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INTERVIEW/152: "Pfade durch Utopia" - was wäre wenn - 1 (SB)


Neue Aufbrüche nach der Antiglobalisierungsbewegung

Interview mit Isabelle Fremeaux und John Jordan in Hamburg-Altona am 29. August 2012

Isabelle Fremeaux und John Jordan haben ihre Erfahrungen, die sie im Jahr 2006 auf einer Reise zu alternativen Projekten und Gemeinschaften in Europa gemacht haben, in Film und Text dokumentiert. "Pfade durch Utopia" wurde dieses Jahr auf deutsch veröffentlicht [1]. Auf einer Tour zur Präsentation des Buches und des Films [2] machten sie Station in Hamburg, wo sie dem Schattenblick einige Fragen zu ihrer Geschichte als Aktivisten, der Entstehung ihres Buch- und Filmprojekts und ihrer künftigen Pläne in einer alternativen Lebensform beantworteten.

Gespräch im Garten des Nautilus-Verlags - Foto: © 2012 by Schattenblick

John Jordan, Isabelle Fremeaux
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Könntet ihr etwas zu eurem politischen Hintergrund sagen und erklären, warum ihr euch für alternative Lebensformen oder Lebensweisen interessiert?

John Jordan: Ich war als Künstler zunehmend von dem Mangel an wirklicher Veränderung im Kunstbetrieb enttäuscht. Die Kunst ist zwar mit sozialen und ökologischen Problemen befaßt, aber mehr in Form von Performances und künstlerischen Darbietungen. Sie tut nicht genug dafür, die Probleme, denen sie sich widmet, auch zu bewältigen. Daran war ich nicht interessiert, und so habe ich mich in den 90er Jahren relativ spät etwa im Alter von 30 in einer Kampagne gegen den Bau einer Autobahn engagiert, die durch einen Bezirk in Ost-London führen sollte. Ihr sollten 350 Häuser und mehrere alte Wälder weichen. Dabei habe ich Direct Action und Squatting kennengelernt und entdeckt, daß der Einsatz des Körpers in diesen Situationen künstlerischen Performances sehr verwandt ist.

Für mich war es perfektes Theater, und gleichzeitig hat es etwas verändert. Die ganze Bildsprache und alle Dramatik waren präsent, wenn man den Bulldozern, die den Wald und all die Häuser zerstören wollten, um eine Autobahn zu bauen, den eigenen Körper in den Weg stellte. In diesem Zusammenhang entdeckte ich die Earth-First-Politik, radikale Ökologie und Anarchismus. In den 90er Jahren waren wir auch in einer Gruppe aktiv, die sich Reclaim the Streets nannte. Ihr Anliegen, die Straße auf die gleiche Weise, wie wir Recht auf Wasser, Luft oder Land einfordern, als Allgemeingut zu beanspruchen, führte zu einer regelrechten Massenbewegung. Da wir die Autos als eine Art Privatisierungsmacht betrachteten, forderten wir, die Straße von ihnen zurückzuerhalten. Wir veranstalteten große illegale Straßenparties, zu denen zehntausende Leute strömten.

Reclaim the Streets war eine der Vorläuferinnen der Antiglobalisierungsbewegung, in deren Organisation ich mich intensiv einbrachte. Anschließend war ich im Rahmen des Kollektivs Notes from Nowhere daran beteiligt, ein Buch zu verfassen, das der Nautilus-Verlag ebenfalls publiziert hat. Unter dem Titel "We are Everywhere: the irresistable rise of global anticapitalism" [3] haben wir einen Blick auf die Geschichte der Antiglobalisierungsbewegung geworfen, indem wir die Geschichten der Menschen erzählt haben, die daran beteiligt waren. Es ging weniger um komplexe politische Theorie als um persönliche Geschichten, um Essays und Bilder.

Dann engagierten Isa und ich mich in dem Kollektiv "Laboratory of Insurrectionary Imagination". Dort bringen wir Künstler und Aktivisten zusammen, um neue Formen des zivilen Ungehorsams zu schaffen. So gehörten wir zu den ersten, die die Clown Army entwickelten. Wir benutzten Fahrräder, um zivilen Ungehorsam zu üben und Strategien des sozialen Widerstands neu zu erfinden, weil wir glauben, daß, um Einfluß auf den Lauf der Geschichte zu nehmen, diese Form des Kampfes immer wieder neu überdacht werden muß.

SB: Ist die Clandestine Insurgent Rebel Clown Army, wie sie mit vollem Namen genannt wird, weiterhin aktiv?

JJ: Ja, wir desertierten. Wir waren zugleich die ersten Begründer und ersten Deserteure, aber es gibt Clown Armies überall auf der Welt, in Neuseeland, in Chile, in Deutschland, in Belgien, in Frankreich. Doch die originäre Idee wurde damals entwickelt und wurde dann auf eigene Füße gestellt.

SB: Isabelle, könntest du etwas über deine Geschichte erzählen?

Isabelle Fremeaux: Mein Engagement in aktivistischen Praktiken wie Direct Action hatte mit dem Buch, an dessen Entstehung John beteiligt war, zu tun. Ich war an Studentenprotesten beteiligt und entwickelte als Dozentin an der Universität neue Herangehensweisen für den Umgang mit politischen Konflikten. Daß ich nicht direkt mit den Problemen, die ich untersuchte, zu tun bekam, frustrierte mich zusehends. Nachdem ich ohne konkretes Ergebnis Gelegenheiten gesucht hatte, selbst aktiv zu werden, stieß ich auf das Buch "We Are Everywhere" und wußte sofort, daß das genau die Bewegung ist, für die ich mich einsetzen wollte.

Zufälligerweise fand zu dieser Zeit das Europäische Sozialforum in Paris statt. Dort wurde ein Workshop vom Herausgeberkollektiv Notes from Nowhere abgehalten. John präsentierte das Buch und ich bat ihn um ein Interview. Durch diese Verbindung hatte ich teil an den Bewegungen, in denen er aktiv war, und schon bald darauf faßten wir den Entschluß, das "Laboratory of Insurrectionary Imagination" ins Leben zu rufen. Das hatte seinen tieferen Grund darin, daß das Europäische Sozialforum, das ein Jahr später in London stattfand, von trotzkistischen Gruppen übernommen wurde. Ich war völlig entsetzt darüber, daß sich das Europäische Sozialforum zum Gegenteil dessen entwickelte, was es zu sein beanspruchte. Diese Gruppen setzten nicht nur einen sehr rigiden, hierarchisch strukturierten und undurchschaubaren Prozeß durch, ihr kulturelles Programm war auch sehr langweilig. Daher fand ich es wichtig, einen Freiraum zu schaffen, der die Art von Politik und Kultur repräsentierte, für die ich eintreten konnte.

SB: Mein Eindruck ist, daß die trotzkistische Linke in Britannien recht groß ist. Wie ist das Verhältnis zwischen ihren Gruppen und Parteien und der ökologischen und antiautoritären Bewegung heute? Stellt das immer noch ein Problem dar?

IF: Es ist ein Problem, aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, daß die Trotzkisten viel politischen Einfluß haben. Zwar versuchen sie immer, sich an die sozialen Bewegungen anzuhängen, doch haben sie damit keinen großen Erfolg.

JJ: Nun, sie haben doch eine recht zerstörerische Wirkung. Die Antikriegsbewegung ist ein klassisches Beispiel dafür. Als gegen den Golfkrieg 2003 mobilisiert wurde, wollte die Mehrheit daraus eine gewaltfreie Bewegung der Direkten Aktion machen. Viele tausend Menschen wären dazu bereit gewesen, mit gewaltfreien Aktionen gegen den Krieg zu demonstrieren, und das hätte starke Wirkung gehabt. Doch die Trotzkisten kooptierten diese Initiative, indem sie das Vorbereitungstreffen übernahmen, bestimmte Aktivisten nicht zu Wort kommen ließen und direkte Aktionen verhinderten. Meiner Ansicht nach trägt die Socialist Workers Party (SWP) einen Teil der Verantwortung dafür, daß der Golfkrieg weiterging, weil sie die Entstehung einer Massenbewegung der Direkten Aktion verhinderten, die meiner Ansicht nach sehr viel hätte bewirken können. Deswegen halte ich die Partei für sehr destruktiv.

Isabelle Fremeaux - Foto: © 2012 by Schattenblick

Aus der Theorie in die Praxis
Foto: © 2012 by Schattenblick

IF: Aber auch die ökologischen und antiautoritären Bewegungen stellen meiner Ansicht nach eher eine Behinderung dar, als daß sie progressive Entwicklungen möglich machen. Sie sind stark in der Studentenbewegung verankert und sind unproduktiv, weil sie eine sehr hohe Fluktuation haben. Die Studenten verändern ihre Ansichten und engagieren sich nicht dauerhaft. Doch die Bewegung gegen die Studiengebühren letztes Jahr war sehr interessant, weil sich zeigte, daß sie stark von antiautoritären Kräften beeinflußt war. Doch auch dort hat sich gezeigt, daß eine Zusammenarbeit mit den Trotzkisten völlig unmöglich ist. Autonome Aktionsformen und Direkte Aktion halten sie für höchst problematisch und versuchen sie zu verhindern. Ich finde, man sollte ihnen nicht mehr Bedeutung zukommen lassen, als sie tatsächlich haben, aber es ist schon ein Problem.

SB: Wie beurteilt ihr die Möglichkeit, daß direkte Aktionen wie Blockaden und Besetzungen unter jungen Leuten mehr Zuspruch finden, daß es sozusagen eine neue Ära des radikalen Aktivismus gibt?

JJ: Das hängt davon ab. Wenn man das weltweite Niveau der Repression betrachtet, der jegliche Art von libertärer, ökologischer Direkte-Aktion-Bewegung ausgesetzt ist, dann ist die Repression im Verhältnis zur Größe der Bewegungen stets stärker. Diese sind meist recht klein, und die dagegen gerichtete Staatsgewalt ist sehr stark. Das hat zum Teil damit zu tun, daß die Regierungen wissen, daß die ökologische Krise immer schlimmer werden wird und sie daher befürchten, daß sich Massenbewegungen formieren, um Widerstand gegen diesen Niedergang zu leisten. Sie wissen auch um die Mobilisierungskraft, die die ökologische Idee entfalten kann, da das Ende der Sowjetunion unter anderem von der Katastrophe von Tschernobyl und der daraus entstandenen Opposition verursacht wurde. Insbesondere in der DDR war die Umweltbewegung ein wichtiger Teil der allgemeinen Bürgerrechtsbewegung.

Daher glaube ich, die Regierungen versuchen weltweit, einer solchen Entwicklung im Frühstadium entgegenzutreten, indem sie libertäre ökologische direct action-Gruppen massiv unterdrücken, bevor sie größer werden und Einfluß auf die Gesetzgebung hinsichtlich der Nutzung von Land und Ressourcen nehmen. Ich glaube, es ist unmöglich, verläßliche Vorhersagen zu sozialen Bewegungen zu treffen. Zum Beispiel hat niemand die Occupy-Bewegung vorhergesehen.

IF: Der Impuls ist da, das ist offensichtlich, wenn man die Occupy-Bewegung betrachtet. Ich war in London ein wenig an ihr beteiligt und bin dort auf ein starkes Interesse an autonomen Aktionen und an allem, was den Anspruch auf Rückgabe der Macht durch Direkte Aktion erhebt, ohne die Institutionen zu stürzen und zu ersetzen, gestoßen. Natürlich gab es viele Debatten in der Occupy-Bewegung, aber die Politiken der Autonomie waren sehr präsent.

SB: Die Enttarnung des Undercoveragenten Mark Kennedy hat gezeigt, wie groß die Bemühungen der Regierungen sind, widerständige soziale Bewegungen zu observieren und zu unterwandern. Für die Aktivistinnen und Aktivisten, die mit ihm zusammengearbeitet haben, hat das zum Teil sehr negative Auswirkungen gehabt. Könntet ihr euch vorstellen, daß das verbindlichere Leben in alternativen Gemeinschaftsprojekten auch dazu beiträgt, soziale Praktiken zu entwickeln, die das Eindringen von Polizeispitzeln und Geheimdienstinformanten verhindern?

IF: Ich denke, das hängt davon ab, worüber man im einzelnen redet. Eine Bewegung wie Occupy ist meiner Ansicht nach durchlässig, es gibt so viele Menschen, die kommen und gehen, daß derartige Schutzfunktionen praktisch nicht zu verwirklichen sind. Was ich persönlich erlebt habe ist, daß man grundlegende Vorkehrungen gegen solche Maßnahmen getroffen hat, gleichzeitig aber auch ein starkes Bedürfnis dafür vorherrscht, der Paranoia zu widerstehen, die von diesen Begebenheiten ausgeht. Es ist eine Sache, die Methoden der Polizeiinfiltration zu untersuchen, mit der die jeweiligen Undercoveragenten vorgehen, aber eine ganz andere, mit all der Paranoia umzugehen, die aufkommt, wenn sie enttarnt werden. Das ist eine sehr effiziente Art und Weise, soziale Bewegungen zu irritieren und zu zerstören. Wenn du erst einmal nicht mehr über alles reden willst, über das du mit deinen Freunden normalerweise sprichst, oder du umfassende, zeitaufwendige und sehr langweilige Sicherheitsmaßnahmen treffen mußt, bevor du irgend etwas absprichst, dann geht natürlich die Kraft der Mobilisierung verloren, und genau das wollen die Regierungsbehörden. Ich kann mir schon vorstellen, daß einige Bewegungen Konsequenzen aus Vorfällen wie diesem gezogen haben, aber letztendlich lassen sich Praktiken gegen Infiltration leichter entwickeln, wenn sich die Menschen sehr gut kennen. Das erfordert aber ein gewisses Maß an Nähe, also ist es schwierig zu verwirklichen.

John Jordan - Foto: © 2012 by Schattenblick

Vom Künstler zum Aktivisten
Foto: © 2012 by Schattenblick

JJ: Ich glaube allerdings nicht, daß es wirklich funktioniert. Ich habe erst kürzlich mit einer Frau Mitte 50 in unserem Workshop gesprochen, die in den 80er Jahren in der Bürgerrechtsbewegung in Ostdeutschland aktiv war. Wir unterhielten uns über ihre Erfahrungen mit der Stasi und über Mark Kennedy. Meiner Ansicht nach kann man nicht wirklich wissen, mit wem man es zu tun hat. Man kann Vertrauen entwickeln, aber Mark zum Beispiel war mit Frauen zusammen, die sehr sensibel und sehr offen waren, und er war in der Lage, sie hinters Licht zu führen. Das zu verhindern ist also sehr, sehr schwierig.

Ich glaube jedoch, daß wir in gewisser Weise die Macht haben, eine Kultur zu schaffen, durch die die Agenten der Unterwanderung ihrerseits verführt werden. Das ist auch Mark Kennedy ein wenig so ergangen, oder das ist zumindest die Geschichte, die er erzählt. Die ist natürlich nur zum Teil wahr wie alle Legenden, aber es stimmt, daß er sehr enge Freundschaften mit einigen Aktivistinnen und Aktivisten unterhielt, obwohl er sie auf eine schizophrene Weise die ganze Zeit observierte. Als er ging, hatte er keine Freunde, und ich glaube, er vermißt diese radikalen Freundschaften. Die Camps, die Besetzungen und all das können wirklich zu radikalen Freundschaften führen, dennoch können sie niemals vollständig gegen Infiltration abgeschottet werden. Das ist wohl unmöglich.

IF: Und ich glaube auch, daß die Bewegungen dadurch lernen, Praktiken zu entwickeln, die keines so hohen Grades an Geheimhaltung bedürfen. Zu einigen Aktionen in Britannien wird öffentlich aufgerufen, so daß den Infiltratoren kaum etwas bleibt, worüber sie zu berichten haben.

(wird fortgesetzt)

Türschild Nautilus-Verlag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Zu Gast beim Nautilus-Verlag
Foto: © 2012 by Schattenblick


Fußnoten:
[1] REZENSION/592: Isabelle Fremeaux / John Jordan - Pfade durch Utopia (SB) http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar592.html

[2] BERICHT/003: "Pfade durch Utopia" - Selbstbestimmtes Gemeinschaftsleben in Europa (SB) http://www.schattenblick.de/infopool/medien/report/mreb0003.html

[3] Notes from Nowhere (Hg.): Wir sind überall. weltweit.unwiderstehlich.antikapitalistisch http://www.edition-nautilus.de/programm/politik/buch-978-3-89401-536-7.html

24. Dezember 2012