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INTERVIEW/116: Kongreß Kurdischer Aufbruch - Felix Padel über soziale Kämpfe in Indien (SB)


Interview mit Felix Padel am 4. Februar 2012 in der Universität Hamburg


Felix Padel mit Violine - Foto: © 2012 by Schattenblick

Felix Padel kennt viele Sprachen
Foto: © 2012 by Schattenblick

Der britische Anthropologe Felix Padel lebt seit 17 Jahren in einem entlegenen Dorf im indischen Bundesstaat Orissa. Die kritische Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des britischen Kolonialismus auf die indigene Bevölkerung des Landes konfrontierte ihn mit dem Kampf der Adivasi gegen die Zerstörung ihres Landes durch transnationale Minenkonzerne, den er seither unterstützt. Sein jüngstes, zusammen mit Samarendra Das verfaßtes Buch "Out of This Earth" befaßt sich mit der Verdrängung der Stammesbevölkerungen Indiens durch den Raubbau der Aluminiumindustrie, ihren Verstrickungen mit dem internationalen Waffenhandel und dem von London aus in Indien expandierenden Finanzkapital. Felix Padel war Referent auf dem Kongreß "Die kapitalistische Moderne herausfordern - Alternative Konzepte und der kurdische Aufbruch" und beantwortete dort dem Schattenblick einige Fragen.

Schattenblick: Die Geschichte des Antikolonialismus in Indien steht im Widerspruch zur aktuellen Realität eines inländischen Kolonialismus gegenüber den eingeborenen Völkern, den Adivasis. Woher kommt dieser Wandel?

Felix Padel: Das ist ein sehr interessantes Thema. In meiner Doktorarbeit zur Anthropologie und in meinem ersten Buch geht es in der Tat um den britischen Kolonialismus gegen die Adivasis. Die Ostindienkompanie, die den Anbau von Opium erzwungen hatte, bediente sich einer sehr ausgefeilten Ausdrucksweise, fast so, als ob es darum ginge, die Menschen vom Aberglauben und Kastensystem zu befreien. Gleichzeitig verfolgte sie das Ziel, aus allen Wirtschaftsbereichen des Landes den größtmöglichen Profit herauszuholen. Sie brachte ganz Indien unter britische Herrschaft. Es gab regelrechte Kriege um die Unterwerfung, besonders in den Stammesgebieten.

Nachdem der Umbruch einmal durchgesetzt war, bestand die tägliche Aufgabe der Kollektoren - noch heute werden die Magistrate aller Bezirke so genannt - darin, die Abgaben zu kassieren. In gewisser Weise wurde die indische Regierung also nicht 1947 gebildet, sondern sie war eine Tochtergesellschaft der Ostindienkompanie, die die Abgaben einzog. So ähnlich wie in der Unabhängigkeit Südafrikas veränderten sich auch im Fall Indiens die Machtstrukturen in keinster Weise. Als Indien sich 1991 in einer Leistungsbilanzkrise befand, wie zur gleichen Zeit die Türkei, Mexiko und viele andere Staaten, hat der derzeitige Premierminister Manmohan Singh die Situation sehr gezielt bewältigt, weil er aufgrund seiner Ausbildung als Volkswirt und starken ideologischen Anbindung fast ein Klon der Weltbank ist. Seit die vom IWF geforderten Vorgaben zur Öffnung der Wirtschaft umgesetzt wurden, dringen die internationalen Unternehmen auch in die Stammesgebiete vor. Das ist mit der vielköpfigen Hydra der Ostindienkompanie vergleichbar. Ich habe das Gefühl, daß die Adivasis das auch wissen und darum kämpfen. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Führer der Adivasis, der sich gegen eines dieser Aluminium-Projekte aussprach. Er sagte den Bezirksbehörden, daß die Adivasis nicht prinzipiell gegen Entwicklung seien, sie aber in ihren Händen wissen wollten. Der Mann von der Behörde antwortete darauf: Ihr seid viel zu unwissend. Was wißt ihr schon von Entwicklung! Ihr seid gegen die Firma, die euch eine Schule und ein Krankenhaus gibt. In Orissa heißt es buchstäblich: Company Devil! Company Devil!

Und ich dachte, das ist die gleiche Sprache wie zu Zeiten der britischen Herrschaft. Bei den Aluminium-Konzernen handelt es sich um Norsk Hydro, das größte Unternehmen Norwegens; Alcan aus Canada; Hindalco, früher Hindustan Aluminium, das von dem indischen Milliardär Birla in Zusammenarbeit mit Kaiser Aluminium aus den USA gegründet wurde. Tata befand sich ebenfalls in dem ursprünglichen Konsortium, das sich auflöste, nachdem es wegen Menschenrechtsfragen zusehends unter Druck geriet. Zuerst zogen sich die Norweger zurück, später die Kanadier, aber es macht keinen Unterschied, es sind Konzerne, und Konzerne verhalten sich so. Vordergründig wetteifern sie aufs heftigste gegeneinander, aber die Führungskräfte wechseln bald zu diesem, bald zu jenem Unternehmen.

Für die Adivasis gibt es keinen Unterschied zwischen diesen Konzernen und den Unternehmen damals unter britischer Herrschaft. Das zeigt sich auch an der massiven Unterstützung der Konzerne durch die Polizei. Es ist üblich geworden, daß sogar bei der Errichtung eines Kohlekraftwerkes bis zu 2000 Polizisten abgestellt werden, um das Unternehmen zu schützen. Als die Polizei in Kalinganagar auf friedlich protestierende Adivasis schoß, hat der Ministerpräsident von Orissa, der sich stark für die Industrialisierung einsetzt, den Ort des Geschehens nie besucht. Erst fünf Jahre später kam er nach Kalinganagar, aber nur, um eine neue Polizeistation einzuweihen und dem Stahlkonzern öffentlich für die finanzielle Unterstützung beim Bau der Polizeistation zu danken. Ich nenne dieses Beispiel recht oft, weil es verdeutlicht, daß die Polizei, die dem Volk dienen sollte, tatsächlich den großen Unternehmen dient. Wo beginnt der Staat, wo hört das Unternehmen auf? Beides geht nahtlos ineinander über.

SB: Die britische Herrschaft in Indien war sehr effizient und kam trotz der Größe des Landes nur mit einigen tausend Verwaltungsangestellten und Soldaten aus. Sie zwang Indien ihre eigenen Verwaltungsstrukturen auf, die auch heute noch sichtbar sind. Wie bewerten Sie diese Art von Modernisierung durch die Briten, und wieviel davon ist seit Ende der Kolonialzeit im indischen Staat erhalten geblieben?

FP: Meiner Meinung nach gilt das für die gesamte Machtstruktur. An der Oberfläche schmückt sie sich natürlich mit politischen Parteien, aber wie in den USA werden die Parteien umfangreich durch die Unternehmen finanziert. In vielerlei Hinsicht ist es also eine Art Scheindemokratie, und oftmals stecken die Politiker mit den Konzernen unter einer Decke, was auch für die Stammespolitiker in den Stammesstaaten gilt. Die Korruption ist allgegenwärtig, auch weil die Unternehmen den Politikern ständig Anreize schaffen. Im Westen erstaunt mich, daß hier oft von Schuldenerlaß gesprochen wird. In Indien ist das überhaupt kein Thema. Keine der großen Parteien würde das auf die Agenda setzen. Denn sobald sie in die Regierung gewählt ist, erhält sie einen Sitz in der Weltbank und gelangt in den Genuß weiterer Geldmittel. Sie ist auch nicht bereit zuzugeben, daß die Wirtschaftspolitik Indiens in Washington und London entschieden wird. IWF-Beamte sitzen dort bei den Top-Kabinettsbeschlüssen der Politik. Die Regierung wird also in Wahrheit ferngesteuert, und natürlich gibt es wie zur Zeit der britischen Herrschaft eine mächtige Elite, die mit den ausländischen Interessen kollaboriert und ideologisch vollständig auf deren ökonomische Doktrin eingeschworen ist.

SB: Beziehen sich die indischen Eliten also immer noch positiv auf den britischen Kolonialismus der Vergangenheit?

FP: Ich denke, ja. Die Briten übten in Indien eine sehr rassistische Herrschaft aus, die in vielerlei Hinsicht der Apartheid entsprach. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem leitenden Verwaltungsangestellten, der seine Tätigkeit unter den Briten begonnen hatte. Er sagte, daß die Korruption sich seit der Unabhängigkeit krebsartig ausgebreitet habe. In Indien gibt es innerhalb der Familien starke Bindungen. Das bedeutet, wenn ich Ministerpräsident bin und mehrere hundert Verwandte habe, muß ich ihnen Jobs beschaffen, sonst bin ich kein guter Familienmensch. In dieser Hinsicht könnten manche Inder behaupten, daß die britische Herrschaft besser war, aber das sind nicht viele. Ich glaube, daß es sich dabei um eine Art umgekehrten Rassismus handelt. Als Brite, der oft in Indien ist, finde ich das problematisch. Es gibt diese Vorbehalte generell gegen Weiße aufgrund der britischen Vorherrschaft. Die gab es damals, und es gibt sie weiterhin.

SB: Verstehe ich Sie recht, daß die Inder aufgrund der aufoktroyierten Modernisierung nicht zu ihrer eigenen Kultur zurückgefunden haben?

FP: Nein, und das liegt zum Teil an der Sprache. Man sagt, als Engländer kann man in Indien überall hingehen und Englisch sprechen. Tatsächlich stimmt das nicht. Wenn ich Leute treffe, zum Beispiel in einem Zug, und sie anfangen, Englisch zu sprechen, ist es, als gäbe es dabei kein eigenes Denken. Ihre Sprache besteht aus vorgefertigten Formeln. Ich stelle dasselbe sogar in akademischen Konferenzen fest. Sie wissen die korrekten Formeln auszusprechen, selbst wenn sie über den Freiheitskampf reden. Daher besteht ein Teil der indigenen Bewegungen darauf, die regionalen Sprachen stärker zu verwenden. Aber das ist schwierig, denn die Eliten kommunizieren in Englisch.

In Indien gibt es selbstverständlich sowohl Klassen als auch Kasten. Ich habe den Eindruck, daß sich das moderne Kasten-System mit dem britischen Kolonialsystem vermischt hat. Wie Sie wissen, waren die Klassen im viktorianischen England besonders stark ausgeprägt. Heute findet man diese Klassen in gleicher Form in der Polizei und jeder anderen starren Hierarchie. Und die englische Sprache ist ein Teil davon. Ich selbst habe eine Inderin geheiratet, die nicht gebildet ist und nicht viel Englisch spricht. Wenn wir indische Freunde treffen, haben sie oftmals keinen Respekt vor ihr. Daran sieht man, daß Bildung eine wichtige Rolle in der Klassenzugehörigkeit spielt. Wenn man gebildet ist, gehört man zu denen da oben, und wenn man kein Englisch spricht oder eben "ungebildet" ist, wird man nicht respektiert.

SB: Haben Sie den Eindruck, daß sich die indischen Eliten auch wegen ihrer Probleme mit dem Islam an die USA und Großbritannien anlehnen?

FP: Das ist wahr. Es gibt starke antiislamische Ressentiments in Indien, die noch stärker sind als in Europa. Aus diesem Grund ist es oftmals sehr schwer, in Indien als Moslem zu leben. Manchmal gilt das auch für Christen, aber die antiislamischen Ressentiments dominieren. Der Staat und viele Inder identifizieren sich mit dem Krieg gegen den Terror sehr bereitwillig. Naveen Patnaik, der Ministerpräsident von Orissa, ist ein gutes Beispiel dafür. In seiner Jugend war er ein Playboy. Er hat in Amerika und Britannien studiert. Nachdem er Ministerpräsident geworden war, gab er einmal ein Interview, in dem er sagte, er kenne jeden in der britischen Aristokratie, der es wert sei, daß man ihn kennt. Aber wenn er redet, spricht er erstaunlicherweise nicht Oria, die Landessprache Orissas. Daher geschieht es, wenn ich nach Orissa reise und bei einer Tasse Tee auf Oria plaudere, daß die Leute sagen: "Du sprichst Oria? Nicht einmal unser Ministerpräsident spricht Oria!"

Ich erinnere mich an eine große Demonstration, an der einige meiner Freunde, einschließlich eines Professors für Ökologische Ökonomie aus Barcelona, Juan Martinez-Alier, ein großartiger Gelehrter, der zur Unterstützung gekommen war, teilgenommen haben. Ich selbst konnte nicht dorthin gehen. Die Polizei hat es mir verboten. Ich wäre andernfalls aus Indien ausgewiesen worden. Jedenfalls kamen die Freunde nach der Demonstration zu mir nach Hause. Dank der Unterstützung ausländischer Aktivisten zeigte der Protest große Wirkung. Naveen Patnaik erklärte daraufhin im Fernsehen, daß es niemandem - und ich erinnere mich, wie er im Tonfall eines alten britischen Armeeangehörigen aus der Kolonialzeit sprach - gestattet werde, sich der Industrialisierung Orissas in den Weg zu stellen. Nun, die Polizei hatte auf die Demonstranten geschossen. Der Wandel vollzieht sich also auch durch Leute der Elite, die ihre Ausbildung in den USA oder Großbritannien absolviert haben und dann zurückkommen. Er ist nur deshalb im Amt, weil sein Vater Ministerpräsident war.

SB: Wie bewerten Sie den sozialen Kampf der Dalits, der auf den ersten Blick ein Aufstand gegen das Kastensystem zu sein scheint? Ließe sich das auch als Klassenkrieg bezeichnen?

FP: Definitiv. Zum Beispiel waren die Adivasis in einem abgelegenen Bezirk von Orissa von den Hindutva (Hindu-Nationalisten) gegen die Dalits aufgebracht worden. 50 Leute wurden auf grauenhafte Weise ermordet und Tausende Häuser in den Dörfern niedergebrannt, darunter auch Kirchen, denn der Tumult richtete sich auch gegen Christen. Der Konflikt wurde hauptsächlich zwischen Adivasis und Dalits ausgetragen. Danach sagte ein Freund, der in der Adivasi-Gemeinde Polizist ist, zu mir: "Wie kann es sein, daß die beiden am meisten diskriminierten Gruppen gegeneinander aufgehetzt wurden?" Das ist ein sehr sensibles Thema, denn in den Stammesgebieten fungierten die Dalits häufig als Vermittler von Geschäften mit den Adivasis. Da die Dalits sehr geschäftstüchtig snd, schafften sie es, von den Adivasis eine Menge Land zu bekommen. Aus diesem Grund konnten die Adivasis gegen die Dalits aufgebracht werden. Darüber hinaus treffen die Dalits manchmal mit den Konzernen Entscheidungen gegen die Adivasis. Daher gibt es da eine sehr empfindliche Bruchlinie.

SB: Hat die indische Bourgeoisie also das Prinzip Teile und Herrsche von den Briten übernommen?

FP: Ja. Ich denke, das ist wirklich das Paradigma, für das die Briten berühmt sind. Die Dalits, die Unberührbaren, waren die Volksgruppe, die innerhalb Indiens richtiggehend versklavt wurde, während die Adivasis in die abgelegenen Teile des Landes geflohen sind. So konnten sie ihre eigene Sprache und Kultur bis in die jüngste Zeit intakt halten. Die Auseinandersetzungen der Dalits sind sehr wichtig, aber oftmals sind sie nur auf ihre eigenen Probleme fixiert und neigen dazu, die Bedeutung der Adivasi-Kultur nicht zu verstehen. Es ist ein etwas anders gelagerter Kampf, aber auch auf den der Adivasi bezogen.

SB: Welche sozialen Kämpfe hätten Ihrer Meinung nach das größte emanzipatorische Potential in Hinblick auf einen Wandel der indischen Gesellschaft?

FP: Ich glaube, da gibt es verschiedene Ebenen. Die Maoisten spielen sicherlich eine Rolle, schon weil sie offen für einen Wandel eintreten. Auch einige Graswurzel-Bewegungen sind sehr entwickelt. So findet man Adivasis, die etwa über den Zusammenhang von Bergbau und Waffenindustrie Bescheid wissen und die Verbindung zwischen den Unternehmen und der Ostindienkompanie kennen. Ich persönlich glaube, daß in der Bewegung der Adivasis großes Potential steckt. Auch in Nandigram im Unionsstaat West-Bengalen setzen sich viele Dalits zur Wehr. Und in der POSCO-Bewegung, eine der größten Protestgruppen in Indien gegen die koreanische Stahlgesellschaft POSCO, gibt es Bauern, die weder Dalits noch Adivasis sind, aber solidarisch zu ihnen stehen.

Es gibt in Indien sehr viele Basisbewegungen, und ich glaube, daß es sehr schwer ist, sie zu vereinen. Andererseits ist die Unfähigkeit, sich zu vereinen, auch eine Stärke. Da gibt es beispielsweise eine Organisation namens Ekta Parishad, die am Vermächtnis Ghandis orientiert ist, aber aus dem Ausland finanziert wird. Ihre Funktionäre führen all die richtigen Worte im Mund, aber hinter dem Rücken der Leute machen sie Deals. Mit den NGOs ist es ähnlich. Oftmals unterstützen sie die Basisbewegungen, wollen sie dann aber auch kontrollieren. So haben die Leute der Graswurzelbewegungen häufig große Vorbehalte gegen die NGOs, weil sie meinen, daß sie ihren Protest in gewisser Weise unterminieren.

SB: Viele Leute wissen nicht, daß Indien dasjenige Land ist, in dem die größte Zahl an Hunger leidender Menschen lebt. Liegt darin ein revolutionäres Potential oder ist es eher so, daß die Menschen resignieren?

FP: Es ist die Verzweiflung, die Menschen dazu treibt, sich den Maoisten anzuschließen, weil sich die Ungerechtigkeit der Enteignung jetzt immer mehr ausweitet. Jeden Tag bringen sich Kleinbauern um. Das liegt einesteils an der Trockenheit, zum anderen an der Invasion von Saatgut-Unternehmen wie Monsanto. Es gibt viele Faktoren. Im Grunde ist die Situation in Indien schlimmer als in vielen Ländern Afrikas. Aber revolutionäres Potential? Ja und Nein.

SB: In Indien herrschten in den 1970ern umfangreiche Handelsbeschränkungen für Im- und Exporte. Hat sich das seitdem gelockert?

FP: Das geschah im wesentlichen in den 1990er Jahren, hat jedoch schon in den 1980ern angefangen.

SB: Wie sahen die Konsequenzen dieser Politik aus?

FP: Viele sind der Meinung, daß der Lebensstandard insgesamt gestiegen ist. Das steht im Widerspruch zum evidenten Hunger. Die Mittelklasse glaubt an das Modell. Andererseits gibt es die Anna-Hazare-Bewegung gegen Korruption. Allerdings stehen Leute wie Arundhati Roy und andere dieser Bewegung sehr kritisch gegenüber. Natürlich ist Korruption in Indien weit verbreitet, aber es werden immer die Staatsbediensteten kritisiert, die die Schmiergelder annehmen, niemals die Unternehmen, die die Schmiergelder zahlen. Orissa und andere Staaten haben sogar Gesetze gegen Korruption erlassen, und es laufen Ermittlungen gegen Beamte. Das ist gut. Niemals aber gegen die Leute in den Konzernen, und das führt zu einer Debatte, in der es heißt: öffentlicher Sektor schlecht - privater Sektor sauber. Das geht komplett an der Wirklichkeit vorbei.

In vielerlei Hinsicht denke ich, daß Nehru, obwohl er die Industrialisierung vorantrieb, sozialistische Prinzipien besaß, wie zum Beispiel zu versuchen, die Märkte zu schützen. Die Ideologie der freien Märkte führte dazu, daß die reichen Länder reich werden, indem sie ihre Märkte schützen. Daher glaube ich, die Märkte sollten tatsächlich geschützt werden, vor allem die lokalen Märkte, um die massenhafte Invasion ausländischer Produkte zu verhindern. Das ist in Indien kein populärer Standpunkt, der aber unter den Bauern sehr befürwortet wird. Auch eine Menge Politiker der Graswurzel-Bewegung stehen der Produktschwemme aus dem Ausland sehr kritisch gegenüber.

SB: Spielen die linken Parteien eine Rolle bei der Organisation des Widerstandes dagegen?

FP: Allerdings. Besonders die CPI-M, auch die CPI unterstützt viele dieser Bewegungen. Die CPI sitzt auch in einigen Länderregierungen.

SB: Wie haben Sie zu Indien gefunden, und was hat Sie dazu motiviert, sich in den sozialen Kämpfen des Landes zu engagieren?

FP: Nachdem ich mein erstes Buch über die Invasion der Briten in die Stammesgebiete geschrieben hatte, das recht bekannt wurde, kam ein Oria-Aktivist auf mich zu und sagte: "Sie kennen sich mit der Invasion der Briten aus und haben das gut recherchiert, aber wie ist es mit der jetzigen Invasion der Bergbaugesellschaften? Würden Sie mit mir zusammen ein Buch über die Aluminium-Industrie schreiben?" Also tat ich mich mit ihm zusammen, und er führte mich bei vielen Graswurzel-Bewegungen ein, viel mehr, als ich bis dahin gekannt hatte. Das geschah während der letzten zehn Jahre.

SB: Sind Sie speziell wegen dieses Kampfes nach Indien übergesiedelt?

FP: Das erfolgte ein bißchen früher, aber die Identifikation mit dem Kampf hat mir viel Bodenhaftung gegeben, um mit den Leuten wirklich Dinge umzusetzen. Ich habe noch viele andere Verbindungen zu Indien. So praktiziere ich indische Musik. Aber wenn man mit den Leuten aus den Graswurzel-Bewegungen zusammenkommt und Solidarität mit ihnen übt, wächst eine ganz andere Anbindung an das Land.

SB: Indien ist ein sehr großes Land, und die Menschen im Westen wissen sehr wenig darüber. Sollten sie, insbesondere in der Linken, den Auseinandersetzungen in Indien mehr Aufmerksamkeit schenken?

FP: Ich bin sehr dafür, aber wie bei der kurdischen Frage gibt es eine Art Nachrichtensperre der Medien in Bezug auf das, was wirklich geschieht. Ich kenne eine Handvoll westlicher Journalisten, die darüber schreiben und denen es gelegentlich gelingt, einen Artikel in The Guardian oder The Independent, manchmal sogar in einer US-amerikanischen Zeitung, zu veröffentlichen. Aber das ist ein Tropfen auf den heißen Stein. So sollte die Occupy-Bewegung das, was in Washington oder London geschieht, mit Indien verbinden. Obwohl ein Inder zu den führenden Köpfen dieser Bewegung in den USA gehört, spricht er nicht über Indien, weil er nicht weiß, was da wirklich passiert. Diese Informationen gibt es nicht, es sei denn, man ist an die Netzwerke angeschlossen. Ansonsten erfährt man nichts.

SB: Vielen Dank.


28. März 2012