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INTERVIEW/145: Kapitalismus final - AgitProp 2012 (SB)


Selbstorganisiert und revolutionär - Jugendarbeit ganz anders

Interview am 23. Oktober 2012 in Hamburg-St. Pauli



Kinder und Jugendliche werden frühzeitig auf die Anforderungen einer Gesellschaft zugerichtet, die Erwerbsarbeit als zentrale Lebensaufgabe propagiert, obwohl sie immer weniger Möglichkeiten bereitstellt, sie nicht unter prekären Bedingungen zu verrichten. In Schule, Ausbildung und Studium werden vor allem Anpassungs- und Leistungsbereitschaft eingeübt. Ganz und gar nicht gefragt ist eine Kritik an den herrschenden Verhältnissen von so grundsätzlicher Art, daß sie sich nicht in ihrem Sinne nützlich und gewinnbringend umdrehen läßt. Wer das Prinzip der Stärke ablehnt, laut dem nur gut lebt, wer sich in der sozialen Konkurrenz gegen den andern durchsetzt, dem wird damit gedroht, sein Leben in Armut und Not fristen zu müssen. Ausgegrenzt ins Hartz IV-Abseits und ruhiggestellt durch die Apparate massenmedialer Beschwichtigung fungieren die angeblich Überflüssigen als warnendes Negativbeispiel für die Integrationswilligen und Manövriermasse zur Kostensenkung der Lohnarbeit.

Das streitbare Eintreten für die Unterdrückten und Ausgebeuteten in aller Welt, für sozial schwache Menschen, deren Existenz als unproduktiv und daher überflüssig gebrandmarkt wird, die Entwicklung selbstbestimmten und solidarischen Handelns stehen nicht auf dem Lehrplan. Selbst die Ideale des bürgerlichen Humanismus werden zu einer karitativen Almosenkultur verkehrt, um die immer offener hervortretenden Bruchlinien kapitalistischer Vergesellschaftung zu kitten, ohne den zentralen sozialen Konflikt zum Streitfall politischer Auseinandersetzung machen zu müssen.

Für eine Einbindung jener Jugendlichen, die als gesellschaftlich produktive Kräfte angesehen werden, sind politische Parteien, staatliche Institutionen im breiten Spektrum von Sozial- und Bildungseinrichtungen bis Bundeswehr und Regierungsbehörden, staats- und wirtschaftsnahe Vereine und NGOs sowie von kapitalkräftigen Sponsoren unterhaltene Stiftungen zuständig. Die dort eröffneten Job- und Karrierechancen absorbieren einen Großteil der kritischen Intelligenz, die noch das Potential für eine emanzipatorische Gesellschaftsveränderung aufweist, und machen sie zu Teilhabern an jener Herrschaft, die sie einst aus verletztem Gerechtigkeitsgefühl ablehnten.

Eine nicht mit diesen bewährten Mitteln zu korrumpierende Politisierung der Jugend sollte, wenn es nach den staatlichen Agenturen ideologischer und repressiver Kontrolle geht, gar nicht erst stattfinden. Wo dies dennoch der Fall ist, nehmen es die Aktivistinnen und Aktivisten selbst in die Hand, was sie befähigt, sich über ihre gesellschaftliche Situation klar zu werden und sie zu überwinden. Im Rahmen der Hamburger Veranstaltungsreihe "Kapitalismus in der Krise" [1] hatte der Schattenblick Gelegenheit, einem Aktivisten der Roten Szene Hamburg (RSH), die die Folgen von Sozialkürzungen für Hamburger Jugendeinrichtungen zum Thema ihres Beitrags [2] gemacht hat, einige Fragen zum Selbstverständnis dieser linken Jugendgruppe zu stellen.

Grafitti mit der Signatur RSH - Foto: http://roteszenehamburg.blogsport.de/category/ueber-unskontakt/

Chiffren des Aufbegehrens in Bewegung
Foto: Rote Szene Hamburg (RSH)

Schattenblick: Max, wie seid ihr dazu gekommen, an dieser Veranstaltungsreihe teilzunehmen und was versprecht ihr euch davon?

Rote Szene Hamburg: Man hat uns angesprochen, ob wir daran teilnehmen möchten. Daß wir uns letzten Endes dazu entschlossen haben, lag daran, daß das Thema Krise in den bürgerlichen Medien zwar präsent ist, aber nicht aus einer marxistischen Sicht reflektiert wird. Gerade jungen Leuten, die wir mit unserer Politik erreichen wollen, fehlt ein anderer Blick auf die Krise des Kapitalismus. In der Veranstaltungsreihe "Kapitalismus in der Krise" haben wir die Möglichkeit gesehen, die verschiedenen Facetten der Krise und ihre Aussagekraft für den Kapitalismus insgesamt zu beleuchten. Dieses Wissen Menschen zugänglich zu machen, war unsere Motivation.

SB: Ihr habt euch mit dem Bildungsstreik 2009 konstituiert und versteht euch selbst als eine Jugendgruppe. Gehört ihr alle der jüngeren Generation an?

RSH: Ja, das tun wir, schon aufgrund unserer Geschichte. Mit dem Bildungsstreik haben sich diese Strukturen allmählich herausgebildet. Seitdem sind wir eine Jugendgruppe. Und noch immer liegt unser Hauptaugenmerk auf der Politik, die wir mit Jugendlichen und jungen Menschen machen.

SB: Waren die Leute, mit denen ihr zusammengekommen seid, schon vorher im linken Sinne politisiert, oder haben sich diese Positionen erst im Rahmen eurer Entstehungsgeschichte herausgebildet?

RSH: Das war sehr durchwachsen. Einige waren schon sehr politisch, andere weniger und manche sind überhaupt erst durch diesen Schulstreik mit einer weiterführenden Politik in Berührung gekommen. Unsere Geschichte ist daher ein Prozeß gewesen. Die grundlegenden Positionen, für die wir jetzt kämpfen, haben wir am Anfang unserer gemeinsamen politischen Arbeit noch nicht vertreten. Sie sind erst in Diskussionen erarbeitet wurden, eben weil zu Beginn sehr verschiedene Menschen zusammengekommen sind. Diese Leute sind noch da, aber sie haben sich in gemeinsamen Diskussionen immer mehr Positionen erschlossen.

SB: Seid ihr in eurem politischen Interesse allgemein antikapitalistisch oder marxistisch in einem spezielleren Sinne?

RSH: Wir vertreten marxistische Positionen und üben eine entsprechende Kapitalismuskritik. Der größere Teil von uns steht für einen klaren Marxismus-Leninismus.

SB: So etwas scheint heute anachronistisch zu sein, weil es im wesentlichen mit dem Staatssozialismus der DDR und der Sowjetunion assoziiert wird. Hast du den Eindruck, daß es unter Jugendlichen wieder stärkeres Interesse gibt, sich wieder an der Basis des kommunistischen Gedankens zu orientieren?

RSH: Wir werden immer wieder mit Aussagen wie, das hat schon in der DDR nicht geklappt, die Sowjetunion ist untergegangen und überhaupt wurden viele Verbrechen begangen, konfrontiert. Natürlich setzen wir uns mit der Geschichte des Realsozialismus auseinander. Unser Hauptaugenmerk liegt jedoch darauf, überhaupt eine fundamental andere Analyse des Kapitalismus aufzuzeigen als die, die in den bürgerlichen Medien und damit natürlich auch in den Köpfen der meisten jungen Menschen vorherrschend ist. Zu Beginn stößt man auf Vorurteile und Ablehnung. Daher sehen wir es als unsere Aufgabe an, in der konkreten Diskussion darzustellen, was Marxismus bedeutet und was eine marxistische Analyse des Kapitalismus ist, eben weil der Realsozialismus immer im Vordergrund steht, wenn es um den Marxismus-Leninismus geht. Vieles, was an Theorie und Inhalten dahintersteckt, ist gar nicht bekannt, wird verschleiert oder eben stets auf praktische Dinge reduziert. Wir versuchen daher, uns auf die wirklichen Inhalte des Marxismus zu konzentrieren, weil darüber bei den meisten Menschen schlicht Unwissenheit vorherrscht.

SB: Betreibt ihr Bildungsarbeit, studiert die Literatur und erarbeitet euch richtiggehendes Wissen über den Marxismus?

RSH: Ja natürlich. Es gibt dazu verschiedene Formen. Wir nehmen an Veranstaltungen teil oder organisieren selber welche, aber das wichtigste ist natürlich immer die Diskussion miteinander, auch ganz konkret anhand von Texten in Form von Lesekreisen. Es geht darum, gemeinsam Texte zu studieren, gemeinsam zu diskutieren und sich so gemeinsam zu bilden, um dann im Endeffekt gemeinsame politische Positionen zu entwickeln, die schließlich in unserer politischen Praxis ihren Ausdruck finden.

SB: Es gibt gerade unter jüngeren Linken im autonomen Bereich eine ausgeprägte Staatskritik, die der Auseinandersetzung mit marxistischen Inhalten gerne entgegengehalten wird. Wie würdet ihr darauf antworten, wenn man euch anlastete, mit eurem politischen Kampf letztlich wieder eine autoritäre Herrschaftsform anzustreben?

RSH: Wir verstehen uns als Kommunisten und Marxisten und streben die klassen- und herrschaftslose Gesellschaft an. Das zeichnet den Marxismus aus, aber dazu bedarf es einer gründlichen Analyse der Verhältnisse und auch eines Plans, wie man diese herrschafts- und klassenlosen Gesellschaft erreicht. Für uns ist das die Revolution, der Klassenkampf und eben auch der Sozialismus, den wir erst einmal erstreiten müssen. Aber dieser Kampf darf nicht auf den Realsozialismus fokussiert sein, denn so werden wir in unserer Position wieder auf die Forderung nach einem anderen Staat, der dann immer noch ein Staatswesen wäre, reduziert. Wir sind Marxisten und Kommunisten und streben die herrschafts- und klassenlose Gesellschaft an, aber natürlich wissen wir auch, daß es bis zu diesem Ziel eines bestimmten Weges und Plans bedarf.

SB: Habt ihr ein Verhältnis zu den Parteien, die im weitesten Sinne in diese Richtung streben, oder haltet ihr euch lieber an euch selbst?

RSH: Wir halten uns vorwiegend an uns selbst, aber das schließt natürlich Organisationsformen nicht aus. Wir wissen, daß es für die Revolution auch einer kommunistischen Partei bedarf. Für uns ist das Parlament aus zweierlei Gründen keine Bühne für den Klassenkampf, zum einen, weil wir eine Jugendgruppe sind, und zum anderen, weil die Möglichkeiten dazu in der BRD viel zu eingeschränkt sind. Wir stellen die Machtfrage auf der Straße.

SB: In der Veranstaltung wurde auch über Soziale Arbeit und offene Jugendarbeit referiert. Betreibt ihr in diesem Sinne Jugendarbeit oder seid ihr als politische Organisation schon darüber hinaus?

RSH: Jeden Dienstag öffnen wir ab 18 Uhr im Internationalen Zentrum B5 unser Café. Dort gibt es günstige Getränke und Essen, aber ohne Konsumzwang, was mittlerweile schon eine Besonderheit ist. Wo gibt es noch Einrichtungen, die für Jugendliche offen sind, gerade wenn es kälter wird, ohne daß sie genötigt sind, überteuerten Latte macchiato zu kaufen? Mit dem Café schaffen wir einen Raum zum Entspannen und Diskutieren, wo sich Leute kennenlernen und politisch austauschen können. Das ist sicherlich auch eine Form von Jugendarbeit, nur eben nicht in der Art, wie sie die Sozialbehörde mitfinanziert.

SB: Geht ihr auch in Schulen hinein?

RSH: Wir sind natürlich auch dort durch Leute von uns, die noch zur Schule gehen, präsent. Wir sind aber auch in die Schulen gegangen, um mit Aktionen gegen die Anwerbungs- und Rekrutierungsversuche der Bundeswehr zu demonstrieren.

SB: Welche Erfahrungen habt ihr dort gemacht? Wird das von den Schülern positiv aufgenommen oder eher skeptisch abgelehnt?

RSH: Das ist ganz unterschiedlich. Am einfachsten ist es natürlich, wenn Leute von uns, die dort selber zur Schule gehen, politische Arbeit leisten, weil sonst oftmals ein Abwehrreflex vorherrscht, gerade wenn wir mit einer fundamentalen Position an andere Menschen herantreten. Es ist etwas anderes, wenn jemand von außerhalb kommt und erzählt, wie die Welt funktioniert, als wenn man selbst Schüler dieser Schule oder Teil einer Klassengemeinschaft ist. Dann erzielt man in der Regel größere Erfolge, und es entstehen auch wesentlich fruchtbarere Diskussionen.

SB: Wie schätzt du als jüngerer Mensch die Bereitschaft zum Dialog in deiner Generation ein? Hast du den Eindruck, daß die Leute durch die verschärften Widersprüche im Aufbruch sind, oder herrschen eher Resignation und Rückzug ins Private vor?

RSH: Die Resignation ist auf jeden Fall ein großes Problem. Sie äußert sich zum Beispiel darin, daß sich die Leute ihre eigenen Auswege suchen, die nicht politisch sind, sondern sich auf Hobbys beschränken oder die reale Situation einfach verdrängen. Andererseits ist jedoch auch zu beobachten, daß das Interesse an Politik wieder größer wird, auch wenn Informationen dazu schwer zugänglich sind. Wer sich wirklich für politische Fragen interessiert, aber nur die klassischen bürgerlichen Medien kennt, bekommt das zu hören, was er ohnehin schon immer zu hören bekommen hat. Das interessiert niemanden mehr, aber mit neuen Positionen, die von Gleichaltrigen an Gleichaltrige herangetragen werden, stößt man durchaus auf Interesse.

SB: Auf der Veranstaltung sind auch viele migrantische Jugendliche, die in aller Regel unter einem großen gesellschaftlichen Druck stehen. Gibt es deiner Ansicht nach unter ihnen eine größere Empfänglichkeit für eine Politisierung?

RSH: Ich sehe da keinen großen Unterschied. Ihre Eltern sind nicht selten als Flüchtlinge hierher gekommen, so daß die Politisierung von Haus aus etwas ausgeprägter ist. Für sie ist Politik weniger fremd. Nur weil die Verhältnisse, in denen sie leben, aufgrund von Rassismus schärfer geworden sind, führt das nicht zwangsläufig zu einer politischen Organisierung. Auch dazu bedarf es immer noch eines Anstoßes. Es ist leider kein Automatismus.

SB: Max, vielen Dank für das Gespräch.

Rote Szene Hamburg in Aktion am 1. Mai 2012 - Foto: http://roteszenehamburg.blogsport.de/category/ueber-unskontakt/

Keine Theorie ohne Praxis
Foto: Rote Szene Hamburg (RSH)

Fußnoten:
[1] http://www.kapitalismus-in-der-krise.de/

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0129.html

8. November 2012