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INTERVIEW/141: Todesnacht in Stammheim - Aufbruch & Bambule (SB)


"Dann kamen plötzlich Leute, die sich für uns interessierten."

Interview mit Ulla Jelpke am 18.10.2012 in Berlin



Am 18. Oktober 2012 standen Helge Lehmann und Gottfried Ensslin auf einer Pressekonferenz in Berlin Rede und Antwort zu dem von ihnen am selben Tag in Stuttgart eingereichten Antrag auf Neuaufnahme des Todesermittlungsverfahrens zum Ableben von Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe, die 35 Jahre zuvor unter bis heute ungeklärten Umständen in der JVA Stammheim zu Tode kamen.

Lehmann hat nach einer fünfjährigen, akribischen Recherche 2011 die Ergebnisse in seinem Buch "Die Todesnacht in Stammheim" [1] veröffentlicht. Hinzu kamen seither weitere Indizien, die ebenfalls in dem 31 Punkte umfassenden Antrag Niederschlag fanden. [2] Die Innenpolitische Sprecherin der Fraktion der Linken im Bundestag, Ulla Jelpke, unterstützte den Antrag. Sie erinnerte bei dem Pressegespräch daran, daß es nach der Todesnacht in Stammheim in erheblichen Teilen der Bevölkerung wie auch im Ausland große Zweifel an der offiziellen Version gegeben habe. Daher begrüße sie es sehr, daß heute eine neue Generation kritische Fragen aufwirft und eine unvoreingenommene Untersuchung fordert.

Die Diplom-Soziologin und Volkswirtin Ulla Jelpke war Ende der sechziger Jahre zunächst in der autonomen Frauen- und später auch in der Umwelt- und Friedensbewegung aktiv. Seit 1981 hat sie ehrenamtlich Strafgefangene betreut. 1981 und 1989 wurde sie zur Abgeordneten für die Grün-Alternative Liste (GAL) in die Hamburger Bürgerschaft gewählt. Zwischenzeitlich war sie im Zuge der Rotation drei Jahre als Frauenreferentin bei der GAL-Fraktion tätig. Von 1990 bis 2002 war Ulla Jelpke Mitglied des Bundestages und dort Innenpolitische Sprecherin der PDS-Fraktion. Sie war von 2003 bis 2005 Ressortleiterin für Innenpolitik bei der linken Tageszeitung junge Welt und ist zudem Mitherausgeberin und Autorin der Zwei-Wochen-Zeitschrift Ossietzky.

Seit ihrer Wiederwahl in den Bundestag 2005 ist sie wieder Innenpolitische Sprecherin der Fraktion der Linken im Bundestag.

Ulla Jelpke hat die Politisierung in den Endsechzigern, die damalige Aufbruchstimmung, die Solidarisierung mit den Bewegungen in Lateinamerika und Afrika, den Protest gegen den Vietnamkrieg, die Entstehung verschiedener politischer Gruppierungen in der BRD, darunter die RAF, ihre Entwicklung und ihr Ende als unmittelbare Zeitzeugin miterlebt. Im Anschluß an die Pressekonferenz in Berlin hatte der Schattenblick Gelegenheit, sie nach ihren damaligen Erfahrungen zu fragen, die ihr Leben in gewissem Umfang bis heute bestimmen.

Ulla Jelpke - Foto: © 2012 by Schattenblick

Ulla Jelpke
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Hatten Sie bei der heutigen Pressekonferenz eine stärkere Präsenz der Medien erwartet?

Ulla Jelpke: Ehrlich gesagt nicht. Wenn überhaupt, dürfte das Thema wohl nur dann von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen werden, sofern das Verfahren angenommen wird. Vorerst ist bei den Medien wohl noch eine gewisse Zurückhaltung angesagt. Ich nehme an, daß von ganz oben aus den Redaktionen die Weisung kommt, daß das kein Thema ist, für das man sich engagieren sollte. Ich persönlich halte es jedoch für sehr wichtig. Es handelte sich damals ja um sehr bedeutende Ereignisse in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, die bis heute viele Fragen offengelassen haben.

SB: Auf der heutigen Pressekonferenz wurde deutlich, daß keine Mutmaßungen oder Hypothesen erörtert, sondern Fakten vorgetragen werden sollten, anhand derer zahlreiche Fragen aufgeworfen werden können. Aus dieser Zusammenschau ergab sich eine fundierte Begründung dafür, eine erneute Untersuchung einzuleiten.

UJ: So sehe ich das auch. Natürlich gab es im Jahr 1977 sehr viele Widersprüche. Die Linke war damals tief schockiert angesichts der Ereignisse und hat sehr genau hingeschaut, was gesagt und wie gehandelt wurde. Warum wird so vieles geheimgehalten? Warum gibt es auf derart viele Fragen keine Antworten? Viele von uns konnten sich einfach nicht vorstellen, daß sich die Gefangenen in einem organisierten Suizid das Leben nehmen. Vielleicht wurde die Parole "Stammheim - das war Mord" vorschnell in die Welt gesetzt, aber es gab damals einfach zu viele Ungereimtheiten in der offiziellen Version.

Beispielsweise war nicht nachzuvollziehen, wie Waffen und andere Gegenstände ins Gefängnis geschmuggelt worden sein sollten. Hätten tatsächlich Anwälte einige Aktenordner präpariert, wäre beim Durchblättern im Zuge der Kontrolle der feste Block mit dem eingebauten Hohlraum samt Inhalt sofort aufgefallen. Die Behauptung, diese Ordner hätten der Überprüfung standgehalten, ist unglaubwürdig.

Abgesehen davon kannte ich einige der Anwälte persönlich und traue ihnen derart weitgehende Dinge nicht zu. Es sind ja damals zwei Anwälte wegen angeblicher Unterstützung einer terroristischen Vereinigung und Mißbrauch ihres Amtes verurteilt worden. Obgleich man ihnen nichts nachweisen konnte, blieb diese Bezichtigung an ihnen haften.

SB: Heute können sich offenbar die wenigsten vorstellen, wie brisant diese Kontroverse seinerzeit war und wie viele Menschen sie bewegt hat. Wie haben Sie selbst die damaligen Ereignisse erlebt?

UJ: Sie hingen in Teilen mit meiner eigenen Lebensgeschichte zusammen.

Ich bin selber im Heim gewesen und habe die bundesdeutschen Mädchenwohnheime noch in all ihren Ungerechtigkeiten erlebt. Sie hießen zwar Ausbildungswohnheime, aber ich war beispielsweise der einzige Lehrling in meiner Einrichtung. Wir haben natürlich mit dem sympathisiert, was Jan-Carl Raspe über seine Tätigkeit als Psychologe und Erzieher, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof geschrieben und getan haben. Wir fanden es toll, daß da endlich mal Leute waren, die auf unserer Seite standen, und konnten dieser Bambule-Idee viel abgewinnen. Wer in einem solchen Heim landet, kann ja nur asozial sein, hieß es damals.

Wir waren ungefähr 80 Mädchen in einem Hamburger Wohnheim und galten als leichte Beute. Dort, hieß es, kann man sich schnell mal ein Mädchen holen, das ist der letzte Abschaum. Beim Essen herrschte Faustrecht, das Personal war völlig unqualifiziert, so daß man keine nennenswerte Beratung bekam. Ich selbst war damals in Folge einer Vergewaltigung durch meinen Stiefvater im Heim gelandet. Drei Jahre lang hatte ich keine Ahnung, ob die Erzieher im Heim wissen, was ich weiß, weil niemand mit mir geredet hat.

Dann kamen plötzlich Leute, die sich für uns interessierten und die Zustände in den Heimen offen anprangerten. Deswegen hat es mich später immer interessiert, was aus diesen Menschen geworden ist. Ich habe damals natürlich mitbekommen, welche politischen Forderungen sie erhoben: Gegen den amerikanischen Krieg in Vietnam und viele andere Dinge, mit denen man von der inhaltlichen politischen Seite her, aber eben auch wegen der Art und Weise, einen gewissen Aufruhr zu machen, sympathisiert hat. Das ging ja irgendwann weit über zivilen Ungehorsam hinaus. Als dann Anschläge verübt wurden, bin ich immer mehr auf Distanz gegangen. Ich erinnere nur an das Springer-Haus und viele andere Vorfälle, die damals gelaufen sind. Ich hielt auch die Ermordung Hans-Martin Schleyers für eine Katastrophe.

Foto: © 2012 by Schattenblick

Foto: © 2012 by Schattenblick

Das ändert aber nichts daran, daß in dieser Zeit eine unglaubliche Hysterie und Hetze gegen alle losbrach, die oppositionell oder links waren. Der Antikommunismus war die herrschende Doktrin, und so wurde man sehr schnell in eine Ecke gestellt und politisch nicht ernstgenommen. Das ist der Hintergrund, warum ich diese Entwicklung stets verfolgt habe und später nach Stammheim gefahren bin, um bei den Prozessen dabei zu sein und Gefangene zu besuchen. Ich habe die Verfahren gegen Christian Klar, Brigitte Mohnhaupt und auch von Peter Jürgen Boock, der sich jahrelang als sogenannter Aussteiger gegeben hat, besucht. Erst später stellte sich heraus, daß er viel höher in den Machtstrukturen der RAF gestanden und Verantwortung getragen hat. Als die Grenze zur DDR geöffnet wurde, bekam er offensichtlich große Angst, daß seine Mitgenossen, die in der DDR Unterschlupf gefunden hatten, Aussagen zu seiner Rolle machen könnten. Ich kannte ihn bereits zehn Jahre, als ich erfuhr, in welchem Ausmaß er tatsächlich in die Taten der RAF verstrickt war.

Ich persönlich habe zwar Gewalt immer abgelehnt, finde es aber trotzdem wichtig zu sehen, wie der Staat mit seinen Feinden umgeht und die Prozesse geführt werden. Es hat mich schon damals erschreckt, daß man im Zuge der Paragraph-129a-Verfahren Mitglieder der RAF oder der Bewegung 2. Juni von vornherein in Kollektivverantwortung genommen hat.

Zahlreiche Leute wurden wegen Schleyer, wegen Buback, wegen vieler anderer, die ums Leben kamen, angeklagt und sind deswegen verurteilt worden, ohne daß man die Mörder kannte. Im Falle eines Nazis muß hingegen nachgewiesen werden, daß er definitiv an den ihm zur Last gelegten Taten beteiligt war. Man hat nie eine Kollektivhaft gegenüber Nazis praktiziert. Als im Deutschland der siebziger Jahre eine sogenannte bewaffnete Stadtguerillagruppe auftauchte, die große Bedeutung erlangte, drohte man nicht nur wesentlich härtere Strafen an, sondern setzte sie auch entsprechend um. Ich wüßte von keinem Nazi, der so lange eingesessen hat wie Christian Klar oder andere, die zu weit über 20 Jahren Haft verurteilt wurden. Deswegen war ich damals schon entsetzt über die Art und Weise, in der diese Prozesse geführt wurden. Da keiner der Angeklagten eine Aussage machte, handelte es sich ohnehin um Indizienprozesse. Man hat die Angeklagten aufgrund von Indizien verurteilt, ohne wirklich zu wissen, wer woran beteiligt war.

Erst im Laufe der letzten Jahre hat sich einiges aufgeklärt. Wer hätte beispielsweise gewußt, daß Verena Becker all die Jahre mit dem Verfassungsschutz zusammengearbeitet hat? Das galt wahrscheinlich auch für manch anderen, zumal sich einige ja im nachhinein geoutet haben.

Ein Peter Jürgen Boock hat die Flucht nach vorn ergriffen und tagelang Aussagen gegenüber dem BKA gemacht, wie die Gruppe strukturiert war, was sich tatsächlich abgespielt hat und wer woran beteiligt war. Das hat bei mir dazu geführt, auf Distanz von ihm zu gehen.

SB: In der zweiteiligen ARD-Dokumentation "Die RAF" von Stefan Aust kommt Peter Jürgen Boock ja sehr ausführlich zu Wort.

UJ: Natürlich ist in dieser Geschichte niemand frei von individueller Schuld. Problematisch wird eine solche Darstellung jedoch, wenn man den politischen Zusammenhang unterschlägt, daß sich eine Gruppe in dieser Gesellschaft radikalisiert hat, die aber auch zur Radikalisierung getrieben wurde, weil man ihre Stimme nicht hören wollte. Diesen Zusammenhang muß man berücksichtigen, will man die damaligen Ereignisse angemessen darstellen. Es war verpönt, gegen den Vietnamkrieg oder den Schah auf die Straße zu gehen. Man muß die 68er-Bewegung, den Tod Benno Ohnesorgs und nicht zuletzt die Reaktion der Medien und der herrschenden Klasse einbeziehen. Ich erinnere mich noch an die Spiegel-Artikel, in denen die "Terroristenmädchen" - es gab ja viele Frauen bei der RAF - als kranke Menschen dargestellt wurden. Man hat nicht analysiert, was da eigentlich geschieht, sondern gehetzt und die RAF-Mitglieder für psychiatriereif erklärt.

SB: Damals wurden auf höchster Ebene zwei Krisenstäbe eingerichtet, die keinerlei Legitimation durch die Verfassung hatten und am Parlament vorbei ihre weitreichenden Entscheidungen trafen. Wie später bekannt wurde, diskutierte man in diesem kleinen Kreis alle erdenklichen repressiven Maßnahmen bis hin zu Folter und Wiedereinführung der Todesstrafe. Könnte man sagen, daß dort Ideen kreiert oder weiterentwickelt wurden, die in der Folge als Repression zum Tragen kamen und bis heute ihre Wirkung entfalten?

UJ: Offiziell gibt es in Deutschland ein klares Folterverbot. Zugleich ist bekannt, daß Mitarbeiter des BND nach Syrien oder Guantanamo gereist sind, um dort Gefangene zu verhören, die unter Folter zu Geständnissen gezwungen wurden. Schon damals fand ich erschreckend, auf welche Weise die Untersuchungen zu Stammheim von den verschiedenen Ausschüssen abgebügelt wurden. Hinzu kamen später Vorfälle wie der bereits erwähnte Tod von Wolfgang Grams, in denen offenbar die Politik entschieden hat, daß nicht weiter ermittelt wird. Ich kann mich noch genau an die aktuelle Stunde erinnern, bei der die Bundesregierung des getöteten Polizisten Newrzella gedachte. Von einem zweiten Toten war überhaupt nicht die Rede, weshalb ich in meinem Redebeitrag gesagt habe: Es gab damals auch noch einen zweiten Toten. Und wir wissen bis heute nicht, wie der ums Leben gekommen ist. Möglicherweise ist er per Kopfschuß liquidiert worden. Damals haben selbst meine eigenen Leute nicht verstanden, warum ich das gesagt habe. Ich hielt es für unverzichtbar, bei diesem Thema auch Grams zur Sprache zu bringen und nicht nur von einem Toten zu sprechen.

Ulla Jelpke im Gespräch mit Schattenblick-Redakteur - Foto: © 2012 by Schattenblick

Ulla Jelpke im Gespräch mit dem Schattenblick
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Dabei hätte die PDS damals doch argumentieren können, offene Fragen müßten in einem demokratischen Staat gestellt und beantwortet werden. Sich an einer solchen Stelle jeden Anflugs von Solidarität zu enthalten, kommt mir wie vorauseilender Gehorsam oder vorauseilende Anpassung vor.

UJ: Man muß in diesem Zusammenhang berücksichtigen, daß die Bevölkerung der DDR nichts davon wußte, daß mehrere Mitglieder der RAF dort Zuflucht gefunden hatten. Auch im Westen hatte man kaum mehr als eine sanfte Ahnung, daß einige in der DDR untergetaucht sein könnten.

In der dortigen Bevölkerung gab es keine Akzeptanz der RAF, es herrschte im Gegenteil eher Empörung vor. Den Menschen fehlte einfach die politische Entwicklung, die in den späten sechziger Jahren in Westeuropa stattgefunden hatte, und sie wußten nichts von der damit verbundenen Radikalisierung. Mich haben sie immer als Kämpferin bezeichnet, weil sie selber vorher gar nicht gekämpft hatten. Sie hatten eine Partei, die an der Macht war, und haben die erste Zeit immer in "wir" gesprochen: Wir wollen die Deutsche Einheit gestalten, wir wollen Europa gestalten - obwohl wir gar nichts zu melden hatten. Die Vorstellung einer bewaffneten Stadtguerilla war in diesen Kreisen absolut verpönt.

Meiner Meinung nach hat die Politik der RAF der Linken massive Repression mit schlimmen Gesetzen, erweiterten Verfolgungsmöglichkeiten und horrenden Strafen gebracht. Unter dem Paragraphen 129a kann jemand zehn Jahre in den Knast gehen, nur weil er sympathisiert hat. Man sieht es ja auch an den langen Haftstrafen, die überlebende RAF-Gefangene durchstehen müssen. Ich finde 24 Jahre unmenschlich.

SB: Das wäre sicher einer der Gründe, warum man sich mit der Geschichte beschäftigen sollte. Viele Leute halten Ereignisse, die schon so weit zurückliegen, heute für bedeutungslos. Zieht man jedoch in Betracht, welche Entwicklungen damals auf den Weg gebracht wurden, die maßgeblich für die aktuellen Verhältnisse sind, könnte es durchaus von Interesse und Nutzen sein, diese Geschichte noch einmal aufzurollen.

UJ: Solange ich lebe und klar denken kann, werde ich mich immer für eine Aufarbeitung dieser Geschichte einsetzen. Deswegen finde ich die Initiative von Helge Lehmann und Gottfried Ensslin, die sehr sauber recherchiert haben, ausgezeichnet. Es handelt sich um einen Teil meiner persönlichen wie auch unserer gemeinsamen Geschichte. Nicht, weil ich mich zu irgendeinem Zeitpunkt dazugehörig gefühlt habe, aber weil ich doch sehr nahe dran war und viele Menschen kennengelernt habe, die im Grunde genommen mit einem Bein schon drinnen oder einfach von dieser Situation angetan waren.

SB: Es wird ja häufig vergessen, daß die RAF seinerzeit in der linken Szene sehr viel breiter verankert war, als man es heute wahrhaben möchte.

UJ: Ich kann mich noch gut an die Beerdigung von Holger Meins erinnern, der am Hungerstreik gestorben ist. Bis heute ist ungeklärt, ob es möglicherweise die Zwangsmaßnahmen waren, die seinen Tod letztlich hervorgerufen haben. Er ist jedenfalls ein Opfer dieses Hungerstreiks gewesen, und daß Zehntausende auf seiner Beerdigung waren, zeigte deutlich, welche Resonanz das damals in der Linken hatte. Heute sind es nur noch wenige, die sich dazu bekennen. Viele wollen davon nichts mehr wissen oder haben Angst, durch den Staat wiederum Repressionen zu erfahren, stünden sie zu ihren damaligen Überzeugungen.

SB: Könnten nicht auch junge Leute, die diese Geschichte nicht aus eigenem Erleben kennen, plötzlich anfangen, Fragen zu stellen und genauer wissen zu wollen, was sich damals ereignet hat?

UJ: Helge Lehmann ist dafür ein Beispiel. Jemand, der zuvor kaum politisch interessiert war und sich nicht für Demonstrationsrecht, Kriminalisierung der Linken durch die Verfassungsschutzbehörden und ähnliche Themen interessiert hat, wurde bei der Lektüre des Buches "Der Baader-Meinhof-Komplex" von Stefan Aust hellhörig: Mangelnde Quellenangaben, offenbar frei erfundene wörtliche Reden und eine ideologische Festlegung auf die Selbstmordhypothese machen dieses Buch nicht nur in den Augen Lehmanns sehr fragwürdig. Hinzu kommt, daß Aust als Person und der SPIEGEL als Medium an vorderster Front mitgehetzt haben. Daher finde ich es sehr gut, daß Helge Lehmann das aufgegriffen hat, seine Recherche vorliegt und er gemeinsam mit Gottfried Ensslin für eine Wiederaufnahme des Todesermittlungsverfahrens kämpft. Diese Arbeit wird auch von der Familie unterstützt. Ich kenne beispielsweise Christiane Ensslin auch persönlich sehr gut, seit wir vor Jahren beide bei Reemtsma gearbeitet haben. Sie hat schon damals ein sehr akribisches Archiv zur RAF angelegt, in dem man ausgezeichnete Materialien finden kann.

SB: Frau Jelpke, wir bedanken uns für dieses Gespräch.


Fußnoten:
[1] Helge Lehmann, Olaf Zander: Todesnacht in Stammheim. Eine Untersuchung, Bonn 2011
[2] Siehe dazu:
BERICHT/126: Todesnacht in Stammheim - Nachgeforscht (SB)
www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0126.html
INTERVIEW/139: Todesnacht in Stammheim - Eine Revolution läßt nichts aus (SB)
Interview mit Gottfried Ensslin am 18.10.2012 in Berlin
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0139.html

Brücke am Schiffbauerdamm in Berlin - Foto: © 2012 by Schattenblick

Zeitzeugin anderer Art - Brücke am Schiffbauerdamm in Berlin
Foto: © 2012 by Schattenblick

30. Oktober 2012