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INTERVIEW/102: Werner Seppmann über die Ambivalenz linker Ideologieproduktion (SB)


Interview mit Werner Seppmann am 7. Dezember 2011 in Hamburg


Als Vorstandsmitglied der Marx-Engels-Stiftung, als langjähriges Mitglied der DKP und Mitherausgeber der Marxistischen Blätter bis 2009 gehört der Sozialwissenschaftler und Philosoph Werner Seppmann zu den profundesten Kapitalismuskritikern der Bundesrepublik. Vor einer Veranstaltung der Assoziation Dämmerung [1] zur Kritik der Neuen Marx-Lektüre beantwortete der Autor zahlreicher Werke zur Marxismusforschung, Gesellschaftstheorie, Ideologiekritik und Kultursoziologie dem Schattenblick einige Fragen. Im zweiten Teil des Gesprächs geht es um sein persönliches Verhältnis zu seiner politischen Heimat, der DKP, und um die Verwerfungen linker Gesellschaftskritik und Ideologieproduktion.

Werner Seppmann - Foto: © 2011 by Schattenblick

Werner Seppmann Foto: © 2011 by Schattenblick

SB: Herr Seppmann, Sie sind vor zwei Jahren aus der DKP ausgetreten. Hat sich die Stichhaltigkeit der Gründe für diesen Schritt aus der Rückschau heraus für Sie bestätigt?

WS: Meine Gründe hören sich sicherlich zunächst kurios an. Es ging um ästhetische Fragen, aber Revisionismen haben sich in der Arbeiterbewegung schon oft an ästhetischen Fragen bemerkbar gemacht. Die Sozialdemokraten haben zwei Tage auf einem Parteitag im späten 19. Jahrhundert über den Naturalismus diskutiert, zu dem viele Delegierte ein affirmatives Verhältnis hatten. In Prag hat man in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, vor der Aufgabe kommunistischer Positionen, Kafka ohne ideologiekritische Relativierung, also im Sinne bürgerlicher Ideologie diskutiert. Nun gibt es auch in der DKP die Tendenz, angesichts einer gewissen Erfolglosigkeit bisheriger Politik, sein Heil in der Anpassung an gesellschaftliche Trends zu suchen.

Da Fragen der Ästhetik und Kunst zu meinen Arbeitsfeldern gehören, hat es mich mehr als verärgert, daß man glaubt, soziale "Anschlußfähigkeit" und politische Akzeptanz mit der unreflektierten Übernahme von Positionen eines herrschenden ästhetischen Modernismus erreichen zu können. Also ganz konkret ging es darum: Ist es eine hinreichende Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Widerspruchstendenzen, wenn bei einer Shakespeare-Inszenierung in Düsseldorf auf der Bühne gekotzt, geschissen und onaniert wird? Wird hinreichend der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit thematisiert, wenn Arbeitslose in einem Museumsraum Behälter hin und her schieben? Mir scheinen da große Zweifel angebracht zu sein, denn hier wird auf herrschende Widersprüche bestenfalls hingewiesen, sie werden aber nicht künstlerisch bearbeitet. Herrschende Entfremdung wird dadurch nur noch einmal bestätigt, die Entwicklung überzeugender Gegenbilder verhindert. Dadurch wird eine allgemeine Resignation, die der Dreh- und Angelpunkt ideologischer Machtreproduktion eines späten Kapitalismus ist, verstärkt.

Aber es gibt innerhalb der Partei-Instanzen Kräfte, die überzeugt sind, daß man sich den Tendenzen des ästhetischen Nihilismus öffnen müßte, um up to date, also "anschlußfähig" zu sein. Es hätte ernsthaft diskutiert werden müssen, ob das der richtige Weg ist. Jedoch sind solche Diskussionen verhindert worden. Weil der Kurs der weltanschaulichen Selbstaufgabe ohne jegliche Nachdenklichkeit weiter beschritten wurde, bin ich ausgetreten. Also nicht, weil solche Positionen vertreten wurden und man gesagt hat, das ist an sich auch progressiv, und wenn wir die allgemein progressiven Kräfte in dieser Gesellschaft ansprechen wollen, dann müssen wir uns dort positiv positionieren. Nicht dieser Sichtweise habe ich die Legitimation abgesprochen.

Aber problematisch wurde die Situation, weil in der Parteizeitung die weltanschauliche Selbstnegation so präsentiert wurde, als ob sie die ästhetische Position der Partei wäre. Dieser Eindruck wurde dadurch verstärkt, daß die notwendige Diskussion darüber verhindert wurde. Das hat der Partei enorm geschadet, ihre intellektuelle und theoretische Integrität in Frage gestellt. Kulturschaffende mit großer Symphatie für die Partei haben die Dinge mit zunehmendem Entsetzen beobachtet - und sich zurückgezogen. Im Rahmen dieses Konfliktes ist ja auch Thomas Metscher, der Jahrzehnte Mitglied in der DKP war, ausgetreten. Es wurde, gewissermaßen nach dem Motto "wo gehobelt wird, da fallen auch Späne", der weltweit führende Vertreter einer marxistischen Ästhetik und Literaturwissenschaft aus der Partei vertrieben. Als "Abschiedsgruß" hat es dann in den Marxistischen Blättern noch eine banausische, weil auf einem unsäglichen Niveau angesiedelte Kritik seiner Analyse gesellschaftlicher Entfremdungsformen gegeben. Für einen unvoreingenommenen Beobachter hat das wie ein Fußtritt gewirkt - und war wohl auch so gemeint.

Um selbst politisch handlungsfähig und glaubhaft zu bleiben, blieb mir - nachdem ich wirklich alles versucht und mir die Parteiführung auch Zusagen gemacht hatte, die nicht eingehalten wurden - nur der Austritt aus der Partei. Daß die ästhetisch-weltanschauliche Umorientierung systematisch betrieben wird, zeigt sich an der Tatsache, daß die Parteizeitung schon seit mehr als einem Jahrzehnt Thomas Metscher von der Mitarbeit ausgeschlossen hat. Ursprünglich wollte ich darin auch nur einen Zufall bzw. eine Nachlässigkeit sehen. Aber als der Konflikt eskalierte (das ging ja über einen längeren Zeitraum), habe ich immer wieder angemahnt, Thomas Metscher in der UZ zu Wort kommen zu lassen. Der für die kulturpolitische Geisterfahrt zuständige Redakteur hat diese Anregung nicht aufgegriffen. Man kann auch sagen, ein weiteres Mal verhindert, daß über die Prinzipien einer progressiven Ästhetik in der Parteizeitung diskutiert werden konnte.

Daß jedoch die Situation innerhalb der Partei widersprüchlich und auch über den weltanschaulichen Kurs noch lange nicht das letzte Wort gesprochen ist, wird dadurch dokumentiert, daß andere Kräfte dafür gesorgt haben, daß nach dem Austritt von Thomas Metscher im Parteiverlag sein gewichtiges Buch "Imperialismus und Moderne" erscheinen konnte.

Leider ist dennoch die programmatische und theoretische Selbstaufgabe weitergegangen. Meine Befürchtungen, daß es sich bei der Selbstdemontage in den ästhetischen Fragen nur um die Vorboten ganz anderer Entwicklungen handeln würde, haben sich bestätigt: Es sind aus dem Zentrum der Parteiführung Papiere in Umlauf gebracht worden, die ganz zentrale Prinzipien kommunistischer Politik und des gerade erst beschlossenen Parteiprogramms in Frage stellten, also zum Beispiel den Anspruch, gesellschaftliche Prozesse auf marxistischer Grundlage zu interpretieren und diese Interpretationen als Diskussionsangebot zur Verfügung zu stellen. Heute wird das Verhältnis zu den sozialen Bewegungen im Kontrast zum historischen Verständnis der kommunistischen Bewegung definiert. Es wird behauptet, wir müssen, um es lapidar zu sagen, erst einmal mitmachen, um dann zu sehen, wie es weitergeht. Man kann einen solchen Standpunkt vertreten, aber er widerspricht dem Parteiprogramm der DKP - vor allem aber der historischen Funktion einer kommunistischen Partei, die in einer sehr interessanten Weise von Marx und Engels im "Kommunistischen Manifest" definiert wird. Dort wird nachdrücklich davor gewarnt, daß Kommunisten innerhalb politischer Prozesse einen Sonderstatus beanspruchen. Auch sollen sie sich davor hüten - wie es wörtlich heißt - Prinzipien aufzustellen, "wonach sie die proletarische Bewegung modeln wollen". Ihre eigentliche Aufgabe bestünde darin, die jeweilige Situation zu analysieren, um das gemeinsame Interesse der Werktätigen herauszuarbeiten. Kommunisten müßten die Einsicht in "die Bedingungen" der Kämpfe vorantreiben, damit das faktisch oft Auseinanderstrebende zusammenfinden kann.

In eine moderne Sprache übersetzt heißt das: Die Kommunisten müssen Hilfe zur Selbstorganisation sozialer Bewegungen leisten und versuchen, der Spontaneität eine Richtung und ein weltanschauliches Fundament zu geben. Die Frage drängt sich natürlich auf, ob man personell und auch aufgrund der konzeptionellen intellektuellen Verfaßtheit gegenwärtig das Notwendige und Wünschenswerte leisten kann. Wenn das nicht der Fall ist, ist das aber noch lange kein Grund, aus dieser Not noch eine Tugend zu machen und zu sagen, wir wollen überhaupt keine Orientierungspunkte mehr setzen. Das ist der sicherere Weg zur politischen Selbstaufgabe gerade in einer Situation, wo eine Organisation gebraucht wird, um das in sehr verschiedener Weise Artikulierende zunächst einmal konzeptionell und theoretisch zusammenzufassen.

In einer solchen Situation ist es geradezu ein Akt der Selbstaufgabe, wenn man sich dieser Herausforderung, die das Selbstverständnis einer kommunistischen Partei ausmacht, regelrecht entzieht.

SB: Sehen Sie diese Tendenz auch in der jüngsten Debatte um das Parteiprogramm der DKP, sich nicht nur auf Marx, Engels und Lenin zu beziehen, sondern auch auf Antonio Gramsci und Rosa Luxemburg?

WS: Gramsci und Luxemburg gehören ohne Wenn und Aber zum marxistischen Erbe. Sie waren in der DKP - wenn auch mit differenten Gewichtungen - immer präsent. Theoretische Tabus hat es in der DKP in den letzten 20 Jahren nicht gegeben. Es hat eine eindrucksvolle "Fehlerdiskussion" gegeben - auch wenn die Ergebnisse nicht von allen akzeptiert wurden und die Diskussion über die Gründe des Scheiterns des Sozialismus noch lange nicht zu Ende ist.

Faktisch habe ich die DKP 20 Jahre lang als eine konsequent und schonungslos diskutierende Partei erlebt, die ihre Orientierungen und theoretischen Grundlagen immer wieder mit großem intellektuellen Aufwand überprüft hat. Das ist in der Parteienlandschaft der BRD eine singuläre Leistung.

Leider habe ich in der Endphase anderes erlebt - und erlebe es immer noch. Die Kräfte der "Umorientierung" versuchen Diskussionen aus dem Weg zu gehen oder stellen sich ihnen nur, wenn es unvermeidlich ist. Wo sie die Möglichkeit haben, die Mitglieder zu bevormunden, versuchen sie es, auch wenn es ihnen immer seltener gelingt.

Wie das abläuft, will ich aus meiner eigenen Erfahrungsperspektive illustrieren, also ganz "subjektivistisch", wie mir Genossen vorgeworfen haben, die bisher dadurch aufgefallen sind, daß sie den Kurs der Selbstaufgabe, unter dem sie fraglos leiden, sprachlos hinnehmen. Aber konkret zur Sache: Meine beiden letzten Bücher zur Klassenproblematik dürften in der Partei so intensiv gelesen werden, wie schon lange keine marxistische Literatur mehr. Willi Gerns, ein profilierter Vordenker der Partei aus der älteren Generation, hat darüber geschrieben, daß meine beiden "Schriften 'Krise ohne Widerstand?' und 'Die verleugnete Klasse' zusammengenommen ein marxistisches Kompendium zur heutigen Arbeiterklasse unseres Landes darstellen, die ihresgleichen suchen und wohl das Fundierteste sind, was gegenwärtig zu dieser Thematik vorliegt". Selbstredend, daß er der Meinung war, daß beide Bücher in die Hand eines jeden Kommunisten, einer jeden Kommunistin und unserer Bündnispartner gehören. Ich kann sehr gut nachvollziehen, daß jenen Kräften in der Partei, die mit den Argumenten der bürgerlichen Soziologie in Frage stellen, daß die Arbeiterklasse jemals noch eine auschlaggebende Rolle bei gesellschaftlichen Transformationsprozessen spielen könne, meine konkrete soziologische Analyse ein Dorn im Auge ist. Aber sollte man nicht doch versuchen, darüber zu diskutieren?

Nun, die Realität sieht so aus, daß ein Mitglied des Parteivorstandes versucht hat, eine Partei-Veranstaltung mit mir über das Thema "Arbeiterklasse" zu verhindern. Es spricht für die Lebenskraft der Partei, für ihre von den Mitgliedern getragene demokratische Kultur, daß ihm das nicht gelungen ist!

Es läßt sich also mit einiger Erleichterung in Rechnung stellen, daß die Kräfte der Selbstaufgabe nicht die ganze Partei repräsentieren. Im Gegenteil: Die Mehrheit der Mitglieder ist konsequent antikapitalistisch, fühlt sich dem Parteiprogramm und der Traditionslinie verpflichtet, die mit dem Namen Lenins verbunden ist: Es existiert sicherlich keine zweite politische Gruppe in der Bundesrepublik, in der ein konsequenter Antikapitalismus eine solche Substanz und ein solches Fundament besitzt wie in der DKP.

Aber tragischerweise gibt es für diese Aufweichungstendenzen nachvollziehbare Gründe, die darin liegen, daß man als Hypothek der Vergangenheit noch alte Denkmuster mitschleppt, die verhindern, daß man in einer wirklich angemessenen Weise auf die neuen Herausforderungen reagieren kann. Das ist schon eine sehr komplizierte, auch verzweifelte Situation. Man muß sagen, sie ist deshalb tragisch, weil es zur DKP, wenn einem die Sache fundamentaler Gesellschaftsveränderung am Herzen liegt, keine Alternative gibt: Sie repräsentiert in der Bundesrepublik immer noch in konkurrenzloser Weise organisatorische Kontinuität und Erfahrung, besitzt historische Glaubwürdigkeit und kann einige tausend Mitglieder in die Waagschale werfen.

Noch immer steht die DKP in der Traditionslinie der von Rosa Luxemburg gegründeten KPD und ist organisch mit jenen Kräften verbunden, die in Spanien gegen den Faschismus gekämpft und in Deutschland den antifaschistischen Widerstand organisiert haben. Die DKP wurde von jenen Kräfte mitgegründet, die im Terrorsystem von Buchenwald die Organisationstruktur der Partei aufrechterhalten haben. Dieser DKP fühle ich mich nach wie vor verbunden.

Werner Seppmann mit SB-Redakteur - Foto: © 2011 by Schattenblick

Im Gespräch mit SB-Redakteur
Foto: © 2011 by Schattenblick

SB: Bei den mehr oder weniger organisierten Gruppen in der linken Bewegung, die sich im breiten Spektrum von antinational bis antiimperialistisch aufstellen, spielen identitätspolitische Themen und Gender-Fragen eine so große Rolle, daß man manchmal den Eindruck bekommen könnte, hier gehe es um einen neuen Verhaltens-Katechismus. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

WS: Das ist ein sehr weites Feld, da kann man kaum alles über einen Kamm scheren, da werden aber auch viele desorientierende Dinge vertreten. Ich weiß, daß ich mir damit keine Freunde mache, aber mit dem Zauberwort Feminismus wird heute sehr oft die Tür zu konservativen, wenn nicht sogar zu reaktionären Orientierungen geöffnet. Es ist kaum möglich, das in generellen Formeln zu fassen, man kann nur dafür plädieren, mit ein wenig mehr Sensibilität an diese Fragen heranzugehen. Es wird von dem einen oder anderen sicherlich etwas reklamiert und betont, was es wert ist, näher behandelt zu werden.

Gerade wir traditionalistischen Linken wären sicherlich in der Ökologiefrage nicht so weit, wenn es nicht die grüne Bewegung gegeben hätte trotz ihrer Naivität und Begrenztheit. Obwohl gerade die Ökologiefrage bei Marx und Engels schon in einer erstaunlichen Klarheit antizipiert wurde. Wie es auch immer wieder erstaunlich ist, daß Sätze bei Marx und Engels stehen, wo man sich fragt, wie sie diese Probleme in ihrer Zeit schon erkannt haben konnten. Aber grundsätzlich erleben wir bei Marx, daß er weniger ein Ökonom des 19., sondern ein Ökonom des 21. Jahrhunderts ist. Was er als reines Modell entwickelt hat, ist heute Alltagsrealität, und das gilt in gewisser Weise auch für die Ökologiefrage: Die kapitalistische Produktionsweise untergräbt nicht nur die Gesundheit des Arbeiters, sondern sie untergräbt auch den gesellschaftlichen Reichtum. Das ist von einer Wahrheit und Dramatik, die sich heute erst in vollem Umfang zeigt.

Bei dieser Vielzahl von sogenannten neuen sozialen Bewegungen ist es so, daß sie inhaltlich oft auch Fluchtpunkte darstellen, daß man zum Beispiel die Genderfrage betont, um sich der Klassenfrage nicht stellen zu müssen. Soviel haben wir Marxisten mittlerweile gelernt, daß die Geschlechterproblematik nicht mit der Abschaffung des Kapitalismus zu lösen sein wird, aber ohne Abschaffung des Kapitalismus auch nicht. Das unterscheidet uns von den neuen sozialen Bewegungen, die sicherlich bestimmte Dinge richtig thematisieren, wenn sie darauf verweisen, was allgemein am realen Sozialismus nicht stimmt und daß die Benachteiligung der Frau nicht beseitigt wird. Aber gerade die Frauen in Ostdeutschland wissen schon sehr genau, was sie mit dem Realsozialismus verloren haben.

Es gibt eine ganz interessante Untersuchung des Kollegen Peter Förster, der zu DDR-Zeiten stellvertretender Leiter des Zentralinstituts für Jugendforschung war. Die haben zum Ende der DDR eine Langzeituntersuchung mit mehreren Klassen der Polytechnischen Oberschule gemacht. Obwohl das Institut hinterher verfallen ist, hat Förster die Arbeit weitergetrieben. Das Interessanteste war, daß die Frauen schon zu DDR-Zeiten ein klares Bewußtsein gehabt hatten. Da sind dann im Laufe der letzten 20 Jahre bei den Frauen die Illusionen bis gegen Null abgeschliffen worden. 20 Prozent der Frauen haben zu Beginn der Studie, vor allen Dingen nach der Wende 1991, gesagt, daß Marktwirtschaft schon etwas Tolles sei. Heute steht die Zahl bei Null. Bei den Männern waren es zu Beginn 40 Prozent und heute sind es immer noch 15 Prozent. Die haben in den 20 Jahren nichts gelernt. Man sollte es sich mit der Frage, wieviel die Frauen in der DDR erreicht haben, nicht so einfach machen. Da gab es schon partielle Fortschritte, die sicherlich im Kapitalismus undenkbar sind. Leben ohne materielle Existenzängste, was Voraussetzung ist, daß man den versoffenen Kerl wirklich rausschmeißen kann, was die DDR-Frauen gemacht haben. Nach der sogenannten Wende haben sie sich schon überlegt, ob sie das machen.

SB: Ein Begriff wie Klassismus kann als Beispiel für Wortschöpfungen genommen werden, die für die moderne Soziologie signifikant zu sein scheinen. Welchen Einfluß messen Sie dieser Art von Wissenschaftsentwicklung bei, die sich immer mehr ausdifferenziert und dabei eine zentrale Frage wie den Klassenantagonismus gar nicht mehr thematisiert?

WS: Auf der einen Seite wird mit dieser Klassismustheorie ein klassengesellschaftliches Problem angesprochen, aber in der konkreten Ausführung verflüchtigt sich das sozusagen wieder. Klassismus meint, daß Unterschichtsangehörige diskriminiert werden, indem die gesellschaftlichen Mehrheitsdiskurse etwa feststellen und hervorheben, daß Unterschichtsangehörige sich nicht gut artikulieren können und andere auffällige Verhaltensweisen an den Tag legen. In der strikten Klassismustheorie wird überhaupt nicht mehr gefragt, ob das nicht tatsächlich in den gesellschaftlichen Unterzonen so der Fall ist, was ja durchaus zutrifft. Es gibt seit den 70er Jahren etwa weitreichende Untersuchungen, in welchem Maße die Klassenlage mit Artikulationsfähigkeit und Sprachkompetenz usw. zu tun hat. Das sind objektive Prozesse, die nicht nur das Produkt von Abwertungsstrategien der Mittelschichtsangehörigen sind, wie innerhalb dieses Klassismusdiskurses unterstellt wird. Und letztlich führt das dann auch von der Klassenfrage wieder weg, obwohl eigentlich Symptome der Klassenstrukturierung zur Kenntnis genommen werden, aber sie werden nicht wirklich in ihren Ursachen analysiert. Das gehört zu dieser Vielzahl von halbkritischen Theorien, die auf Kritikwürdiges rekurrieren, aber das dann so behandeln, daß die wirklichen gesellschaftlichen Ursachen irgendwo dann im Laufe der Beschäftigung und des Diskurses verschwinden.

SB: Hat dieser Trend, Empirie einfach nur abzubilden, in den Wissenschaften seit den 70er Jahren, wo es noch viele Wissenschaftler mit linkem Bekenntnis gab, Ihrer Meinung nach zugenommen?

WS: Dieser sogenannte Postmodernismus hat ganze Arbeit geleistet. Er hat wirklich zu einer Wissenschaftszerstörung in vielen Bereichen geführt. Postmodernes Denken besteht im Kern darin, daß gesagt wird, wir konzentrieren uns nur auf das einzelne Moment, weil es nur dann in allen seinen Bezügen wirklich zu erschließen ist. Aber wenn ich nicht Zusammenhänge zur Kenntnis nehme, dann bewege ich mich wirklich nur auf der gesellschaftlichen Oberfläche und habe überhaupt keinen Begriff mehr davon, wie etwas geworden ist, und natürlich auch keine Vorstellung davon, daß sich etwas verändern kann. Denn wenn ich nicht weiß, wie etwas realgeschichtlich entstanden ist, kann ich auch keinen Horizont der Veränderung entwickeln.

Wir haben es heute in der Wissenschaft mit einer weitgehenden Gleichschaltung zu tun. Man muß sich einmal vorstellen, daß in den 90er Jahren - und mittlerweile ist das Niveau noch viel niedriger - die sogenannte Individualisierungstheorie und die daraus abgeleitete Lebensstiltheorie mit der Behauptung Furore machen konnte, daß die strukturelle Verankerung eines Individuums bei den Gestaltungsmöglichkeiten seines eigenen Lebens keine Rolle mehr spielen würde. Ganze Soziologentage haben dem zugejubelt. Das ist eine wissenschaftliche Bankrotterklärung. Jeder weiß das aus seinem eigenen Leben. Der Mensch ist nicht hundertprozentig durch seine Lebenslage determiniert, aber durch seine Lebenslage ergibt sich im besten Falle ein Tunnel von Möglichkeiten. Der Sohn des Lehrers kann Rechtsanwalt werden, aber der Sohn der Schneiderin wird im besten Falle Filialleiter bei Aldi. Das sind die Karrieren, die in der individualisierten Gesellschaft möglich sind.

In letzter Konsequenz reproduzieren sich die sozialen Strukturen nach wie vor so, wie sie sich vor 50 Jahren strukturiert haben. Das Raster ist sogar enger geworden, nachdem es partielle Aufstiegstendenzen gegeben hat, die aber mehr subjektiver statt objektiver Natur waren. Der Enkel eines Industriemeisters hatte in der Familie ein hohes Ansehen, wenn er Ingenieur geworden ist - meist dann sowieso nur "Fachhochschulingenieur" -, aber real gesehen ist sein sozialer Status heute niedriger als der des Großvaters. Mein Vater war Industriemeister, und ich habe ihn schon als Sechsjähriger begleitet. Er ist jeden Morgen zum Chef gegangen und die haben dann bei einer Tasse Kaffee darüber gesprochen, wie man noch mehr Leistung aus den Arbeitern herauspressen kann. Ein Ingenieur bei Siemens mit einem Betriebsanteil von 60 Prozent Ingenieuren ist heute der Massenarbeiter. Ein durchschnittlicher Ingenieur hat nicht den Status eines Industriemeisters, den dieser vor 30 oder 40 Jahren hatte.

Subjektiv schleppt er natürlich andere Bewertungsmuster mit. Auch der Großvater sagt, daß sein Enkel es weit gebracht hat, wenn er Ingenieur geworden ist, aber irgendwann wird der Widerspruch in der Lebens- und Arbeitsgeschichte dann doch erfahrbar. Heutzutage wird versucht, die niedrigen Schichten von Technikern und Ingenieuren in die Facharbeitertarifverträge hineinzupacken. Es gibt dort wirklich Angleichungsprozesse nach unten, und zwar auf ganz breiter Basis. Wir haben ja viele Dinge diskutiert, wo man eigentlich nur resignieren kann, aber in diesen Gruppen schlägt sich diese ambivalente Stellung auch in den Bewußtseinsstrukturen nieder. Ein Ingenieur vor 20 oder 30 Jahren hat sich für etwas Besseres gehalten, er hat sich eher in der gesellschaftlichen Mitte eingruppiert und den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit relativiert. Dieser ist heute bei vielen Angehörigen der technischen Intelligenz in einer ganz erstaunlichen Weise wieder präsent, so wie es für das alte Arbeiterbewußtsein typisch war.

Daran sieht man, daß, wie mein Lehrer Georg Lukács gesagt hat, Manipulation doch nicht allmächtig ist. Ich gehöre zu den ganz wenigen Linken, die nicht sehr dezidiert über die Presse schimpfen. Daß sie manipulieren, ist offensichtlich, aber mit dem Medienkomplex kann ich nicht den niedrigen Bewußtseinsstand erklären, denn ihm ist es bisher nicht gelungen, die wirklichen Konflikterfahrungen der Menschen zu überdecken. Die sind nach wie vor vorhanden. Was der Medienapparat schafft, ist, daß er den Menschen die adäquaten Begriffe und Interpretationsmuster abgewöhnt hat oder sie den Menschen gar nicht mehr zur Verfügung stehen, weil sie im öffentlichen Raum überhaupt keine Rolle mehr spielen. Aber richtig gefragt, kommt doch zum Ausruck, daß diese gesellschaftlichen Grundkonflikte im Alltagsbewußtsein nach wie vor präsent sind.

SB: Im postmodernen Diskurs wird die These vom Tod des Subjekts aufgestellt. Was würden sie dem als gesellschaftliche oder soziale Kategorie gegenüberstellen, wo würden Sie eine Subjektivität verorten, die Aussicht auf Entwicklungsfähigkeit hätte?

WS: Die Subjektivität ist angegriffen und weitgehend zerstört, um das einmal in Schlagworten zu sagen, was sich auch in der Zunahme von Depressionen widerspiegelt, unabhängig davon, ob das immer richtig kategorisiert wird. Tod des Subjekts ist eines dieser Beispiele, wo angeblich linke Diskussionen in einem extremen Maße desorientierend wirken. Das ist der Kern bürgerlicher Ideologie seit Nietzsche und dem 19. Jahrhundert. Es ist ein konstantes Legitimationsmuster, das sich in einer anderen Terminologie so äußert, daß man also sagt, die Umstände sind so dominant, daß man sich gegen sie überhaupt nicht wehren kann. Es gibt ja auch bei Marx eine Theorie der Entfremdung, aber durch die Entfremdung wird bei Marx das Subjekt eben nicht vollständig negiert, sondern er untersucht doch ziemlich genau, welche Widerstandspotentiale sich entwickeln können.

Der Begriff "Tod des Subjekts" kommt von Foucault und wird von vielen Linken nicht ohne Berechtigung als eine Situationsbeschreibung verstanden, aber ich würde sagen, auch mißverstanden, weil nämlich bei Foucault das Subjekt tatsächlich komplett negiert wird. Die Parallelkategorie ist dann die Kategorie der Macht. Jeder kritische Denker redet von der Macht, aber er analysiert die Macht konkret, was in dieser Modephilosophie eben nicht gemacht wird. Da wird die Macht als eine elementare Kraft definiert, der man sich nicht entziehen kann. Wenn ich mich aber der Macht nicht entziehen kann, dann kann ich sie auch nicht in Frage stellen, und das ist, denke ich, die fundamentalste Legitimation bestehender Verhältnisse. Wenn ich sage, Macht ist universal und setzt sich in allen Strukturen und in allen Beziehungen irreversibel fort, dann ist das eine deutliche Legitimationsrede über die bestehenden Verhältnisse.

SB: Meinen Sie, daß der darin steckende Antikommunismus, wie ihn auch Foucault vertreten hat, auf den aktuellen Diskurs übergreift, der im besonderen Maße totalitarismustheoretisch geführt wird, wenn beispielsweise bei der Zwickauer Zelle sogleich auf eine sogenannte braune RAF abgehoben wird?

WS: Das schwingt natürlich immer mit. Der Hauptmechanismus, damit diese Dinge akzeptiert werden, ist jedoch ein anderer. Ich kann so auf eine relativ bequeme Art und Weise meine Kritikbedürfnisse befriedigen. Ich würde den Intellektuellen oder Geistesarbeiter, was immer das sein mag, so definieren, daß er ein Kritik- und Distanzierungsbedürfnis hat. Gerade diese Diskussionszusammenhänge treten ja mit einem expliziten Kritik- - sie nennen es sogar Subversions-Anspruch - auf. Aber es ist eine sehr wohlfeil zu habende Kritik und Distanzierung, die auf keinen Fall karriereschädlich ist. Ich kann die Phänomenologie von Macht und Unterwerfung pseudokritisch thematisieren, aber verschweige damit gleichzeitig die tatsächlichen gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Es gibt wohl 10.000 oder 15.000 Ausarbeitungen über den Foucaultschen Machtbegriff, aber nicht eine Arbeit ist darunter, die auch nur in die Nähe der konkreten Machtverhältnisse kommt. Das ist sozusagen ein intellektueller Gewerbezweig, in dem man, wie gesagt, traditionelle intellektualistische Kritik- und Distanzierungsbedürfnisse befriedigen kann, ohne dabei anzuecken und in Dissens zu den herrschenden Apparaten zu gelangen. Denn diese Leute werden mit großer Bereitwilligkeit auf die Lehrstühle berufen und in die entsprechenden Stellen inkorporiert.

SB: Können Sie den gesellschaftlichen Konflikt auf einen positiven Begriff bringen, gegen den sich viele Wissenschaftler oder Intellektuelle negativ definieren, indem sie Ausflüchte suchen oder sich in Spekulationen verlieren? Wovon geht Ihrer Ansicht nach die Bedrohung aus?

WS: Es ist immer ein Schritt zurück. Fluchtbedürfnisse sind weit verbreitet und äußern sich im Alltagsbewußtsein als Verdrängungsprozesse. Die kritische Rede ist ja gerade deshalb so schwer, weil die Menschen in ihren Alltagszusammenhängen, um weiter funktionieren und psychisch existieren zu können, gar nicht so genau wissen wollen, wie es ihnen geht. Eine ganz konkrete Geschichte dazu: Ich war bei meinem Zahnarzt und hatte wie immer etwas zum Lesen mitgebracht. Ich habe Die Zeit gelesen. Da sagt der Zahnarzt zu mir: Ach, die Zeit möchte ich auch einmal haben, um Die Zeit lesen zu können. Darauf antwortete ich: Ach, das ist eine Einstellungssache. Wenn einem das wichtig ist, dann findet man auch die Zeit. Ja, sagt er, aber die sind immer so kritisch, ich will das gar nicht wissen. Das ist eine ganz typische Reaktion. Selten wird einem das in dieser Klarheit gesagt. Dieser Mann hat seit fünf Jahren eine Praxis und wahrscheinlich zweieinhalb Millionen Verbindlichkeiten bei der Bank. Wenn er etwas über die Finanzkrise liest, dann kann er nachts einfach nicht mehr ruhig schlafen.

Der Mensch kann nur existieren, weil er zur Verdrängung in der Lage ist. Und in Krisensituationen spitzt sich das zu und ist sicherlich, wenn man das sozialpsychologisch betrachtet, eines der wichtigsten Erklärungsmomente, warum es auch in der jetzigen zugespitzten Situation keinen verstärkten Widerspruch gibt. Gerade Leute, die noch zum Widerstand fähig wären, weil sie arbeiten und in gewerkschaftlichen Zusammenhängen organisiert sind, schotten sich ab oder nehmen dann doch eher Zuflucht zu falschen Hoffnungen, indem sie sich sagen, wir werden das schon irgendwie überstehen, anstatt ihre Situation schonungslos zu analysieren. Wenn sie das machten, dann würden sie nicht mehr die Illusion pflegen können. Dieser Verdrängungsmechanismus gehört sicherlich zu den wirkungsvollsten Mechanismen gegenwärtiger Herrschaftsreproduktion.

SB: Müßte also eine Linke, die sich der Herrschaft verweigert und in diesem Sinne streitbar wird, der bequemen Lösung entsagen, es wie die berühmten drei Affen zu halten?

WS: Die Linke hat nur die Aufgabe, das zu sagen, was sie sagen muß. Ich glaube, daß es eine Illusion und auch Fehleinschätzung der traditionalistischen revolutionären Arbeiterbewegung gewesen ist, von der Vorstellung auszugehen, daß man eine revolutionäre Situation herstellen kann. Man kann aber auf sie vorbereitet sein. Es reicht nicht, daß der Gedanke zur Wirklichkeit drängt, sondern die Wirklichkeit muß zum Gedanken drängen. Immer wieder hat es in der Weltgeschichte in scheinbar ausweglosen Situationen neue Wendungen und Entwicklungen gegeben. Und deshalb haben weder Nietzsche noch Adorno recht, wenn sie den Begriff des immer Gleichen einführen und von der Unendlichkeit des Grauens sprechen. Ich bin wirklich der Letzte, der sich Illusionen über diesen Zustand, über die Zerstörung subjektiver Widerstandspotentiale macht. Das ist weit vorangeschritten, und wir wissen tatsächlich nicht, ob nicht, wie Marx es gesagt hat, es im Bereich des Möglichen ist, daß wir in der Endphase der menschlichen Zivilisation sind, daß die kämpfenden Klassen gemeinsam untergehen, wie wir es in der Geschichte schon einmal erlebt haben.

Man kann dann nur noch darüber spekulieren, ob es wie nach dem Untergang des Römischen Reiches nach einer langen Inkubations- und Entwicklungszeit noch einmal einen neuen Aufschwung geben wird. Die Chance ist eben nicht besonders groß, weil auch die technischen Selbstvernichtungsmöglichkeiten so weit entwickelt sind. Ich habe jüngst gelesen, daß man in irgendeinem Forschungsinstitut erneut einen Killervirus entwickelt hat. Die sagen natürlich, und das glaube ich denen auch, wir haben durch Zufall oder irgendwelche Mutationen eine Vorstufe davon entdeckt und das dann experimentell noch einmal unterstützt, bis wir ihn hatten. Wir wollen natürlich nur die Gegenmedikamente entwickeln.

Das ist ja nur ein ganz kleiner Ausschnitt der Selbstzerstörungspotentiale, die wir haben. Dann sind da noch die weltweiten militärischen Zuspitzungen, die in der Presse meist gar nicht in dem Umfang registriert werden, wie der Konflikt zwischen den USA und China. Die Chinesen haben neue Kurzstreckenraketen entwickelt, die so schnell sind, daß sie von den amerikanischen Flugzeugträgern nicht abgewehrt werden können. Die Amerikaner werden nie mehr Manöver im Chinesischen Meer unternehmen, aber sie werden versuchen, darauf eine Antwort zu geben. Wir haben es bereits auf dieser Ebene, die sicherlich nicht als Vorabend des Dritten Weltkrieges zu definieren ist, heute schon mit Konfrontationsverhältnissen zu tun, bei denen man sich mit ganz wenig Phantasie vorstellen kann, daß es dazu kommen kann. Ich würde selbst einem George W. Bush nicht unterstellen, daß er den Dritten Weltkrieg proben wollte. Aber andere Dinge haben sie geprobt. Es ist also nicht ausgeschlossen. Obama schießt so viele Raketen und Marschflugkörper durch die Welt wie kein Präsident vor ihm. Jeder Präsident der letzten Dekaden hat immer mehr Kriege geführt und mehr Raketen durch die Luft geschossen als der vorhergehende. Wenn die USA wirklich den Iran bombardieren, wer kann wirklich prognostizieren, ob sich unser Gespräch dann nicht erübrigt hat? Das ist die reale Weltsituation.

Optimismus im vordergründigen Sinne wäre wirklich fehl am Platze, aber in der gleichen Radikalität und Konsequenz, in der wir den Untergang vor Augen haben, müssen wir einräumen, daß wir trotzdem die Möglichkeit hätten, noch vor dem Abgrund zurückzutreten. Aber das ist mit kleinen Reförmchen und, wie es in der früheren Programmdiskussion der PDS hieß, mit der Unterstützung und Stimulierung der Evolutionspotentiale des Kapitalismus nicht getan. Ich denke, da gilt die Wahrheit der Plakate der KPD von 1930 und 1932 und 1933: Kapitalismus bedeutet Krieg. Unabhängig davon, ob es jetzt der Krieg gegen das Lebensglück der Menschen, ob es der Krieg gegen die Natur ist. Wenn man sich zum Beispiel die Bodenspekulation anschaut, die wie ein Heuschreckenschwarm über die peripheren Länder herfällt, dann werden da neue Konflikte konstituiert. Das verweist einmal mehr darauf, daß man sich über den Kapitalismus und seine Veränderungsfähigkeit keine Illusionen machen darf. Das ist die Basis für alle weiteren Diskussionen.

SB: Meinen Sie mit Veränderungsfähigkeit die Fähigkeit des Kapitalismus, die ihm entgegenstehenden Herausforderungen zu meistern?

WS: Sich zu zivilisieren, ganz einfach. Frau Gräfin Dönhoff hat als alte echte Liberale, erschrocken über die Auswüchse des Kapitalismus, die gemessen an heutigen Zerstörungspotentialen von harmloser Gestalt waren, gesagt: Zivilisiert den Kapitalismus. Ich denke, auf der Grundlage einer umfassenden Analyse nicht nur der ökonomischen, sondern auch der sozialen und zivilisatorischen Verfallsprozesse, daß diese Zivilisierung des Kapitalismus nicht möglich ist.

SB: Herr Seppmann, vielen Dank für das lange Gespräch.

Fußnoten:

[1] http://www.assoziation-daemmerung.de/

Erster Teil:
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0101.html

Bacana Café, Bellealliancestraße 52 - Foto: © 2011 by Schattenblick

Interview im Bacana Café in Hamburg-Eimsbüttel
Foto: © 2011 by Schattenblick

9. Januar 2012