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INTERVIEW/108: Kongreß Kurdischer Aufbruch - Ann-Kristin Kowarsch zum Demokratischen Konföderalismus Kurdistans (SB)


"Unter authentischer Demokratie würde ich eine demokratische Kultur verstehen, die es im Mittleren Osten auch in der Region Kurdistans geschichtlich gegeben hat."

Interview mit Ann-Kristin Kowarsch am 4. Februar 2012 in der Universität Hamburg - 2. Teil


Ann-Kristin Kowarsch ist seit langer Zeit in der Kurdensolidarität aktiv. Ergänzend zu ihrem auf dem Hamburger Kongreß "Die kapitalistische Moderne herausfordern - Alternative Konzepte und der kurdische Aufbruch" zum Thema "Alternativen zu den etablierten Sozialwissenschaften" referierten Beitrag ging sie in einem mit dem Schattenblick geführten Gespräch näher auf das in der kurdischen Bewegung entwickelte Konzept des demokratischen Konföderalismus ein.

Ann-Kristin Kowarsch im Interview - Foto: © 2012 by Schattenblick

Seit langem in der Kurdensolidarität engagiert - Ann-Kristin Kowarsch
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Der Kongreß hier in Hamburg steht unter dem Titel "Kurdischer Aufbruch". In der Einladung des Organisationskomitees [1] stand, das möchte ich einmal zitieren: "In den letzten Jahren hat sich die kurdische Befreiungsbewegung von ihren traditionellen marxistisch-leninistischen und befreiungsnationalistischen Wurzeln fortentwickelt. Diese Konferenz möchte die Transformation der kurdischen Bewegung und ihre Suche nach Alternativen diskutieren und anderen weltweiten Diskussionen und Aufbrüchen gegenüberstellen." Was würdest du sagen, wodurch diese 2005 vollzogene Neuorientierung oder Neubestimmung ausgelöst wurde?

AK: Ich denke, daß für diesen Prozeß die Analysen von Abdullah Öcalan, die im Rahmen der an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gerichteten Verteidigungsschriften verfaßt wurden, sehr wesentlich gewesen sind. Als sie dann auch als Bücher veröffentlicht wurden, bekam die Gesellschaft Zugang zu ihnen. Darüber ist dann viel diskutiert worden. Öcalan hat sich in diesen Schriften immer wieder damit auseinandergesetzt, inwiefern Staat, Gewalt und Macht innerhalb revolutionärer Kämpfe eine progressive, aber auch eine rückschrittliche Rolle eingenommen haben. Er ist der Frage nachgegangen, welche Fortschritte und Entwicklungen die bisherigen Konzepte erreichen und befördern konnten, aber auch danach, in welchen Punkten sie steckengeblieben sind beziehungsweise das System, das sie eigentlich ablehnen, reproduziert haben.

Diese Auseinandersetzung steht meiner Meinung nach in einem Kontext zu einer Debatte, die in vielen linken Bewegungen auf der ganzen Welt nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus geführt wurde, sei es in Lateinamerika, sei es auch in Europa, wo einfach eine Hinterfragung der - nennen wir es einmal so - deterministischen Geschichtsschreibung stattfand, wie sie im Marxismus-Leninismus vorgesehen war, wo davon ausgegangen wurde, daß automatisch immer eine Abfolge zum Besseren hin stattfände, was dann irgendwann zur kommunistischen klassenlosen Gesellschaft führen würde. Daß aber die Geschichte sehr viel mehr mit Widersprüchen konfrontiert ist und daß eigentlich in dieser Dialektik von These, Antithese und Synthese immer Elemente der These und der Antithese - also beide - enthalten sind, waren entscheidende Punkte, die einen ganz neuen Horizont eröffnet haben.

Den Menschen hat das einen neuen Anstoß gegeben, ohne das, was sie zuvor gemacht oder wofür sie bisher gekämpft haben, zu verleugnen oder vollkommen in Frage zu stellen. Um aber zu fragen, inwiefern dies - wenn überhaupt - in der heutigen Zeit noch realistische Konzepte sind, hat es einer solchen Erneuerung bedurft. Das ist eigentlich ein sehr breiter Diskurs, der sowohl von der Frauen- und Jugendbewegung als auch von verschiedenen zivilgesellschaftlichen Organisationen und sogar religiösen Verbänden aufgegriffen wurde. Auf diesem Wege ist ein Konzept entwickelt worden, so etwas wie Stadträte oder Stadtteilräte aufzubauen und darüber Mechanismen zu schaffen, die trotz des Staates und als Alternative zu ihm eine Selbstorganisierung als eine Basis demokratischer Selbstverwaltung möglich machen.

SB: Ich wollte auf den Begriff "Demokratischer Konföderalismus Kurdistans" zu sprechen kommen, das neue politische Konzept des Kurdischen Volkskongresses, der dazu im März 2005 eine Deklaration herausgegeben hat. Dieses Konzept soll noch Relikte der alten, wenn man/frau so wollte, marxistisch-leninistischen Ideologie enthalten, etwa die Kritik am Nationalstaatsprinzip im kapitalistischen System und dessen imperialen Kräften. Als Alternative wird der demokratische Konföderalismus vorgeschlagen, der für Kurdistan ein Selbstbestimmungsrecht vorsieht, nicht aber das Recht auf nationalistische Staatsgründung. Ungeachtet der politischen Grenzen soll eine "authentische Demokratie" angestrebt werden. Was können wir uns darunter vorstellen?

AK: In diesem Diskurs geht es vor allem auch darum, Demokratie oder auch sozialistische Alternativen nicht als ein westliches Patent zu verstehen. In der kurdischen Gesellschaft, die eigentlich immer entweder außerhalb des Staates oder in Opposition zum Staat gestanden hat, gibt es sehr wohl gesellschaftliche Strukturen. Das sind kommunale Strukturen, die ein Mitsprache- und Mitgestaltungsrecht an der Gesellschaft wie auch am Leben vieler unterschiedlicher Menschen ermöglicht haben. Unter "authentischer Demokratie" würde ich eine demokratische Kultur verstehen, die es im Mittleren Osten auch in der Region Kurdistans geschichtlich gegeben hat und von der noch Bestandteile vorhanden sind, sei es aus der ganz frühen, vorstaatlichen Geschichte, der Zeit des Neolithikums, einem vorpatriarchalen Zeitalter mit kommunalen Lebensstrukturen. In bestimmten kulturellen oder philosophischen Richtungen, sei es dem Alevitentum oder der Zarathustra-Religion, sind noch Elemente vorhanden, die sich für eine demokratische Neugestaltung der Gesellschaft nutzen lassen. Aber, wie gesagt, dabei geht es nicht darum, ein fertiges Konzept wie auf einem Reißbrett vorzuformulieren und zu sagen, da muß es jetzt langgehen, sondern zu versuchen, auf eine sehr einfache Art und Weise das Naheliegendste zu tun und erst einmal die Menschen aus einer Straße zusammenzubringen, sie diskutieren zu lassen und gemeinsam zu überlegen: Was läuft hier falsch, was ist richtig? Welche Probleme gibt es und wie können wir sie lösen?

SB: Das erinnert mich an die basisdemokratischen Gemeinden in Venezuela, wo auch an einem Aufbau gesellschaftlicher Strukturen von unten gearbeitet wird. Welche Erfahrungen konnten denn in den zurückliegenden Jahren in den kurdischen Gebieten mit einem solchen Demokratiekonzept gemacht werden?

AK: Erst einmal hat es einen sehr großen Aufbruch gegeben. Es sind Stadtteilräte und in den Dörfern Gemeinderäte entstanden, die parallel zu dem, was die offiziell gewählten Bürgermeisterinnen und Bürgermeister getan haben, eine Organisierung und Koordinierung des Alltags ermöglicht haben. Es wurden eigene Räte für Frauen und Jugendliche aufgebaut, die aber auch eine eigene Vertretung in den Volksräten selbst haben. Das ist meiner Meinung nach ein wichtiger Punkt. In den letzten zwei, drei Jahren wurden noch einmal wichtige Schritte zum Aufbau des Kongresses für eine demokratische Gesellschaft vollzogen, an dem 858 Delegierte teilnehmen, die von den Gemeinde- oder den jeweiligen Stadtteilräten entsandt werden. All die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen sind dort vertreten. Es wird an einer alternativen Ökonomie und Bildung gearbeitet und an der Frage, wie sich die gesellschaftlichen Bedürfnisse außerhalb der Abhängigkeit vom Staat neu aufbauen lassen.

Ich denke, daß dieses Konzept wirklich sehr schnell Fuß gefaßt hat und ungeachtet all der Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, sehr viele Menschen motiviert hat, sich selbst aktiv in solch einen Prozeß einzubringen. Meiner Meinung nach ist das genau das, was der türkischen Regierung Angst gemacht hat. Zwei Tage, nachdem die demokratische Autonomie durch den demokratischen Gesellschaftskongreß ausgerufen wurde, hat der Iran mit seinen Angriffen begonnen. Das war auch der Zeitpunkt, an dem sich die militärischen Angriffe seitens der Türkei sehr zugespitzt haben. Seitdem haben die Bombardierungen nicht aufgehört. Ganze Landstriche an den Grenzen Südkurdistans sowie in Nordkurdistan [2] werden tagtäglich bombardiert. Es werden Militäroperationen durchgeführt. Es kommt zum Einsatz von Giftgas und Massakern an der Zivilbevölkerung. Über 8000 politische Aktivisten wurden verhaftet. Das ist eine Entwicklung, die sich an diesem Punkt total zugespitzt hat. Das ist die Antwort, die der türkische Staat darauf gegeben hat, weil er, wie ich denke, das Potential erkannt hat, das sich da entwickelt.

Eigentlich ist es ein Prozeß, der sich nicht aufhalten läßt. Das ist bereits jetzt eine ganz erstaunliche Entwicklung. Mir haben Bekannte, die aus der Türkei oder den kurdischen Gebieten gekommen und hier gewesen sind, erzählt, daß es mittlerweile die dritte Generation gibt, die innerhalb von nur zwei Jahren in diesen Gremien die Verantwortung übernommen hat, weil die anderen zwei Generationen davor verhaftet wurden. In dieser sehr kurzen Zeit haben sich Menschen dazu bereiterklärt, diese gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Das gleiche gilt für die Presse, die mit umfangreichen Operationen mundtot gemacht werden sollte. Da haben sich innerhalb von drei Tagen aus ganz verschiedenen Gebieten Menschen gemeldet, bei einer Zeitung angerufen und gesagt: "Hier, ich kann auch als freiwillige Reporterin für euch arbeiten." So konnten mehr Regionen abgedeckt werden als zuvor. Das ist eine Sache, bei der sich zeigt, daß dies kein Prozeß ist, der außerhalb der Gesellschaft stattfindet, sondern daß der wirklich eine breite Basis hat und daß viele Menschen ihr Vertrauen und ihre Hoffnungen auf ihn setzen.

Ann-Kristin Kowarsch bei ihren Ausführungen - Foto: © 2012 by Schattenblick

Kongreßreferentin erläutert den Demokratischen Konföderalismus
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Das Konzept des Demokratischen Konföderalismus sieht vor, wenn ich das richtig verstanden habe, daß drei Rechtssysteme nebeneinander Gültigkeit haben, nämlich das Recht des jeweiligen Einheitsstaates, dann das demokratisch konföderale Recht, von dem du bereits gesprochen hast, und das europäische Recht. Die Bezugnahme auf das EU-Recht erscheint mir sehr problematisch, nicht nur für die Türkei, sondern umso mehr auch für Syrien und den Iran, aber auch den Irak. Kann es deiner Einschätzung nach im Interesse der Kurden und Kurdinnen sein, von diesen Staaten zu verlangen, eine Einmischung der Europäischen Union in ihr Territorium zu akzeptieren?

AK: Ich glaube nicht, daß es bei dieser Formulierung um eine Forderung nach einer Einmischung der EU geht. Ich würde das eher als internationales Recht und internationale Menschenrechtsstandards in dem Sinne interpretieren, wie ich das auch in Diskussionen mitbekommen habe. Die Grundlage des Rechts innerhalb des demokratischen Konföderalismus sind nicht so sehr festgeschriebene Gesetze, wie wir sie von Staaten her kennen. Es geht vielmehr darum, in der Gesellschaft moralische und ethische Maßstäbe zu entwickeln, die für die Gemeinschaft gültig sind und die das Recht der Einzelnen, aber auch der Gemeinschaft bewahren können. In der praktischen Umsetzung sieht das dann so aus, daß innerhalb der Volksräte so etwas wie Gerechtigkeitskommissionen aufgebaut werden. Wenn es dann Streitfälle oder Konflikte gibt, können die dort vorgetragen werden. Diese Kommission versucht dann genauer herauszufinden, was passiert ist, wie mit der Situation umgegangen wird und wie Konflikte gelöst werden können, wobei versucht wird, die Gemeinschaft insgesamt mit einzubeziehen.

Es geht nicht so sehr darum, einen neuen Rechts- und Strafenkatalog aufstellen, sondern zu versuchen, Prinzipien eines gemeinsamen Zusammenlebens zu entwickeln. Zugleich findet aber der Kampf um ein demokratisches Grundgesetz bzw. die Abschaffung des antidemokratischen Rechts statt, das den Raum für die Selbstorganisierung und die Entwicklung demokratischer Rechte innerhalb des bestehenden Staates einengt. Es geht darum, in diesem Punkt eine Veränderung zu erreichen, wobei es, wie gesagt, kein ausschließlicher Punkt ist. Das ist auch eine Erfahrung, die wir in den Frauencamps immer wieder gemacht haben, wenn wir nur gleiche Rechte eingefordert haben. Selbst wenn dann im Gesetz drin steht, Vergewaltigung in der Ehe, Gewalt gegen Frauen oder Gewalt überhaupt sind verboten, heißt das nicht, daß damit das Problem gelöst ist. Das ist der Ansatz, warum es für notwendig erachtet wird, eigene Prinzipien des Zusammenlebens sozusagen von der Gesellschaft durch die Gesellschaft selbst noch einmal zu definieren und Mechanismen zu schaffen, die in Fällen von Übertretungen solcher Werte irgendwie aktiviert werden können. Zu der EU gibt es da eigentlich nicht so einen starken Bezug. Allerdings hat es auch in Europa Kämpfe gegeben, um bestimmte Menschenrechtsstandards festzuschreiben, zum Beispiel die Europäische Deklaration für Menschenrechte, die Konvention gegen Folter oder auch internationale Konventionen gegen die Diskriminierung von Frauen wie das CEDAW-Abkommen [3].

SB: Diese Regelungen gehören im Grunde doch zu den Körben, die die Türkei im Zusammenhang mit den Beitrittsverhandlungen für die EU erfüllen müßte?

AK: Ja. Die Türkei hat zum Beispiel die Kopenhagener Kriterien unterschrieben. Und sie hat das Europäische Menschenrechtsabkommen unterschrieben. Das ist auch immer wieder der Punkt bei den Verfahren, die in Straßburg [4] so irgendwie laufen. Die Türkei hat das Abkommen zwar unterzeichnet, aber sie hält sich nicht dran. Es ist zumindest ein Mechanismus, um in die internationale Öffentlichkeit zu tragen, was an Folter, Dorfverbrennungen und so weiter stattgefunden hat und welche Repressionen anhalten.

SB: Zum Abschluß möchte ich noch eine kulturelle Frage stellen. Im vergangenen Sommer wurden hier bei einem Kulturfestival im Museum für Völkerkunde auch Tänze aufgeführt. Wie ist das Verhältnis zwischen einer eher traditionellen Nationalkultur und einer doch irgendwie linken Befreiungsbewegung speziell aus der Sicht von Frauen? Wie würdest du das beurteilen, sind die Tänze dann irgendwie anders?

AK: Ich denke, es gibt in der kurdischen Kultur sehr viele demokratische Werte. So etwas drückt sich auch in den Tänzen aus. Da werden auch gesellschaftliche Fragen thematisiert. Das ist etwas ganz anderes. Diese Kultur beinhaltet zugleich auch eine Widerstandskultur oder ist ein Ausdruck von Widerstand. Wenn Menschen, nur weil sie ein kurdisches Lied gesungen haben, zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt werden, dann ist allein das Singen in kurdischer Sprache schon ein Zeichen des Widerstandes. Wenn Tänze nicht getanzt werden durften beziehungsweise zu türkischen Tänzen deklariert und mit anderen Symbolen versehen wurden, stellt das Tanzen eine Wiederaneignung der eigenen Kultur dar.

Wenn innerhalb oder durch die Befreiungsbewegung gesagt wird, das ist meine Kultur, das ist meine Sprache, findet eigentlich auch noch so etwas wie eine Hinterfragung oder Weiterentwicklung kultureller Werte statt. Es gibt zum Beispiel eine Diskussion darüber, daß einige der traditionellen Lieder - wahrscheinlich nicht die ganz alten, sondern eher die später hinzugekommenen - sexistische Anspielungen enthalten. Künstlerinnen, die das neu interpretieren, benutzen dann einfach andere Worte. Da findet eine Weiterentwicklung statt. Heute auf dem Kongreß hat der Geigenvortrag [5] auch großen Anklang gefunden. Ich glaube, Emma Goldman hat einmal gesagt: Eine Revolution, auf der nicht getanzt wird, ist keine Revolution für mich. [6]

SB: Ich reflektier da noch ein bißchen auf das moderne linke Denken, das dem, was als Volkstum bezeichnet wird, oft ablehnend gegenübersteht. Gerade in der Antifa gibt es da ganz starke Berührungsprobleme.

AK: Ich denke, das ist eine typisch deutsche Perspektive. Auf dieser Basis würde ich es als Euro-Zentrismus bezeichnen zu sagen, nur weil der deutsche Faschismus sich irgendwie auch auf Volkslieder bezogen hat, wäre das, was die Kurden machen, "völkisch". Ich bin solchen Äußerungen auch auf Konferenzen schon begegnet. Eine solche Auffassung ist meiner Meinung nach Kulturimperialismus. Die Kurden haben keine faschistische Geschichte. Sie haben bislang noch nie irgendwo Regierungsgewalt ausgeübt. Zum ersten Mal ist jetzt in Südkurdistan [2] eine Situation entstanden, in der es eine formelle Autonomie der Kurden gibt und Barzani [7] an der Regierung mitbeteiligt ist. Das wird von der kurdischen Befreiungsbewegung allerdings auch sehr kritisch beäugt. Eine solche Teilhabe an der Macht bringt die Entstehung neuer Eliten mit sich. Das sind Faktoren, die zu kritischen Auseinandersetzungen geführt haben, und es sind die Gründe, warum es unterschiedliche politische Kräfte in den verschiedenen Teilen Kurdistans gibt.

Ann-Kristin Kowarsch ins Gespräch vertieft - Foto: © 2012 by Schattenblick

Lebhaft im Gespräch
Foto: © 2012 by Schattenblick

Im Moment gibt es zwar Bemühungen, so etwas wie eine gemeinsame kurdische Konferenz aufzubauen vor dem Hintergrund, daß die imperialistischen Kräfte immer wieder versuchen, diese Teile-und-Herrsche-Politik gegenüber den Kurden anzuwenden. In der Vergangenheit hat es immer wieder Kriege gegeben, in denen die Kurden der einen Gruppierung gegen die einer anderen eingesetzt wurden, wozu auch Massaker und ähnliches benutzt wurden. Um einer solchen Entwicklung zuvorzukommen, soll es so etwas wie eine gemeinsame Konferenz aller kurdischen politischen Strömungen und der unterschiedlichsten Gruppierungen geben. Ich finde es sehr, sehr wichtig, immer auch den jeweiligen Kontext zu sehen, wenn es um kulturelle Inhalte geht oder auch die Werte, auf die sich eine Bevölkerungsgruppe oder ein Volk bezieht. Man muß die Unterschiedlichkeit der Situation beachten und berücksichtigen, ob ein Volk von Kolonialisierung betroffen wurde oder nicht.

SB: Herzlichen Dank für dieses lange Gespräch.


Anmerkungen:

[1] Einladung zum Kongreß vom Network for an Alternative Quest
http://networkaq.net/Einladung.pdf

[2] Südkurdistan ist die "Autonome Region Kurdistan" im Norden des Irak. Nordkurdistan umfaßt 25 Prozent des türkischen und 10 Prozent des syrischen Staatsgebiets.

[3] Bei dem CEDAW-Abkommen handelt es sich um das "Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung von Frauen" (Committee on the Eliminiation of Discrimination against Women), das am 18.12.1979 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde und als Meilenstein bei der Anerkennung der Frauenrechte als Menschenrechte gilt.

[4] Gemeint ist hier der in Straßburg ansässige Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), ein Organ des Europarats, das über die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) wachen soll.

[5] Auf dem Kongreß hat einer der Referenten, der in Indien lebende Felix Padel, seinen Vortrag zum Thema "Kapitalismus als Erzfeind ökologischer Gesellschaften" mit einem Geigenspiel abgeschlossen.

[6] Die spätere US-amerikanische Anarchistin und Friedensaktivistin Emma Goldman (1869-1940) hatte die Oktoberrevolution in Rußland miterlebt und eine kritische Haltung gegenüber den Bolschewisten eingenommen ("Wenn ich nicht tanzen darf, möchte ich an eurer Revolution nicht beteiligt sein").

[7] Masud Barzani ist Präsident der "Autonomen Region Kurdistan" im Norden des Irak.


(Fortsetzung folgt)


17. Februar 2012