Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REPORT

INTERVIEW/105: Ilan Pappé - Historiker und Aktivist im Nahostkonflikt (SB)


Interview am 15. Dezember 2011 im Zentrum Moderner Orient in Berlin


Der bekannte Historiker Prof. Ilan Pappé war im Zentrum Moderner Orient (ZMO) in Berlin zu Gast, wo er im Rahmen des Kolloquiums für das Wintersemester 2011/12 "Not all about Islam: Current Political Conflicts in Africa, the Middle East and Asia" einen Vortrag zum Thema "The Secular Dimensions of the Zionist Project in Palestine: A Historical Review" hielt. Ilan Pappé wurde 1954 in Haifa geboren und diente in der israelischen Armee während des Yom Kippur Krieges 1973 auf den Golanhöhen. 1978 schloß er sein Studium an der Hebräischen Universität Jerusalem ab. Seine Doktorarbeit beendete er 1984 an der University of Oxford. Pappé gehört zur Gruppe der Neuen israelischen Historiker und war von 1984 bis 2007 Professor für Politische Wissenschaften an der Universität Haifa. Gegenwärtig lehrt er an der Universität Exeter am Institut für Arabische und Islamische Studien. Er ist Direktor des Europäischen Zentrums für Palästinastudien sowie Co-Direktor des Zentrums für Ethno-politische Studien. Prof. Pappé hat sich in Forschung und Publikation weitreichend mit dem modernen Nahen Osten und insbesondere mit der Geschichte Israels und Palästinas befaßt. Der Schattenblick hatte Gelegenheit, vor der Veranstaltung im Süden Berlins ein Gespräch mit ihm zu führen.

Ilan Pappé - Foto: © 2011 by Schattenblick

Ilan Pappé
Foto: © 2011 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Pappé, Sie wurden in Haifa geboren, dienten in der israelischen Armee im Yom Kippur Krieg 1973 und waren Professor für Politische Wissenschaften an der Universität Haifa. Auf welche Weise hat die Kritik an Ihren Forschungsergebnissen Ihre akademische Laufbahn beeinflußt und was hat Sie schließlich dazu veranlaßt, nach England zu gehen?

Ilan Pappé: Meine Auffassungen haben sich erst im Laufe der Zeit herausgebildet. Daß es zur Konfrontation mit meiner universitären und akademischen Welt in Israel kam, geschah nicht über Nacht. Es waren insbesondere die Jahre nach der zweiten Intifada 2000, in denen meine eigene Situation zum Symptom der umfassenden Veränderungen in Israel nach dem Scheitern des Oslo-Prozesses wurde. Das gesamte politische System Israels verschob sich nach rechts. Die Leute wurden weniger tolerant gegenüber Kritik und neuen Ideen, während sie zehn Jahre zuvor in der hoffnungsvollen Stimmung von Oslo noch viel aufgeschlossener gewesen waren. So sah die allgemeine Situation aus, und ich glaube, in dieser Atmosphäre konnten Ansichten wie meine, die in den 1990er Jahren noch toleriert worden waren, nach 2000 nicht mehr akzeptiert werden. Vor allem aber bekam ich es mit meiner eigenen Universität zu tun. Ich bin mir zwar nicht ganz sicher, aber es ist gut möglich, daß ich an einer anderen Universität wie etwa in Tel Aviv, die etwas aufgeschlossener ist als die in Haifa, eher akzeptiert worden wäre. Die Universität Haifa hatte eine Leitung, die sich besonders nervös zeigte gegenüber Leuten, die die Grundlagen, Mythologie oder Ideologie des Staates in Frage stellten. Mag sein, daß ich auch selber dazu beigetragen habe, indem ich einige harte Entscheidungen hinsichtlich der richtigen politischen Strategie traf. Beispielsweise reifte in mir die Überzeugung, daß Druck von außen gerechtfertigt und möglicherweise die einzige Möglichkeit sei, die Realität zu verändern. Natürlich schloß ich die akademische Welt nicht von diesem Druck aus, aber das half nichts. Den Stein ins Rollen brachte eine Kontroverse um eine meiner Lehrveranstaltungen über die Ereignisse von 1948 und über die Art und Weise, wie ich die Studenten betreute, aber ich glaube, auch bei irgendeinem anderen Anlaß hätte sich der Konflikt auf die gleiche Weise zugespitzt. Zusammenfassend würde ich sagen, daß die Art, wie ich über die Geschichte des Staates Israel denke und schreibe und sie unterrichte, nicht mehr in seinen akademischen Institutionen toleriert werden konnte.

SB: Es heißt, die Geschichte ist immer die Geschichte der Sieger. Nun gibt es aber die sogenannten Neuen Historiker in Israel. Welche Art von Opposition kommt darin zum Ausdruck?

IP: Ich glaube, die Sache mit der "Neuen Geschichte" wird übertrieben. Wir waren eigentlich nur zwei Personen. Sie sitzen hier also mit der Hälfte der Neuen Historiker zusammen. Die andere Hälfte hat aufgehört, ein Neuer Historiker zu sein, und sich entschlossen, ein Patriot zu werden und sich der Mehrheitsmeinung unter den Historikern anzuschließen. Es ist also nicht viel davon übriggeblieben. Aber im Ernst, es hat in den 1990er Jahren eine intellektuelle Bewegung von einigen hundert Leuten gegeben, nicht nur der Neuen Historiker, auch unter Journalisten, im Theater und Film, in der akademischen Welt unter Geschichtsforschern, Soziologen und Politischen Wissenschaftlern. Es war breites Spektrum von Leuten, die zum einen Wissen und Kultur produzierten und zum anderen den bestehenden Wissens- und Kulturbetrieb angriffen. Ihr anfänglicher Erfolg sah beeindruckend aus. Sie schienen sogar in der Lage zu sein, Einfluß auf die Gestaltung von Lehrbüchern und die Inhalte von Dokumentationen im Fernsehen zu nehmen. Aber nach einiger Zeit wurde klar, daß diese Bewegung weder den öffentlichen Diskurs noch die politischen Auffassungen auch nur im geringsten beeinflussen konnte. Die Zeit wird zeigen, ob es sich lediglich um eine kleine, unbedeutende Periode oder vielleicht doch um etwas Größeres gehandelt hat. Noch ist es zu früh, darüber zu entscheiden. Möglicherweise wird es sich als Irrweg erweisen und nicht mehr sein als eine Anekdote. Ich habe ein Buch über diese Periode der Öffnung geschrieben, das gerade erscheint. Darin versuche ich aus der Distanz zu verstehen, warum diese Bewegung aufhörte. Ich kenne die Gründe, warum sie entstanden ist, doch dann verschwand sie buchstäblich von der Bildfläche. Nur in der Zivilgesellschaft ist noch etwas von ihr erhalten geblieben. So gibt es viele Nichtregierungsorganisationen, die diese Arbeit fortsetzen. Die israelische Regierung hat jüngst ein NGO-Gesetz auf den Weg gebracht, das allerdings noch nicht verabschiedet wurde, weil sich Netanjahu nicht entscheiden kann, ob er es unterstützt oder nicht. Die Regierung weiß, daß es sich bei diesen NGOs um die verbliebenen Reste der Bewegung handelt, und nimmt sie deswegen aufs Korn. Es geht dabei um die letzte Bastion freien Denkens in Israel. Sie werden dieses Gesetz zweifelsohne durch die Knesset bringen. Dann wird es keine unabhängige und nachhaltige Kritik mehr geben. Kritiker schon, aber keine Kritik im eigentlichen Sinn.

SB: Worin besteht Ihres Erachtens der Unterschied, wenn Sie Ihre Situation in England mit der in Israel vergleichen?

IP: Der Unterschied besteht darin, daß ich mich wieder einer geregelten akademischen Arbeit widmen kann. Man stuft meine Tätigkeit nicht als terroristische Aktivität ein (lacht). Meine Situation ist also viel ruhiger und entspannter geworden. Man akzeptiert, was ich mache. Allerdings stehe ich auch in England unter ständigem Druck und werde angefeindet, wenngleich auf niedrigerem Niveau als in der Vergangenheit. Auf der einen Seite kann ich also freier arbeiten und strategisch von außen Druck auf Israel ausüben, auf der anderen Seite verliere ich jedoch den Kontakt zum Geschehen in Israel. Daher versuche ich, in beiden Welten zu leben, und reise viel.

SB: Ergreift man in Deutschland für die Sache der Palästinenser Partei, dann läuft man umgehend Gefahr, in die antisemitische Ecke gestellt zu werden. Ist die Situation in England damit vergleichbar?

IP: Nein. Deutschland und England sind in dieser Hinsicht sehr verschieden. England hat sich in diesem speziellen Fall gewaltig verändert. Mit der antisemitischen Karte kann man heute in England niemanden mehr zum Schweigen bringen, wie das in der Vergangenheit noch möglich war. Das würde nicht mehr funktionieren. Meines Erachtens liegt Deutschland diesbezüglich weit im Hintertreffen. Selbst in den Vereinigten Staaten ist es nicht so schlimm wie in Deutschland, wo ich keine Veränderung erkennen kann. Es ist wohl alles eine Frage der Zeit. Deutschland nimmt natürlich eine Sonderstellung ein. Das gilt auch für Österreich, wie ich jüngst auf einer Reise erfahren mußte.

SB: In der arabischen Welt finden gegenwärtig weitreichende Umwälzungen statt. Könnte diese Entwicklung nicht auch eine Chance für Israel bedeuten, Schritte auf dem Weg zu einer Friedenslösung einzuleiten?

IP: Das hängt davon ab, ob Israel seinen Teil zu dieser Veränderung leistet. Die wichtigste Botschaft der arabischen Welt an Israel lautet: Ob es dir gefällt oder nicht, du befindest dich im Nahen Osten. Für die meisten Israelis ist das eine Nachricht, die ihnen überhaupt nicht gefällt. Für Israel kommt der Augenblick der Wahrheit immer näher, wo die arabische Welt Israel deutlich machen wird, daß es in der Vergangenheit leicht gewesen sei, zu glauben, kein Teil des Nahen Ostens zu sein. Es gab Kriege, Israel wurden ausgeschlossen und boykottiert. Nun herrscht jedoch eine Atmosphäre vor, in der alles zur Veränderung drängt. Von diesem Prozeß sind nicht nur die politischen Regimes betroffen, sondern auch unsere Denkweise. Kein Staat in dieser Region kann mehr behaupten, ein westliches Land sein, ob das einem gefällt oder nicht. Israel kann nicht ewig mit militärischen Mitteln und dank der Unterstützung durch die USA allen Schwierigkeiten aus dem Wege gehen. Genau das ist meines Erachtens die Botschaft. Da ich häufig in Israel bin, kann ich bestätigen, daß die meisten Israelis sich vor den Veränderungen in der arabischen Welt fürchten. Sie haben das Gefühl, daß Demokratien in den Nachbarländern schlecht für sie wären. Sie bevorzugen eher ein undemokratisches Umfeld, bei dem man mit den Regimes gewisse Allianzen eingeht, sich aber weiterhin Europa zugehörig fühlt.

Ilan Pappé - Foto: © 2011 by Schattenblick

Nachdenken über den Frieden
Foto: © 2011 by Schattenblick
SB: Im Gazastreifen gibt es inzwischen eine Jugendbewegung, die der Politik der alten Männer die Gefolgschaft aufkündigt, weil sie ihr nicht mehr vertraut. Sie fordert: Schließt Frieden und findet eine Lösung! Zwar gibt es auch in Israel eine soziale Bewegung, doch sind beide Bewegungen bislang voneinander getrennt.

IP: Sie sind voneinander getrennt, weil sich die soziale Bewegung in Israel nicht mit dem Kernpunkt des Problems befaßt, während das bei der Bewegung in Gaza durchaus der Fall ist. Aus diesem Grund kommt es nicht zum Dialog. Die Bewegung in Israel setzt sich nicht mit den eigentlichen Ursachen auseinander, sondern fokussiert statt dessen auf die Probleme. Deswegen spricht die Bewegung in Israel nicht über die Okkupation, den Konflikt oder die Palästinenser. Das ist nicht sehr realistisch. So repräsentiert sie im Grunde eine bestimmte gesellschaftliche Gruppierung von Israelis aus der Mittelschicht, der es im Vergleich zu früher tatsächlich nicht gut geht. Das gilt bekanntlich für alle Angehörigen der Mittelschicht in der westlichen Welt, so daß Israel keine Ausnahme bildet. Das mangelnde Vertrauen der Bewegung in Gaza in ihre Führer beruht auf dem Wissen um die Realität. Dagegen muß sich die Bewegung in Israel erst noch mit der Realität konfrontieren, ehe die beiden Bewegungen zueinander finden können. Wenn die Bewegung in Israel die Lage in Gaza als Teil des Problems aufgefaßt und in ihre Erwägungen einbezogen hätte, bestünde die Chance eines gemeinsamen Vorgehens. Den Initiatoren des Protests in Israel war klar, daß jeder Verweis auf die Okkupation zu einem enormen Verlust der Unterstützung in der Öffentlichkeit geführt hätte. Da sie als Massenbewegung bestehen wollten, vermieden sie die zentralen Themen und führten so einen zahnlosen Massenprotest an.

SB: Aktuelle Nachrichten über den fortgesetzten Ausbau der Siedlungen, der in den letzten zwölf Monaten sogar beträchtlich forciert wurde, werfen die Frage auf, ob die Siedlungspolitik integraler Bestandteil der Regierungspolitik Israels ist.

IP: Das ist sie von jeher gewesen. Die israelische Siedlungspolitik weckt Erinnerungen an gedemütigte oder getötete Frauen. Das Verbrechen hat immer existiert, doch aus welchen Gründen auch immer interessieren sich die Medien nur zu bestimmten Zeitpunkten dafür. Dann heißt es, das Problem habe zugenommen. In Wirklichkeit hat nicht das Verbrechen, sondern lediglich seine Wahrnehmung in der Öffentlichkeit zugenommen. Israel hat nie aufgehört, die okkupierten Gebiete zu besiedeln, und dabei spielte es keine Rolle, welche Regierung gerade an der Macht war, ob sie nun der Linken oder der Rechten zugeordnet wurde. Daran wird sich auch nichts ändern. Israel wird erst damit aufhören, wenn es sich schätzungsweise 50 bis 60 Prozent des Westjordanlands einverleibt hat. Erst dann wird man den Palästinensern sagen, daß sie auf ihren restlichen 40 Prozent einen eigenen Staat errichten können, sofern sie das wollen. So lautet der Konsens in der israelischen Regierungspolitik quer durch alle Lager.

SB: Ist eine Zweistaatenlösung deshalb unmöglich?

IP: Sie ist unmöglich. Ob man das hören will oder nicht spielt längst keine Rolle mehr. Es gibt keinen Raum mehr für einen anderen Staat. Natürlich könnte man rein theoretisch einen virtuellen Staat in Ramallah mit Namen, Flagge und Parlament ausrufen, doch in der Realität wäre das kein Staat, sondern ein Bantustan.

SB: Als Mahmud Abbas nach New York reiste, sorgte das eine Zeitlang für einen Medienhype. Inzwischen sieht dieser Vorstoß wie eine Sackgasse aus.

IP: Eine Woche vor seinem Auftritt bei den Vereinten Nationen schrieb ich einen Artikel über das Begräbnis der Zweistaatenlösung. Darin vertrat ich die Auffassung, daß der Antrag auf Vollmitgliedschaft eines Palästinenserstaats vor der UN-Generalversammlung der Beginn der Beerdigung sein werde, weil die Zustimmung der UN-Mitglieder folgenlos bleiben würde. Die ganze Welt einschließlich der Vereinten Nationen unterstützt eine Idee, die nicht die geringste Relevanz hat. Veränderungen reifen heran, wenn Menschen erkennen, daß ihre Erwartungen an die Politik nicht mehr realistisch ist. Es war in der Tat ein Medienhype, bei dem die Israelis den Part übernahmen, sich eingeschüchtert zu geben und damit das Vorhaben um so mehr aufzuwerten. Mahmud Abbas' ausschlaggebendes Motiv, nach New York zu reisen, war sein Bestreben, dem Schicksal Mubaraks zu entgehen, denn beliebt ist auch er nicht. Gäbe es demokratische Wahlen in dem Gebiet, das man Palästina nennen könnte, würde er verlieren. Zudem schlug sein Versuch fehl, seine politische Karriere zu retten.

SB: Wie schätzen Sie die Versöhnung von Fatah und Hamas ein? Handelt es sich dabei um eine ernstzunehmende Annäherung oder lediglich um einen weiteren Hype für die Öffentlichkeit?

IP: Nach dem vorherrschenden Zeitgeist spielt diese Versöhnung keine Rolle mehr. In der Vergangenheit wäre sie von Bedeutung gewesen, aber inzwischen ist der Zug für die Hamas als auch für die Fatah abgefahren. In taktischer Hinsicht könnte die Versöhnung dazu führen, daß die Palästinenser etwas besser zusammenarbeiten, für den Kernpunkt der Problematik ist es jedoch nicht wirklich wichtig. Der Kern des Konflikts besteht darin, daß Palästina nicht nur das Westjordanland und den Gazastreifen umfaßt, sondern all das, was einst Palästina war. Es schließt auch die Palästinenser in Israel und die Flüchtlinge mit ein, und solange das Territorium und das gesamte Volk nicht in den Friedensdiskurs einbezogen werden, klammert man den wesentlichen Aspekt aus. Für die Palästinenser ist die Frage ihrer Repräsentation inzwischen von zentraler Bedeutung. Weder die Fatah noch die Hamas repräsentieren heute noch die Palästinenser, die daran arbeiten, sich eine neue Repräsentation zu geben. Es gibt eine Initiative, jedem Palästinenser zu gestatten, sich für die Wahlen zum Nationalkongreß aufstellen zu lassen. Das wäre tatsächlich eine Revolution und würde eine glaubwürdige Regierung herbeiführen. Hamas und Fatah sind meines Erachtens Totengräber mit ihrer Regierung von Technokraten und Angehörigen der politischen Eliten, die für eine Übergangszeit ans Ruder kam. Doch das ist nicht das Ende der Geschichte. Was vor drei Jahren noch dramatisch klang, ist heute kaum noch von Bedeutung. Damals wirkte die Idee einer vereinigten Front der Palästinenser gewaltig, doch inzwischen ist nicht mehr besonders wichtig.

SB: Der mögliche republikanische Präsidentschaftskandidat Newt Gingrich erklärte vor wenigen Tagen, es existiere überhaupt kein palästinensisches Volk. Mit Terroristen könne man keinen Friedensprozeß herbeiführen.

IP: Der Intelligenzgrad potentieller Präsidenten der Vereinigten Staaten ist ebenso erschreckend wie der etlicher früherer Präsidenten der USA. Die Aussage Gingrichs ist natürlich kompletter Unsinn. Viel wichtiger ist jedoch die Frage, ob die Vereinigten Staaten im 21. Jahrhundert noch dieselbe Rolle in der Welt spielen werden wie in der Vergangenheit. Wenn das die Führerschaft sein soll, die sie uns anbieten, dann wäre es besser, in die Isolation zurückzukehren, der sie vor dem Ersten Weltkrieg den Vorzug gegeben hatten. Alles andere wäre furchterregend. Wenn man die republikanischen Kandidaten der Reihe nach unter die Lupe nimmt, sind nur wenige darunter, die mehr zu sagen haben als Gingrich, nicht nur, was die Sache der Palästinenser betrifft. Es ist angsteinflößend, daß ein Politiker mit derartigen Auffassungen eines Tages den Schlüssel zur politischen und wirtschaftlichen Zukunft der Welt in Händen halten könnte.

Ilan Pappé  - Foto: © 2011 by Schattenblick

Arbeit am Konflikt kein Grund zur Traurigkeit
Foto: © 2011 by Schattenblick
SB: Wie bewerten Sie die Rolle Israels im internationalen Kontext, vor dem Hintergrund, daß seine Legitimation zu schwinden scheint. Immer mehr Menschen wird der Antagonismus zwischen der ethnischen Herangehensweise und der praktischen Politik klar. Kann Israel auf diese Weise auch künftig seine Legitimation sicherstellen?

IP: Das Überleben Israels ruhte stets auf zwei Pfeilern. Der eine war Moral, der andere Politik. Israel büßt zweifellos seine moralische und ethische Basis ein. Die Rechtfertigung eines jüdischen Staats inmitten der arabischen Welt ist in den Augen vieler kaum noch nachvollziehbar. Israel behält jedoch seine politische Stärke, indem es sich immer wieder neu erfindet und den Erfordernissen des Westens angleicht. Einst war es der Krieg gegen den Kommunismus, heute ist es der Krieg gegen den radikalen Islam. Es wird noch eine geraume Zeit so weitergehen, bis auch dieser Pfeiler bricht. Die Frage ist, welche Art von Staat daraus hervorgehen wird. Wenn die Welt Israel als einzigen Grund seines Fortbestehens nur noch die Nützlichkeit im Kampf gegen reale oder fiktive Feinde zubilligte, dann sähen viele Israelis keinen Grund mehr darin, in diesem Land zu bleiben. Wenn Israel einzig und allein die Funktion einer Frontstellung in den Kriegen hätte, die die Amerikaner und Briten ausbrüten, würden Israelis, die emigrieren könnten, dies vorziehen und nicht mit jenen zurückbleiben, denen diese Option nicht offensteht. Demokratie wäre dann in Israel kein Thema mehr, und der Staat würde immer mehr Ähnlichkeit mit dem Iran annehmen. Die Geschichte lehrt uns jedoch, daß Unvorhersehbares geschehen kann. Daher ist auch die andere Option nicht auszuschließen, daß es vorher zu einer Stunde der Wahrheit kommt. Möglicherweise löst gerade der Verlust der Legitimation eine innere Transformation aus, wie sie Israel noch nicht erlebt hat. Vielleicht ist Israel ja doch Teil des Zeitgeistes und der neuen Idee, daß Politik manipulativ und ausbeuterisch sei und die Bedürfnisse der Menschen nicht reflektiere. Vielleicht schließen sich junge Israelis ja doch dieser, wie ich meine, gesunden Reaktion an, wie man sie gegenwärtig in aller Welt antrifft. Sollte das geschehen, hätte man wesentlich bessere Voraussetzungen für eine Ein- oder Zweistaatenlösung, deren Unterschiede dann nicht mehr ins Gewicht fielen. Das Legitimationsproblem wird entweder durch einen Regimewechsel in Israel gelöst oder dadurch, daß das Land gravierende Abstriche in seinen demokratischen und liberalen Ansprüchen macht und ein Söldnerstaat des Westen wird. Einen dritten Weg kann ich nicht erkennen.

SB: Im akademischen Diskurs in Deutschland spielt die Kritische Theorie eine große Rolle hinsichtlich der Frage des Antisemitismus. Handelt es sich dabei aus Ihrer Sicht um ein Spezifikum deutscher Wissenschaft oder trifft man diesen Zusammenhang gleichermaßen in anglo-amerikanischen Ländern an?

IP: Ich bin sehr skeptisch, was die vermeintlich eigenen Ideen der wissenschaftlichen Gemeinde angeht. Ich glaube, wir sind nicht sehr originell und reflektieren eher, was die Menschen fordern. Wenn sich die deutsche wissenschaftliche Gemeinde auf so außergewöhnliche Weise mit dem Antisemitismus beschäftigt, liegt das nicht daran, daß sie diese Lösungen mit wissenschaftlichen Mitteln gefunden hätte. Sie wollte vielmehr wissenschaftlich unterfüttern, was die Menschen ihrer Ansicht nach wünschten. Nur wenige Akademiker wagen es, ihrer Gesellschaft zu sagen, daß sie sich irre. Und sollten sie das doch tun, bezahlen sie einen hohen Preis dafür. Das Problem ist nicht akademischer oder wissenschaftlicher Natur. Das Problem hat eine durchaus verständliche Herkunft. Die deutsche und europäische Gesellschaft als Ganzes haben die Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs nicht angemessen abgeschlossen. Und Israel half dabei mit, es nicht zu diesem Abschluß kommen zu lassen. Israel zu unterstützen, war ein Ersatz dafür, sich mit dem auseinanderzusetzen, was in Europa geschehen war.

SB: Nun ist die deutsche Politik sehr stolz darauf, eigene Schuld einzugestehen, mit ihr umzugehen und damit wie ein Leuchtfeuer allen anderen Staaten den Weg zu weisen.

IP: Das trifft erstens nicht zu und wird zweitens auf falsche Weise reflektiert. Die einzige Möglichkeit, sich mit Bezug auf Israel auf den Holocaust zu beziehen, besteht darin, die Israelis aufzufordern, die Drangsalierung der Palästinenser zu beenden. Das wäre Wiedergutmachung. Die Deutschen wagen es allerdings nicht. Mißbraucht ein Vater seine Kinder und wiederholt sich dieses Muster bei seinem Sohn, was durchaus vorkommen kann, wie wir aus der Psychologie wissen, so hilft es nicht, die zweite Generation gewähren zu lassen, um darüber das eigene Verhalten zu rechtfertigen. Man kann nicht wiedergutmachen, was man dem eigenen Kind angetan hat, indem man ihm gestattet, dasselbe mit seinen Kindern zu tun. Doch genau das macht Deutschland. Der deutsche Umgang mit dem Holocaust erschöpft sich darin, den Israelis zu erlauben, was immer sie mit den Palästinensern tun wollen. Das löst das Problem nicht und hat desaströse Konsequenzen.

SB: Israelis und Briten machen derzeit unverhohlen Front gegen Teheran. Wie schätzen Sie die Gefahr eines Krieges gegen den Iran ein?

IP: Ein Krieg ist in der Tat nicht auszuschließen. Derzeit hat man es in Israel mit einer Einmannshow des Verteidigungsministers Ehud Barak zu tun, der scharf auf diesen Waffengang ist. Allerdings sind noch immer etliche einflußreiche Leute im Sicherheitsapparat und in der Armee dagegen, weshalb es unmöglich ist, die künftigen Ereignisse mit Sicherheit vorherzusagen. In Israel findet derzeit ein Machtkampf um diese Frage statt, dessen Ausgang bislang offen ist. Wir können den Menschen nur sagen, daß die Konsequenzen im Falle eines Krieges schrecklich wären, und das nicht nur für Israel und den Iran oder die Region, sondern auch für Europa. Wenn ein längerer Krieg beginnen würde, käme die Ölversorgung zum Erliegen und die ohnehin gravierende Wirtschaftskrise würde sich in einem unabsehbaren Ausmaß vertiefen. Wir stehen vor einer äußerst gefährlichen Situation und können von Glück reden, daß es noch nicht zum Krieg gekommen ist und die Gefahr noch abgewendet werden kann. Der Iran will definitiv keinen Krieg. Ich weiß nicht, wer dort ständig Bomben zündet, den obwohl die Iraner davon ausgehen, daß Israelis dahinterstecken, halten sie sich mit Reaktionen auffallend zurück, was ein gutes Zeichen ist. Sie sind offensichtlich nicht darauf erpicht, es zum Äußersten kommen zu lassen. Was alles geschehen könnte, wenn Israel offen angreifen würde, steht auf einem anderen Blatt.

SB: Wie bewerten Sie aus Ihrer ganz persönlichen Sicht Ihren Beitrag als Historiker in den Kontroversen des Nahostkonflikts?

IP: Das zu beurteilen, kommt anderen Leuten zu. Ich kann dazu nur sagen, was ich beizutragen hoffe. Ich möchte künftige Studenten der Geschichtswissenschaft dazu auffordern, sich nicht zu fürchten, Aktivisten und Historiker zu sein. Und daß es nicht stimmt, daß ein guter Historiker nur der sein könne, der auf nichts Einfluß nimmt. Ich hoffe, daß die nächste Generation von Historikern sich ernsthaft darum sorgt, was sie schreibt. Dann hätten wir bessere Geschichtsbücher und -lehrer und könnten vielleicht ein wenig mehr aus der Geschichte lernen, als das heute der Fall ist. Einer der Gründe, warum Geschichte als Lehrfach so bedeutungslos geworden ist, besteht darin, daß Historiographie zu einer bloßen Karriere geworden ist und keine Mission mehr kennt. Ich möchte Geschichtswissenschaft wieder dahin zurückführen, daß sie eine Mission verfolgt. Auch im Erziehungswesen, im Journalismus und in vielen anderen Sparten stößt man auf das Phänomen einer Professionalisierung, die sich von allen Kernfragen des Lebens außer der der eigenen Karriere verabschiedet hat. Man beschäftigt sich nicht mehr damit, weil man es für wichtig hält, sondern weil es eben ein Job ist. Ich persönlich glaube nicht, daß es nur ein Job ist - das ist jedenfalls meine Hoffnung.

SB: Herr Pappé, wir bedanken uns für dieses ausführliche Gespräch.

Zum Besuch Ilan Pappés beim ZMO siehe auch:

http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0088.html

http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0089.html

http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0104.html

Videoaufzeichnung des Vortrags Ilan Pappés beim ZMO:

http://publicsolidarity.de/2011/12/17/ilan-pappe-am-16-dezember-2011-in-berlin

Ilan Pappé mit SB-Redakteur - Foto: © 2011 by Schattenblick

Im Gespräch mit SB-Redakteur
Foto: © 2011 by Schattenblick

17. Januar 2012