plädiert, ihm mehr Zeit zu geben. Daß er die Salafisten, die stärksten politischen Konkurrenten der Moslembruderschaft, im Auge behalten wollte, ist verständlich. Was die Salafisten betrifft, so besuche ich seit mehr als 30 Jahren regelmäßig den Nahen Osten und habe erstmals von ihnen 2011 gehört, als eine radikale Islamistengruppe in Gaza den linken italienischen Journalisten Vittorio Arrigoni entführte und ermordete. Was sind das für Extremisten, habe ich mich gefragt? Aber Extremisten gibt es wohl in jeder Religion. Ich weiß, daß Mursi viele schwere Fehler gemacht hat. Aber den größten Fehler haben Ägyptens Demokratiebefürworter begangen, die zu vieles zu schnell haben wollten. Sie selbst waren auf das demokratische Spiel nicht vorbereitet. Sie hatten kaum Geld, etwas, das wichtig ist, um in der Politik jeden Landes mitzubestimmen. Sie hatten unter der ägyptischen Wirtschaftselite keine nennenswerten Förderer oder Unterstützer. Mohammed Elbaradei, der Nobelpreisträger und ehemalige Chef der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA), galt lange Zeit als Hoffnungsträger der Demokratiebewegung. Aber die Art und Weise, wie er dem Putsch von Al Sisi und den der Militärs gegen Mursis Moslembruderschaft am 3. Juli nicht nur tatenlos zusah, sondern diesen öffentlich guthieß, hat ihn in meinen Augen diskreditiert.

SB: Sie haben damals Interviews bei Raidió na Gaeltachta gegeben und das Vorgehen des ägyptischen Militärs scharf kritisiert. In einem Interview haben Sie behauptet, daß bei der gewaltsamen Räumung zweier Protestlager der Mursi-Anhänger in Kairo und Gizeh am 14. August 2013, die als Rabia-Massaker in die Geschichtsbücher eingegangen sind, nicht Hunderte wie nach Angaben der ägyptischen Behörden, sondern Tausende von Menschen umgebracht wurden. Stehen Sie heute noch zu dieser Behauptung?

TNC: Auf jeden Fall. Nach allem, was ich gelesen, gehört und gesehen habe, gehe ich davon aus, daß die Todeszahl bei rund 5000 liegen dürfte. Das geht unter anderem aus der Berichterstattung sowohl von Al Jazeera als auch von dem von den USA für die arabische Welt finanzierten Nachrichtensender Al Hurra hervor. Mit jener furchterregenden Aktion gegen die Moslembrüder hat das Militär allen Oppositionellen in Ägypten gezeigt, was ihnen bevorsteht, sollten sie sich mit der neuen Diktatur anlegen. Gleichwohl hat man nach außen hin alles getan, um das wahre Ausmaß des Massakers zu vertuschen und die befreundete US-Regierung von Präsident Barack Obama nicht in Verlegenheit zu bringen. Seitdem reißen die Verhaftungen und Schnellurteile nicht ab. Es war Al Hurra, der am Abend des 17. August 2013 das Skype-Interview mit den irisch-ägyptischen Halawa-Geschwistern ausstrahlte, die mit mehreren Hundert Mursi-Anhängern in der Kairoer Al-Fath-Moschee belagert und in derselben Nacht vom Militär allesamt verhaftet wurden.

SB: In Irland hat der Fall damals Schlagzeilen gemacht, schließlich ist der Vater der Familie, Scheich Hussein Halawa, der höchste muslimische Geistliche auf der grünen Insel. Wie ist der Stand?

TNC: Die drei Schwestern Somaia, Fatima und Omaima wurden unter anderem aufgrund des Einsatzes des irischen Außenministeriums nach drei Monaten freigelassen und durften ausreisen. Sie befinden sich wieder in Dublin. Der inzwischen 19jährige Bruder, Ibrahim Halawa, sitzt immer noch in einem ägyptischen Kerker. Laut seiner Familie wurde er dort bereits gefoltert. Ihm soll demnächst der Prozeß wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung sowie versuchten Mordes gemacht werden. Ihm droht eine langjährige Freiheitsstrafe bzw. eventuell sogar die Todesstrafe. Die ägyptischen Behörden haben bereits die Legende in die Welt gesetzt, sie hätten auf dem Mobiltelefon einer der Schwestern eine Videoaufnahme von Ibrahim entdeckt, in der er einen Sprengstoffgürtel trägt und irgendwelche Drohungen von sich gibt. Das klingt für mich nicht besonders plausibel, auch wenn die Ägypter das Video der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton und anderen ausländischen Politikern, die sich für Ibrahim einsetzten, gezeigt haben sollen. Ob wahr oder unwahr zeigt die Geschichte doch, daß der Junge in ganz großen Schwierigkeiten steckt.

Meiner Familie hätte etwas ähnlich Schreckliches passieren können, wären wir zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen. Als sich Mursi nach dem Sieg bei der Präsidentenwahl im Sommer 2012 den Massen auf dem Tahrir-Platz präsentierte, waren ich, mein Mann und unsere Töchter dort. Es war unglaublich. Alle waren am Jubeln, aber dennoch war es wegen der ungeheuren Anzahl der Menschen - schätzungsweise rund eine Million - und wegen der fehlenden Sicherheitsmaßnahmen ein sehr gefährlicher Ort. Einige Frauen und Mädchen sind in dieser Nacht in Kairo auf offener Straße vergewaltigt worden. Auch meine Tochter wurde in der Menge mindestens einmal unsittlich angefaßt. Ich habe meinem Mann nichts gesagt, weil er sich sofort auf den Missetäter gestürzt hätte, und dann wäre die Hölle los gewesen.

SB: Was glauben Sie, wie es in Ägypten weitergeht? Stehen dem Land unter Al Sisi weitere Jahrzehnte der Diktatur bevor?

TNC: Es ist wirklich schwer zu sagen. Für mich ist Al Sisi ein Mörder. Hosni Mubarak und seine Söhne sind alle wieder auf freiem Fuß, nachdem die Korruptionsvorwürfe wie ein Kartenhaus zusammengefallen waren. Ihre Clique hat in Ägypten wieder das Sagen. Das alte Regime ist das neue Regime. Wie früher hat das Parlament nichts zu melden. Die Abgeordneten stempeln einfach das ab, was ihnen von höherer Stelle vorgelegt wird. Die Richter sind nicht unabhängig, sondern fällen die Urteile, welche dem Militär gefallen. Wie Tausende einfacher Menschen sitzen die gesamte Führung der Moslembruderschaft und einige säkulare Oppositionelle hinter Gittern. Es gehen schon Gerüchte um, daß Al Sisi demnächst zurücktreten wird, damit der von Mubarak gewünschte Nachfolger, sein jüngerer Sohn Gamal, Präsident werden kann.

Man darf nicht vergessen, daß unter Mubarak das Militär in Ägypten große Teile der Wirtschaft kontrollierte. Mubarak und seine Generäle waren schwerreiche Geschäftsleute mit gigantischen Firmenimperien. Sie kontrollierten die wichtigsten Industrien, sei es Öl, Stahl oder der Ferienort Scharm El-Scheich. Als Mursi an die Macht kam, haben diese Leute diverse Schritte unternommen, um das Wirtschaftsleben zum Erliegen zu bringen und die Moslembruderschaft ökonomisch unfähig aussehen zu lassen. Es kam zum Beispiel zu einer Benzinknappheit. Die Preise für Benzin stiegen drastisch an. Über Monate standen vor jeder Tankstelle lange Schlangen. Die Handlanger der Militärs in den Medien machten die Moslembruderschaft für die Misere verantwortlich und behaupteten, sie hätten größere Mengen Treibstoff, die für den heimischen Markt vorgesehen waren, nach Gaza umdirigiert. Tatsächlich hatten die Verantwortlichen in den großen Raffinerien, die ihre Posten Mubarak und Konsorten verdankten, die Benzinproduktion zurückgefahren, um eine künstliche Knappheit zu erzeugen. Mit solchen einfachen Tricks wurde Mißmut gegen Mursi und die Moslembrüder geschürt.

Die Lügen, welche die ägyptischen Medien damals über die Mursi-Regierung verbreiteten, waren unglaublich und nahmen kein Ende. Die Atmosphäre im ganzen Land war angespannt. Die Bevölkerung teilte sich in Mursi-Anhänger und -Gegner. Selbst innerhalb von Familien kam es zu heftigen Streitereien. Ich hatte tatsächlich Angst, die Dinge könnten sich wie in Libyen entwickeln und in einen Bürgerkrieg ausarten. Auch wenn es seltsam klingt, ist den Ägyptern vielleicht durch die Machtübernahme der Militärs Schlimmeres erspart geblieben. Man braucht sich nur das Chaos im Nachbarland Libyen vor Augen zu führen. Das kann niemand den Menschen in Ägypten wünschen.

Noch schlimmer sieht es in Syrien aus. Das Land wird regelrecht zugrunde gerichtet. Hunderttausende Menschen werden getötet und Millionen zu Flüchtlingen gemacht, während die "internationale Gemeinschaft" tatenlos zusieht. Und warum? Das kann keiner erklären. Syrien hat sich militärisch nirgendwo eingemischt. Seit sich vor Jahrzehnten der alte Al Assad, Hafis, mit Israel arrangierte, herrscht Ruhe an der israelisch-syrischen Grenze. An dieser Politik hat sein Sohn und Nachfolger Baschar Al Assad nichts verändert. Das hindert die Israelis nicht daran, hin und wieder Luftangriffe in Syrien zugunsten der Rebellen durchzuführen.

SB: Nicht nur das. Es gibt glaubhafte Berichte, wonach islamistische Kämpfer auf der israelischen Seite der Grenze auf den Golan-Höhen in Feldlazaretten behandelt und dann zurück in den Kampf nach Syrien geschickt werden. Es besteht sogar der Verdacht, daß sie von den Israelis finanzielle und militärische Hilfe erhalten.

TNC: Es würde mich nicht wundern. Wer sind diese "Terroristen" vom Islamischen Staat (IS) überhaupt? Allen Ägyptern, mit denen ich spreche, ist die Gruppe und ihre Entstehung ein Rätsel. Aber das war vor mehr als zehn Jahren bei Al Kaida genauso der Fall. Al Kaida bedeutet auf Arabisch nichts anderes als die Basis. Wo kam Al Kaida her? Viele Ägypter glauben, daß die CIA selbst die Gruppe gezüchtet hat. Könnten die USA dasselbe im Falle des IS getan haben, um sich in Syrien und im Irak als Brandleger und Feuerwehr in einem zu betätigen? Der Durchschnittsbürger wird es niemals erfahren. Jedenfalls gibt der rasche Anfangserfolg des IS und die Leichtigkeit, mit der er letztes Jahr Mossul, mit fast zwei Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt des Iraks, eroberte, reichlich Anlaß zu Spekulationen.

SB: Seit einigen Jahren herrscht auf der Sinai-Halbinsel ein niedrigschwelliger Krieg, an dem sich die ägyptischen Sicherheitskräfte, Islamisten, Beduinen-Kämpfer und Schmuggler beteiligen. Haben Sie eine Vorstellung davon, worum es dabei geht?

TNC: Die Menschen auf der Sinai-Halbinsel sind ein ganz anderer Menschenschlag als die restliche Bevölkerung Ägyptens. Sie sprechen auch eine eigene Sprache oder zumindest einen für den Durchschnittsägypter schwer verständlichen Dialekt des Arabischen. Es sind Beduinen. Die meisten von ihnen sind arm, aber einige wenige schwerreich. Unter Mubarak haben die Beduinen nur wenig vom Aufbau der ägyptischen Riviera entlang der Küste zwischen Taba und Scharm El-Scheich profitiert. Das Gegenteil war der Fall. Viele von ihnen wurden enteignet bzw. das Weideland für ihre Schafe wurde einfach für Hotels et cetera verbaut. Die meisten Angestellten in den Hotels, Casinos, Restaurants und Tauchschulen sind Auswärtige aus anderen Teilen Ägyptens. Vor diesem Hintergrund haben die Beduinen die Chance, Waren nach Gaza hineinzuschmuggeln, mit beiden Händen ergriffen. Der Handel, der Schmuggel inbegriffen, liegt ihnen als Nomaden sowieso nah. An dem Geschäft verdienen sie seit einigen Jahren ganz gut. Von daher kann ein Teil der Überfälle und dergleichen, die im Sinai passieren, auf Rivalitäten zwischen verschiedenen Schmugglerbanden zurückzuführen sein.

Ich habe nicht viel für den Schwarzmarkt im Sinai übrig, denn er geht mit extrem überhöhten Preisen für die Gazabewohner einher. Doch gleichzeitig wird jeder von ihnen sagen, daß die unterirdischen Tunnel, über die die Waren vom Sinai herbeigeschafft werden, zu den Lebensadern des Gazastreifens geworden sind. Ohne sie würde die Blockade der Israelis um einiges härter greifen. Man macht sich hier in Europa keinen Begriff, unter welch unwürdigen Bedingungen die Menschen in Gaza leben müssen. Ich vergesse niemals das niederschmetternde Gefühl, als ich 2009 in Rafah war und die erbärmlichen Häuserruinen sah, welche die israelischen Bomben und Raketen hinterlassen hatten und in denen ganze Familien wohnten. Ich habe mit einigen der armen Mütter, die in solchen zusammengeschossenen Wohnhäusern ihre Kinder großzuziehen versuchten, gesprochen. Sie sagten, daß ohne die Tunnel für sie das Leben, das ohnehin schwer genug war, unerträglich wäre.

Luftaufnahme des ägyptischen Ferienortes Scharm El-Scheich - Foto: cpadula, freigegeben nach Creative Commons Attribution 2.0 Geneneric via Wikimedia Commons

Badeparadies Scharm El-Scheich
Foto: cpadula, freigegeben nach Creative Commons Attribution 2.0 Geneneric via Wikimedia Commons

SB: Aber was ist die Hauptursache der Gewaltexplosion im Sinai? Versucht das Militär, den Schmugglern das Geschäft kaputtzumachen? Versucht dort Al Kaida bzw. der IS Fuß zu fassen? Oder haben wir es mit einem genuinen Aufbegehren der beduinischen Stämme gegen die Zentralregierung in Kairo zu tun?

TNC: Alle die von Ihnen genannten Komponenten spielen eine Rolle. Hinzu kommt, daß auch die Israelis auf der Sinai-Halbinsel mitmischen und dort überall ihre Spitzel und Hilfswilligen haben. Seit der Revolution in Ägypten 2011 hat es eine ganze Reihe von Bombenanschlägen im Sinai, vor allem im Norden, gegeben, die nicht wenige Soldaten das Leben gekostet haben. In den großen Medien werden dafür islamistische Gruppen, die von Gaza aus operieren oder dort ihre Verbündeten haben, verantwortlich gemacht. Da habe ich meine Zweifel. Die Menschen in Gaza wären doch verrückt, das ägyptische Militär gegen sich aufzubringen und damit den Schmuggelbetrieb durch die Tunnel zu gefährden. Die Hamas wäre mit Sicherheit strikt dagegen. Von daher liegt der Verdacht nahe, daß die Israelis die Gewalt auf der Sinai-Halbinsel schüren, um die Bedingungen für die Menschen im Gazastreifen zu erschweren und die dortige Hamas-Regierung zu schwächen.

In Gaza gibt es wegen der Perspektivlosigkeit ein massives Drogenproblem. Das Rauschgiftgeschäft und die vielen Drogenabhängigen in Gaza bieten dem israelischen Geheimdienst vielfache Möglichkeiten der Informationsbeschaffung und Beeinflussung. Vielleicht haben Sie von der Praxis der Israelis gehört, Palästinenser von der Westbank nach der Haftentlassung ins Exil zu schicken. Was meinen Sie, warum sie das tun? Nun, solche armen Kerle werden unter der Androhung, wenn sie nicht mitmachen, könnte ihrer Familie im Westjordanland etwas zustoßen, zum Spitzeldienst für die israelischen Geheimdienste gezwungen. Deswegen hat die Hamas das ganze Tunnel-Netzwerk in Gaza aufgebaut, um sich unbeobachtet von den israelischen Satelliten, Drohnen und Spitzeln militärisch organisieren zu können. Als Dervla 2009 ihre Dokumentation machte, kamen wir mit Vertretern der Al-Qassam-Brigaden, des militärischen Flügels der Hamas, zusammen. Das waren schon respekteinflößende Figuren. Sie trugen Tarnanzüge und waren fast gänzlich vermummt. Wir konnten nur ihre Augen und ihre Hände sehen.

Wenn ein Volk derart unterdrückt wird wie die Palästinenser in Gaza, macht das erfinderisch. Wie man beim letzten Gazakrieg im vergangenen Sommer gesehen hat, ist es dem militärischen Flügel der Hamas gelungen, mit Hilfe ihres Tunnelsystems dem israelischen Militär einige böse Überraschungen zu bereiten. Viele Experten waren rückblickend der Meinung, daß die Regierung von Benjamin Netanjahu wegen der vom Tunnelsystem der Hamas ausgehenden Gefahren auf einen großangelegten Vorstoß nach Gaza hinein verzichtet hat.

Schon zuvor waren die Tunnel bei der Entführung des jungen israelischen Soldaten Gilad Shalit benutzt worden. Durch die Geiselnahme von Shalit bzw. durch seine Freilassung konnte die Hamas Dutzende palästinensische Häftlinge aus den israelischen Gefängnissen befreien. Ich will die Hamas nicht beschönigen. Das sind ganz bestimmt keine Engel. Aber immerhin stellen sie die letzte Verteidigungslinie der Menschen in Gaza dar. Im Westjordanland gibt es keinen Widerstand gegen die Besatzungspolitik mehr, seit die dort regierende PLO mit den israelischen Behörden kooperiert.

SB: Ich würde Sie gern abschließend fragen, wie der israelisch-palästinensische Konflikt Ihrer Ansicht nach beigelegt werden könnte und ob Sie eine solche Lösung für politisch realisierbar halten.

TNC: Ohne eine Rückgabe der besetzten palästinensischen Gebiete und einen Rückzug Israels hinter die Grenzen von 1967 wird es meines Erachtens keinen Frieden geben. Die Forderung der Israelis nach einem demilitarisierten Staat für die Palästinenser werden diese nicht akzeptieren, da es für sie mit einer der stärksten Militärmächte vor der Haustür keine Sicherheit gäbe. Es muß eine Lösung auf Augenhöhe sein. Der palästinensische Staat soll genauso souverän wie Israel und alle anderen UNO-Mitgliedsländer mit Armee, Polizei, Verwaltung und allem, was dazugehört, sein. Wenn man die Geschichte des Friedensprozesses betrachtet und sieht, wie sehr die Hoffnungen, welche die Oslo-Verträge weckten, zunichte gemacht wurden, muß man feststellen, daß die Palästinenser unter der Führung von Jassir Arafat und der PLO den Israelis gegenüber viel zu entgegenkommend waren. Stets scheinen es die Palästinenser zu sein, die geben, während die Israelis immer nur nehmen. Seit Oslo hat sich die Zahl der jüdischen Siedler in der Westbank einschließlich Ostjerusalem von 280.000 auf 770.000 fast verdreifacht.

SB: Man könnte den Eindruck bekommen, daß die Israelis die Palästinenser in Gaza am liebsten nach Ägypten und die auf der Westbank nach Jordanien abschieben würden.

TNC: Die Entwicklung läuft in diese Richtung und wird weiterhin so laufen, solange die Amerikaner die Israelis gewähren lassen. Die USA spielen seit mehr als zwanzig Jahren die Rolle des "ehrlichen Maklers" zwischen den beiden Seiten, aber ergreifen, wenn es hart auf hart geht, stets Partei für Israel. Die EU verhält sich genauso unanständig, redet viel von Vermittlung und läßt die Palästinenser im Notfall stets in Stich. Was ich den Palästinensern wünsche und was sie selbst gern hätten, wären ein eigener Staat mit einer eigenen Flagge, eigene Reisepässe und die Verwirklichung ihres Rechts auf Selbstbestimmung. Egal wie groß oder klein das Territorium dieses Staates ausfällt, müssen sie dort Herr im eigenen Hause sein.

Ich habe mit Mitgliedern der Hamas-Führung gesprochen und weiß, daß die ganze Diskussion um deren Gründungscharta ein Ablenkungsmanöver ist. Sie wollen die Israelis nicht verjagen und das ganze Gebiet zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer erobern, denn sie wissen, daß ein solches Ziel völlig illusorisch ist. Statt dessen wollen sie, wie gesagt, einen eigenen Staat, den sie in Ruhe selbst regieren bzw. verwalten können. Sie wollen Israel nicht angreifen, halten eine eigene Armee und Polizei aus Sicherheitsgründen aber für absolut unerläßlich. Deswegen lehnen sie die Forderung nach einem demilitarisierten palästinensischen Staat kategorisch ab. Sie wollen in Ruhe gelassen werden und versprechen dafür im Gegenzug, Israel in Ruhe zu lassen. Sie wollen auch nicht mehr auf Hilfsorganisationen angewiesen sein, sondern die Wirtschaft Palästinas soweit ausbauen, daß die Menschen sich dort selbst über die Runden bringen können. Sie wollen in Frieden mit den Nachbarstaaten Israel, Ägypten und Jordanien leben und gleichzeitig wie die Bürger aller anderen Staaten auf der Welt uneingeschränkte Reisefreiheit genießen. Mehr wollen die Palästinenser nicht, und ich kenne keinen vernünftigen Grund, warum ihnen das nicht gewährt werden sollte.

SB: Recht vielen Dank, Treasa Ní Cheannabháin, für dieses ausführliche Interview.

Straßenkreuzung in Bearna, an der einen Ecke das Hotel Twelve Pins - Foto: © 2015 by Schattenblick

Bearna - der Eingang zur Connamara-Gaeltacht
Foto: © 2015 by Schattenblick


Fußnote:


[1] "Irish woman to face military court", BBC News, Saturday, 9 February 2008, 17.50 GMT
http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/northern_ireland/7236865/stm.

1. Februar 2015


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang