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INTERVIEW/101: Werner Seppmann zu linker Politik in der Krise des Kapitalismus (SB)


Interview mit Werner Seppmann am 7. Dezember 2011 in Hamburg


Als Vorstandsmitglied der Marx-Engels-Stiftung, als langjähriges Mitglied der DKP und Mitherausgeber der Marxistischen Blätter bis 2009 gehört der Sozialwissenschaftler und Philosoph Werner Seppmann zu den profundesten Kapitalismuskritikern der Bundesrepublik. Vor einer Veranstaltung der Assoziation Dämmerung [1] zur Kritik der Neuen Marx-Lektüre beantwortete der Autor zahlreicher Werke zur Marxismusforschung, Gesellschaftstheorie, Ideologiekritik und Kultursoziologie dem Schattenblick einige Fragen. Im ersten Teil des Gesprächs geht es um das Verhältnis der deutschen Linken zur Krise des Kapitalismus und den Fragen, die sich daraus für ihren Anspruch auf Gesellschaftsveränderung ergeben.

Werner Seppmann - Foto: © 2011 by Schattenblick

Werner Seppmann
Foto: © 2011 by Schattenblick
Schattenblick: Herr Seppmann, warum profitiert die Linke nicht von der zunehmenden sozialen Konfliktlage?

Werner Seppmann: In gewisser Weise ist die Krise für die Linke geradezu eine Provokation. Es tritt gesellschaftlich und ökonomisch genau das ein, was sie immer prognostiziert hat. Daß die Linke nicht davon profitiert, hat natürlich damit zu tun, daß sie in einem ganz entscheidenden Punkt konzeptionslos ist. Sie kann zwar die Krise analysieren und die Ursachen benennen, aber kein Linker und keine linke Fraktion kann von sich behaupten, wirklich Antworten auf die Krise zu haben. Was heute vor allen Dingen fehlt, ist eine Alternative. Politischer Protest kann sich nur dann profilieren und wirksam werden, wenn Massenbewegungen, die wirklich politisch relevant sind, entstehen und sich auf ein Ziel orientieren. Dieses Ziel ist heute einfach nicht vorhanden. Das macht die große Provokation der Krise für die Linke aus, und die Krise hat deshalb auch bis in die Linke hinein desorientierende und desintegrative Wirkungen.

SB: Wieso meinen Sie, daß zum Beispiel Konzepte ökosozialistischer bis sozialrevolutionärer Art kein Ziel mehr sein können? Halten Sie sie für zu wenig ausgearbeitet?

WS: Ich meine das mit dem Ziel schon faßbarer. Es müßte verbunden sein mit konkreten Übergangsforderungen und einer politischen Organisation als Zentrum, die die gesellschaftlichen Verhältnisse wirklich verändern will. Die große Frage ist, ob diejenigen, die sich heute durchaus kapitalismusskeptisch artikulieren, in ihrer Substanz bereit sind, die Positionen einer fundamentalen, in die Tiefe gehenden Kapitalismuskritik zu akzeptieren. Wenn wir uns heute diese Antibanken-Bewegung anschauen, womit wir eigentlich beim Thema sind, dann haben wir es doch mit Leuten zu tun, die in letzter Konsequenz bessere Banken fordern und die Krise des Kapitalismus nicht aus ihren Strukturgesetzmäßigkeiten her begreifen, sondern die Probleme, mit denen wir konfrontiert werden, als Ergebnis subjektiven Fehlverhaltens deuten, also die gierigen Banker oder die Fehler, die die Politik gemacht hat.

Ich habe heute in der Zeitung Konkret eine Diskussion über Kapitalismus gelesen. Ich weiß nicht mehr, wer von den Diskutanten jetzt gesagt hat, daß das Ganze mit der Bundesliga zu vergleichen ist: Zwei steigen ab. Wenn eine renommierte Firma pleite geht, wird immer gesagt, daran seien Managementfehler schuld. Aber Tatsache ist, daß auf jedem spezifischen Markt, der Platz für vier, fünf oder sechs Firmen hat, alle Firmen permanent rationalisieren müssen, wenn sie im Geschäft bleiben wollen. Rationalisieren bedeutet Ausweitung des Produktionsvolumens, was wiederum zur Überkapazität führt. Und irgendwann ist eben nicht mehr für sechs Anbieter auf dem Markt Platz, sondern nur noch für vier oder fünf. Es gibt dann Akteure, die meistens aus Zufall das Richtige tun und überleben.

Mit den Managementfehlern ist das so eine Sache, denn ob ich jetzt gelbe oder rote Schuhe produziere und mit den gelben Erfolg habe, mit den roten aber nicht, kann man im nachhinein rational begründen. Man kann sagen, das sei einfach unternehmerische Genialität gewesen. Aber in der Regel ist es nur Zufall. Die Marktstruktur ist so beschaffen, daß eben nur für die roten oder die gelben Schuhe Platz ist. Das ist genauso wie in der Bundesliga, wo am Ende der Saison nur 16 Mannschaften übrigbleiben und es hinsichtlich dieser Mechanik gleichgültig ist, ob jemand alles richtig gemacht oder Fehler begangen hat. Selbst wenn alle Vorstände der Fußballvereine und alle Trainer das Richtige gemacht haben, steigen am Ende immer zwei ab. Das ist realer Kapitalismus. Das muß man in dieser Konsequenz auch zur Kenntnis nehmen mit allen Dingen, die sich daraus ergeben.

SB: Liegen diese zerstörerischen Konsequenzen nicht ohnehin im strategischen Kalkül der großen Gewinner dieser Monopolisierungs- oder Konzentrationstendenzen?

WS: Es gibt auf der Ebene des Monopolkapitals der großen Akteure nicht nur Gewinner, sondern eben auch Verlierer. Im Prinzip haben wir dort genau die gleichen Prozesse. Es sind in der ersten Phase der Krise, die nicht ganz richtig als Bankenkrise bezeichnet worden ist, Akteure vom Markt verschwunden. Da haben wir genau den gleichen Mechanismus. Es hat als Resultat dieser ersten Phase gerade unter den Finanzakteuren einen riesigen Konzentrationsprozeß gegeben. Und diese Konzentration stellt dann wieder die Basis für weitere krisenhafte Prozesse dar.

SB: Heutzutage wird die politische Bestimmung einer linken Bewegung meist über das Wort "anti" definiert. So wird eher vom Antikapitalismus geredet, als daß man ein positives Ziel wie Sozialismus oder Kommunismus formuliert. Glauben Sie, daß den Menschen eine positive Überwindung herrschender Widersprüche nicht mehr vorstellbar erscheint?

WS: Ja, das ist sehr schwierig, denn die antikapitalistischen oder nachkapitalistischen Gesellschaften, also die sogenannten realsozialistischen Gesellschaften sind gescheitert. Und ich glaube, daß diese historische Phase noch lange nicht überwunden ist. Es müssen natürlich, wenn man einen neuen Sozialismus auch nur programmatisch konzipieren will, viel intensiver die Ursachenanalyse über das Scheitern des alten Sozialismus geleistet und nachvollziehbare konkrete Vermittlungsschritte definiert werden. Da sind wir noch nicht einmal in den Anfängen, geschweige denn daß wir ein Diskursniveau erreicht haben, das von einer großen Zahl der Menschen nachvollzogen werden könnte.

SB: Müßte im Angesicht der sogenannten Eurokrise, die verheerende Aussichten eröffnet, nicht das Feld bereitet sein, auf dem neue Modelle Raum greifen, quasi in ein Vakuum vorstoßen? Ich denke etwa an Heinz Dieterich, der mit einer Gruppe von Wissenschaftlern ein Konzept für den Sozialismus des 21. Jahrhunderts propagiert.

WS: Gerade bei Dieterich ist zu fragen, ob das wirklich überzeugend ist. Ich denke, es geht, wenn wir eine andere Gesellschaft thematisieren, um Fragen, die an die aktuellen Probleme so unmittelbar nicht anschlußfähig sind. Eurokrise bedeutet nichts anderes, als daß zunächst einmal das Projekt gescheitert ist, den europäischen Raum als neue imperiale Macht zu etablieren. Alle Diskussionen, die jetzt geführt werden, zentrieren sich um diese Frage, die natürlich verschwiegen wird. Man wollte den Euro als Weltgeld etablieren, aber da hat es dann, salopp gesagt, irgendwelche Störungen gegeben.

Ich glaube, daß diese Probleme gar nichts mit den Problemen zu tun haben, um die wir uns kümmern müßten. Das sind einfach nur objektive Widersprüche, die es in der einen oder anderen Form immer geben wird. Selbst wenn man es jetzt mit Mühe und Not schafft, den Staatsbankrott führender westeuropäischer Länder zu verhindern, dann wären die Probleme nur aufgeschoben. So werden diese Probleme auf wahrscheinlich immer extremerer Ebene stets neu entstehen. Nein, wir müssen viel grundsätzlicher fragen. Die Basis einer Auseinandersetzung mit dem aktuellen Kapitalismus müßte lauten: Ist diese Gesellschaft überhaupt noch zukunftsfähig? Und da gibt es viele Aspekte, die sich anführen lassen, daß wir uns tatsächlich in einer Phase befinden, in der es sozial, ökonomisch, zivilisatorisch bergab geht.

Woher kommt es etwa, daß sich in den reichen Ländern des Westens Armut und Bedürftigkeit ausbreiten? Das kann man nicht damit erklären, daß einige tausend Leute sich einige Milliarden mehr in die Tasche stecken, als sie es vor 20 oder 30 Jahren gemacht haben. Diese Gesellschaft benötigt immer mehr ökonomische Ressourcen, um sich überhaupt am Leben zu erhalten. Es wird nach wie vor in einem forcierten Tempo rationalisiert. Aber die Verbesserung der Produktionsmittel führt unter den bestehenden Konkurrenzbedingungen nicht mehr zu einer Erhöhung des gesellschaftlichen Konsumfonds, sondern stimuliert Verdrängungsprozesse, stimuliert Prozesse zum Abbau von Überkapazitäten usw. Was allein in die Aufrüstung der technischen Apparatur hineinfließt, verursacht gesamtgesellschaftlich gesehen so immense Kosten, daß dies als Faktor für die Erklärung der Armutsentwicklung viel relevanter ist als die paar Milliarden, die das Finanzkapital für sich abzweigt.

Wobei die Bedeutungszunahme des Finanzsektors natürlich ein ganz neues Themenfeld darstellt. Ein Aspekt - auf alle können wir gar nicht eingehen - ist zum Beispiel, daß dieses Finanzsystem die Funktion hat, Kapital, das realwirtschaftlich nicht mehr angelegt werden kann, in seinem Kosmos zirkulieren zu lassen. Wir haben immer noch die Versorgungsfunktion für Kredite, aber ein Vielfaches des vorhandenen Kapitals zirkuliert in dieser Finanzsphäre. Da werden auch keine realen Geschäfte mehr gemacht, sondern eine Art Wetten abgeschlossen. Das sind Nullsummenspiele: Der eine gewinnt, der andere verliert. Die Hauptfunktion dieses Kreislaufes ist es, die Illusion aufrechtzuerhalten, als ob alles existierende Kapital noch sinnvoll investiert werden könnte. Der Zwang zur Anlage ist sozusagen der irreversible Trieb des Kapitalisten. Nichts bedrückt ihn mehr als Kapital, das unproduktiv auf einem Bankkonto liegt. Deshalb nimmt man bereitwillig selbst abstruse Wetten an, in der Hoffnung, daß man, genauso wie der Mann am Pokertisch, am Ende gewinnt. Gesamtgesellschaftlich werden keine Werte geschaffen, aber die Organisatoren dieses Prozesses absorbieren natürlich einen Teil dieser akkumulierten Mehrwertmasse, wie wir ökonomisch dazu sagen. Ein Aspekt ist übrigens auch, daß für die Reproduktion des Kapitalverhältnisses immer mehr ökonomische Ressourcen und Geld aufgewandt werden müssen, damit es am Leben erhalten werden kann.

SB: Es gibt eine Debatte zum Thema Wachstum, die nicht nur unter Linken oder Grünen, sondern auch von konservativen Gesellschaftstheoretikern wie Meinhard Miegel geführt wird. Wie bewerten Sie die Richtung dieser Überlegung, die ein wenig an das anknüpft, was Sie eben sagten, nämlich daß der Aufwand der Reproduktion im Grunde genommen gar nicht mehr zu leisten ist?

WS: Es ist eine interessante Frage, ob eine menschliche Gesellschaft ohne Wachstum und erweiterte Reproduktion, wie man das ökonomisch nennt, existieren kann? Eine Produktion, die gerade nur immer die vorhandenen Bedürfnisse befriedigt, wird wahrscheinlich nicht ausreichen. Und das gilt allemal für den Kapitalismus, der das Wachstum braucht. Ein Wachstum bloß virtueller Art wird nicht ausreichen. Diese immateriellen Produktionsbereiche, die wirklich keine großen Naturressourcen verschleißen, sind letztlich verschwindend gering. Selbst wenn man dort genauer hinschaut, ergibt sich ein ganz anderes Bild, als die Vertreter sogenannter immaterieller Wirtschaftsvorstellungen behaupten. Alleine was das Internet an Strom verbraucht ist ungeheuerlich. All diese Vorstellungen und Hoffnungen, daß etwa durch die Digitalisierung der Papierverbrauch überflüssig wird, haben sich nicht bewahrheitet. Der Einsatz von Computern ist immer noch mit permanent steigendem Papierverbrauch verbunden, und das gilt auch für viele andere Gebiete.

In der Regel werden diese digitalen Bereiche der materiellen Produktion zugeordnet. Wertmäßig macht heute die Computertechnik zum Beispiel beim Auto 20 oder 30 Prozent aus. Aber das Auto ist nach wie vor ein materielles Produkt. Für die Herstellung von Fahrzeugen wird Jahr für Jahr mehr Stahl, mehr Kautschuk usw. benutzt. Ich denke schon, daß das ein prägendes Gesetz für den Kapitalismus ist, daß er das Wachstum und auch den Verschleiß natürlicher Ressourcen braucht.

SB: Unter ökosozialistisch orientierten Linken wird das Konzept diskutiert, daß eine reale Schrumpfung der gesamten Produktionsbereiche bis zum Nullwachstum erfolgen müßte. Können Sie sich vorstellen, daß sich darüber eine neue Zielvorstellung aufbauen ließe?

WS: Nach allem, was wir ökonomisch wissen, nach allen historischen Erfahrungen braucht der Kapitalismus drei Prozent Wachstum, um sozusagen gesund zu sein. Er hat diese drei Prozent Wachstum in den letzten Jahrzehnten nicht mehr realisieren können und schliddert von einer Krise in die andere. Wie schon gesagt ist Kapitalismus ohne Wachstum und eben auch ohne den Verschleiß materieller Ressourcen einfach undenkbar. Ich kann mit bloßen immateriellen Geschäften keine drei Prozent Wachstum erreichen. Das ist der Dreh- und Angelpunkt.

Man kann natürlich sagen, Nullwachstum stehe für eine Übergangsforderung. Mir ist schon klar, wenn ich Nullwachstum fordere, dann fordere ich letztlich auch die Abschaffung des Kapitalismus. Aber die Leute, die diese Forderungen stellen, wollen den Kapitalismus gar nicht abschaffen, sondern sie unterstellen, daß er weiter, in welcher Weise auch immer, funktioniert. Über diese ganzen Dinge kann ich nur sinnvoll diskutieren, wenn ich immer auch einen Blick auf die realen Machtverhältnisse werfe. Man kann über Nullwachstum reden, aber dann geht es, wenn ich es ernst damit meine, letztlich um eine offensive Abschaffung des Kapitalismus.

SB: Die neuen Oppositionsbewegungen vom Schlage der Occupy-Bewegung argumentieren zwar kapitalismusimmanent, aber es ist auch nicht auszuschließen, daß diese Leute ihre Erfahrungen machen und letzten Endes feststellen, daß nicht nur die Größe eines Konzerns darüber befindet, wie arm und reich gesellschaftlich organisiert werden. Können Sie sich vorstellen, daß sich in absehbarer Zeit eine soziale Bewegung entwickelt, die wieder auf den traditionell linken Standpunkt zurückfindet, daß es um die Überwindung des Kapitalismus geht?

WS: Daß es um die Überwindung des Kapitalismus gehen muß, haben viele, die sich als links definieren, schon begriffen. Die Frage ist, wie man der historischen Entwicklung auf die Sprünge helfen kann. Kapitalismusskepsis ist weit verbreitet, auch ein Bedürfnis nach Kapitalismuskritik ist vorhanden. Die Menschen erleben diese Widersprüche Tag für Tag, können sich aber insofern auf die Widersprüche keinen Reim machen, weil sie die Zusammenhänge nicht begreifen. Das ergibt sich nicht spontan aus der bedrückenden Lebenssituation. Dazu brauche ich politische Vermittlung. Man kann diskutieren, ob dazu eine Partei nötig ist oder nicht. Ich bin ganz dezidiert der Meinung, daß das ohne Partei nicht geht. Wir müssen aber feststellen, daß diese Parteien, deren historische Aufgabe es wäre, solche Prozesse zum Selbstdenken anzuregen, ihrer Aufgabe in der jetzigen Situation nicht gerecht werden.

Deshalb habe ich natürlich Verständnis für die Parteienskepsis, die es auch in dieser Antibanken-Bewegung gibt. Es bleibt trotzdem die Frage, ob ich es Partei oder Organisation nenne, kann es wirklich die Konstitution einer politischen Bewegung ohne Strukturen geben? Die historische Erfahrung zeigt, daß das nicht möglich ist. Oft sind es untergründig auch die Wirkungen von Strukturen und Aufklärungsprozessen, die für kollektive Lernprozesse unabdingbar sind.

Wenn man wie ich schon sechs Lebensjahrzehnte hinter sich hat und seit 45 Jahren politisch denkt und agiert, dann hat man das Kommen und Gehen vieler spontaner Bewegungen gesehen. Heute habe ich keine gute Meinung mehr etwa von der Attac-Bewegung. Das war mal anders, sie war einmal ein Hoffnungsträger, aber wenn man die Diskussion innerhalb der Attac- Bewegung betrachtet, dann läßt sich diese Bruchstelle genau identifizieren, an der sie ihre eigene Bedeutungslosigkeit verschuldet hat. Man ist diesen Weg relativ spontan gegangen, bis man nach Kapitalismusskepsis und Kapitalismusanalyse an einen Punkt angelangt ist, an dem man sich in der Frage nach der Reformfähigkeit des Systems hätte entscheiden müssen. Obwohl man sich eigentlich mit seinen Denkmitteln und Theorien unausweichlich auf dem Wege zur Konsequenz befand, daß dieses System nicht reformfähig ist, ist man vor seinem eigenen Mut zurückgeschreckt und hat sozusagen wieder eine Bewegung zurückgemacht. Damit hat die Bewegung ihre Frische und Wirksamkeit verloren. Wer kann heute noch ernsthaft, wenn er die politischen Verhältnisse beobachtet, irgend etwas von Attac erwarten? Das ist vorbei. Das war vor fünf Jahren anders. Wenn man diese Differenz zu erklären versucht und die Frage stellt, ob man zu alten reformkapitalistischen Stufen zurückkehren kann oder nicht, dann denke ich, daß man diese Frage nach einer schonungslosen Analyse des Kapitalismus nur mit Nein beantworten kann.

SB: Dann wäre eine Partei wie Die Linke, die immerhin im Bundestag vertreten ist, für Sie also in keiner Weise eine relevante Adresse?

WS: So einfach würde ich mir das natürlich nicht machen. Wie in vielen Parteien der sozialistischen Tradition gibt es eine große Differenz zwischen dem Funktionärsapparat und der Mitgliederschaft. Ohne Frage ist in der Linken ein ehrlicher Antikapitalismus verbreitet, aber die Leute, die politisch das Sagen haben, denken, sich in dieser Gesellschaft einrichten zu können oder, wenn man es etwas kollegialer formuliert, gehen davon aus, daß dieser Kapitalismus reformierbar ist. Die Linkspartei hat sich jetzt ein neues Programm gegeben, das in seiner Tendenz eine ganze Menge marxistischer Einsichten transportiert. Das ist ein großer Fortschritt, weil das vorhergehende Programm der PDS viel kompromißlerischer und unentschiedener war. Dennoch habe ich den Eindruck, daß die Leute aus dem modernen Flügel der Partei, also jene, die von der Reformierbarkeit des Kapitalismus ausgehen, sagen, uns interessiert gar nicht mehr, ob die Hunde bellen, die Karawane des Apparates zieht weiter.

Ich weiß von Genossen, die als Marxisten im Bundestag waren, daß die Marxisten innerhalb der Bundestagsfraktion immer die Mehrheit bildeten, aber die Fraktionsführung trotzdem gemacht hat, was sie wollte. Das ist genau die Erfahrung, die man in allen anderen Parteien machen kann. Ich gebe mich da keinen Illusionen hin, aber wir müssen natürlich von den vorhandenen Potentialen ausgehen. Kein Linker kann eine vorhandene Organisation, die auch nur einigermaßen noch gegen den Stachel löckt, einfach aufgeben, sondern da muß man wirklich schauen, was es dort für Potentiale gibt. Gut sieht das aber nicht aus.

Fortsetzung folgt

Fußnote:

[1] http://www.assoziation-daemmerung.de/

8. Januar 2012