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INTERVIEW/085: Uli Cremer zur NATO aus friedenspolitischer Sicht (SB)


Interview mit Uli Cremer am 8. Oktober 2011 in Hamburg


Uli Cremer war bis 1999 Sprecher des Fachbereichs Außenpolitik in der Partei Bündnis 90/Die Grünen und gehörte zu den entschiedenen Gegnern der deutschen Beteiligung am Jugoslawienkrieg. Er ist in der 2007 gegründeten Grünen Friedensinitiative aktiv und hat seinem 2009 veröffentlichten Buch "Neue NATO: die ersten Kriege" den Weg dieses Staatenbündnisses "Vom Militär- zum Kriegspakt" dargestellt und analysiert. Nach seinem Vortrag bei der IPPNW-Regionalkonferenz in Hamburg [1] beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.

Uli Cremer - Foto: © 2011 by Schattenblick

Uli Cremer
Foto: © 2011 by Schattenblick

Schattenblick: Im Libyenkrieg hat die NATO erst einige Tage nach Beginn die Führung übernommen. Initiiert wurde der Krieg von Frankreich und Britannien. Wie beurteilen Sie die spätere Beauftragung der NATO mit der Führung dieses Krieges im Verhältnis zum Vorpreschen dieser Mitgliedstaaten?

Uli Cremer: Ich sehe darin keinen Widerspruch. Es ist eine Frage der Geschwindigkeit, wann man den Beschluß zur NATO gefaßt hatte. Sarkozy weist gerne darauf hin, daß 85 Prozent der militärischen Kapazitäten in der NATO von den USA, Britannien und Frankreich aufgebracht werden, was durchaus stimmt. Insofern müssen sie nicht unbedingt die NATO mit an Bord haben, um etwas tun zu können. Es geht bei der Sache eher darum, daß man sich nochmals eine politische Unterstützung organisiert. Beispielsweise hat man die Deutschen, die sich im UN-Sicherheitsrat der Stimme enthalten haben, dazu gebracht, daß sie einen NATO-Beschluß nicht blockieren, was dann dazu führte, daß in den entsprechenden NATO-Kommandostäben auch ein paar Deutsche beteiligt wurden.

SB: Kann man die NATO also als eine Art politische Klammer verstehen, die im Zweifelsfall Streitpunkte innerhalb der westlichen Gemeinschaft ausbügelt? Beispielsweise gab es Differenzen zwischen Deutschland, Frankreich und Britannien, die im nachhinein reguliert wurden.

UC: Ja, die NATO ist eine politische und eine militärische Organisation. Militärisch addiert die NATO natürlich auch noch Kapazitäten. Die Deutschen hätten den Libyenkrieg mit Flugzeugen und militärischem Gerät selbstverständlich noch effektiver machen können, aber es hat der Kriegführung sicherlich auch geholfen, daß NATO-Stäbe benutzt werden konnten. Das ist so ein bißchen eine eingespielte Sache. Da muß man nicht alles ad hoc neu aufsetzen.

SB: Zum Einsatz von Bodentruppen hat die NATO-Führung den Standpunkt vertreten, daß auf keinen Fall NATO-Einheiten am Boden eingesetzt würden, dies allerdings unter der Einschränkung, daß das, was die Einzelstaaten in dieser Hinsicht unternähmen, nicht in ihre Zuständigkeit fiele. Nach Berichten waren sowohl französische als auch britische Einheiten am Boden aktiv. Wie würden Sie diese Art von Arbeitsteilung beurteilen, bei der die NATO zwar die Führung innehat, aber Einzelstaaten Dinge machen, die eigentlich von der NATO nicht gedeckt werden und gegen das Mandat verstoßen?

UC: Das ist natürlich erstmal eine Verlogenheit, daß man sagt, man weiß davon nichts. Die wußten ganz genau, daß die Briten und Franzosen mit Bodentruppen vor Ort tätig waren. Wie groß oder klein die Kontingente auch immer waren, sie haben unter anderem Ziele markiert und im Grunde den Luftkrieg auf diese Weise effektiv gemacht. Das ist eine ganz wichtige Funktion. Insofern ist das verlogen, aber was die Kompatibilität mit dem UN-Sicherheitsratsbeschluß angeht, muß man leider sagen, daß auch der zeitweise Einsatz von Bodentruppen durch das Mandat gedeckt ist. Aus meiner Sicht ist es ein schlimmer Beschluß gewesen, der eben so weit ging. Ich finde es immer noch unverständlich, daß China und Rußland diesen Beschluß nicht verhindert haben.

SB: Sie haben auf die Rolle Deutschlands bei der Einbindung Rußlands in die NATO hingewiesen. Welchen Schluß ziehen sie daraus, daß sich Deutschland im Sicherheitsrat beim Mandat für Libyen der Stimme enthalten hat? Orientiert sich die Bundesrepublik auch deshalb in Richtung Rußland, weil sie durch die Initiative Frankreichs und Britanniens ein wenig in die Defensive gedrängt wurde?

UC: Sowohl Deutschland wie auch Rußland haben meiner Ansicht nach geglaubt, daß der Libyenkrieg scheitern würde. Niemand hat in Berlin und Moskau und genausowenig in Peking angenommen, daß sich die NATO oder die westlichen Hauptmächte Britannien, Frankreich und die USA tatsächlich in wenigen Monaten durchsetzen würden. Man hat eigentlich auf das Scheitern gewartet, was Deutschland natürlich ein paar Trumpfkarten auch in der NATO in die Hand gegeben hätte. Nun ist es aber anders gekommen.

SB: Sie sind Mitglied der Grünen. Wie stehen Sie zur Haltung ihrer Partei in dieser Sache? So hat Herr Trittin die Bundesregierung für die Stimmenthaltung im UN-Sicherheitsrat kritisiert und damit letztlich ein Votum für den Krieg eingelegt.

UC: Ich habe in den letzten Monaten ebenfalls Artikel veröffentlicht, in denen ich witzigerweise Westerwelle gegen Mitglieder meiner Partei verteidigt habe, weil ich die Entscheidung der Bundesregierung richtig finde, sich der Stimme im Sicherheitsrat enthalten zu haben. Natürlich ergibt sich so eine Situation, in der ich innerhalb der Partei zur Minderheit gehöre, aber es ist eine Minderheit, die durchaus aktionsfähig ist. Wir von der Grünen Friedensinitiative geben jedes Jahr, wenn der Afghanistan-Kriegseinsatz wieder verlängert wird, eine Anzeige in der Taz heraus und haben damit in den letzten Jahren immer mehr Zuspruch bekommen. Wir hatten dieses Jahr im Januar fast 300 Unterzeichnerinnen und Unterzeichner. Insofern gibt es bei den Grünen nach wie vor Menschen, die sich gegen Kriege engagieren. In der gleichen Situation sind auch Sozialdemokraten, die das tun. Da gibt es auch welche, die nicht damit einverstanden sind, wie ihre Vorderen im Bundestag agieren. Beim Libyenkrieg ist natürlich vieles nicht aufgefallen, weil keine Entscheidung über eine deutsche Beteiligung im Bundestag anstand. Insofern hat sich niemand dort abstimmungsmäßig positionieren müssen. Aber es ist richtig, Leute wie Trittin haben im Prinzip in der Konsequenz eine Position bezogen, daß sie sagen, man hätte bei dem Krieg mitmachen müssen.

SB: Mit NATO 3.0 meinen sie die vollständige Aufnahme Rußlands in den Nordatlantikpakt. Können Sie sich vorstellen, daß das stets von einem Wechselspiel aus Annäherung und Distanzierung geprägte Verhältnis zwischen NATO und Rußland letztlich den Versuch beinhaltet, Rußland als größte Landmasse der Erde mit immensen unerschlossenen Ressourcen auf eine Weise einzubinden, die keineswegs im Sinne der russischen Bevölkerung sein kann?

UC: In puncto Militärpakt werden die Bevölkerungen in der Regel sowieso nicht gefragt. Das machen Regierungen unter sich aus, und sie sorgen auch dafür, daß in den Parlamenten Mehrheiten für irgendwelche Kriegseinsätze zustande kommen. Man kann sich vorstellen, daß da auch gut Wetter bei der russischen Bevölkerung gemacht wird. Es steht ja nicht in den nächsten drei Monaten an, daß Rußland in die NATO aufgenommen wird. Aber man muß sich einmal das Gesamtbild anschauen. Der Westen wird in der Welt zunehmend schwächer, weil der Aufstieg solcher Mächte wie China, Indien und Brasilien immer weiter zunimmt. Insofern hat es bereits ein stärkeres Zusammenrücken zwischen EU und USA gegeben. Meine Prognose geht dahin, daß es auch ein stärkeres Zusammenrücken mit Rußland geben wird. Im gleichen Zuge ist man bestrebt, auch eine militärische Kooperation voranzutreiben, um Macht und Spielraum in der Welt aufrechtzuerhalten. Es wäre fatal für die NATO oder das westliche Militärbündnis, wenn Rußland tatsächlich in eine andere Richtung abdriften würde und mit China ein echtes Militärbündnis eingehen würde. Das sehe ich aber nicht, da die russische Führung eigentlich stark auf Europa und insbesondere auf Deutschland ausgerichtet ist. In dieser Hinsicht nimmt Deutschland eine wichtige Funktion im westlichen Bündnis ein. Es ist quasi dafür zuständig ist, Rußland hereinzuholen. So sehen sie es auch selber.

SB: Dieses Verhältnis zwischen Deutschland und Rußland wird innerhalb der NATO durchaus von Konkurrenz begleitet. So wurde das französische Projekt der Mittelmeerunion maßgeblich von der Bundesrepublik untergraben. Jetzt ergreift Frankreich eine starke Initiative und setzt den Fuß nach Nordafrika, wodurch die sozialen Bewegungen in diesen Ländern unterminiert werden. Können Sie sich vorstellen, daß es aufgrund dieser geopolitischen Spannungen innerhalb der NATO zu einem größeren Bruch kommt, oder wird die NATO immer integrativ genug sein, um ein Auseinandergehen in Blöcke zu verhindern?

UC: Die NATO kann da sicherlich viel aushalten, und daß es jetzt wieder zu einem militärischen Gegeneinander zwischen Frankreich und Deutschland kommt, das steht, glaube ich, überhaupt nicht zur Debatte. Aber es wird Auseinandersetzungen geben, die im politischen Raum um Einflußzonen auch außerhalb Europas ausgetragen werden. Da gibt es dann Konkurrenzen. Andererseits hat die Europäische Union unter der Führung Frankreichs nie irgendwelche Stellvertreterkriege in Afrika oder Amerika gegen die USA ausgefochten. So weit geht es dann eben nicht. Es gibt eine sehr starke gemeinsame Klammer, aber unterhalb dessen lassen sich Auseinandersetzungen und neue Bündniskonstellationen schon erkennen. Ich finde es sehr bemerkenswert, daß es der deutschen und russischen Politik gelungen ist, Polen verstärkt in dieses Bündnis einzugliedern. Nur dann wird es auch funktionieren. Das ist der größte Störfaktor in der Vergangenheit gewesen. Nun scheint es so, daß dieser langsam mit dem Regierungswechsel, den es vor ein paar Jahren in Polen gab, beseitigt wird.

SB: Die Entscheidung, den Libyenkrieg zu führen, wurde auf der Basis des Responsibility-to-protect-Konzeptes getroffen, das jedoch völkerrechtlich keine Gültigkeit besitzt. Wie beurteilen Sie, daß Kriege auf der Basis solcher Legitimationen geführt werden?

UC: Das hat innenpolitisch natürlich eine große Bedeutung, um Kriege zu legitimieren, aber juristisch ist es in der Tat bedeutungslos. Es hat sich nichts geändert, denn wenn der UN-Sicherheitsrat nicht irgendeine Militärintervention oder einen friedenserzwingenden Einsatz, wie es so schön nach Kapitel 7 heißt, beschließt, dann gibt es den nicht, egal, ob das nun Responsibility to protect heißt oder nicht. In diesem Sinne hat sich bis heute faktisch nichts geändert. Das ist nur ein gesellschaftlicher Diskurs, den wir in den westlichen Ländern führen und der natürlich der Tradition der humanitären Intervention folgt, die es seit dem 19. Jahrhundert gibt.

SB: Mit den Cyber-Strategien, die meines Erachtens in Lissabon relativ wichtig waren, hat sich die NATO auf ein neues Feld bewegt. Da werden Projektionen von gesellschaftlicher Erosion und Instabilität entworfen, was wiederum eine zivil-militärische Zusammenarbeit in Richtung Aufstandsbekämpfung erforderlich macht. Was ist ihrer Ansicht nach für die NATO bedeutsamer: diese Art von militärischer Repression nach innen oder die geopolitische Expansion, die wir am Beispiel Nordafrika erlebe?

UC: Wenn man jetzt über Cyberwar redet, dann geht es nicht darum, daß man Bewegungen in anderen Ländern irgendwie zu beeinflussen versucht. Es ist ja immer auch Teil westlicher Politik gewesen, daß man irgendwelche Gruppen finanziert oder ihnen Radiosender zur Verfügung stellt. Das sind alles Sachen, die Jahrzehnte alt sind. Natürlich wird auch in dieser Richtung weiter gearbeitet. Vor allem wenn sich die Medien weiter entwickeln und es die Facebooks dieser Welt gibt, wird man dies auch für so etwas nutzbar machen. Das ist, denke ich, eine Traditionslinie, die sich in die neuen Zeiten einpaßt. Bei Cyberwar geht es in erster Linie darum, daß man neue Waffengattungen erschafft und sich darauf einstellt. Die Schwierigkeit besteht immer darin, Offensiv- und Defensivwaffen auseinanderzuhalten. Wenn die NATO oder die Bundeswehr entsprechende Stäbe einsetzt, dann weiß man, wenn man das von außen beobachtet, nie, ob sie nicht Offensivstrategien gegen andere Länder ausbaldowern. Das ist sehr schwer abgrenzbar. Daß andere Länder wie zum Beispiel China ebenfalls daran arbeiten, liegt natürlich auf der Hand.

SB: Wie weit sind nach ihrem Wissen Strategien in der NATO entwickelt worden, die der zivilen Aufstandsbekämpfung dienen?

UC: Ja, sie werden natürlich auch Mechanismen haben, aber da muß man sagen, sind die Wünsche eigentlich weitergegangen als das, was in dem Lissaboner Strategiedokument von 2010 drinsteht. Es ging um eine viel stärkere Zusammenarbeit der Repressionsapparate nach innen, aber das taucht im Dokument selbst nicht mehr auf. Es gab allerdings Vorpapiere, in denen dieses Thema stärker strapaziert wurde. Es sei denn, es gibt wieder einen geheimen Anhang, den wir nicht kennen, in dem noch einiges aufgeführt ist. Das kann natürlich immer sein. Insofern wird man so etwas erst zur Kenntnis nehmen, wenn es dann zur Anwendung kommt.

SB: Müßte es nicht zu einer Überprüfung des Nordatlantikvertrags im Bundestag kommen, wenn man bedenkt, in welchem Ausmaß dessen Grundsätze heute überschritten werden?

UC: Das ist im Grunde vergossene Milch. Das wurde schon in den 90er Jahren als Thema auf die Tagesordnung gesetzt. Es gab auch entsprechende Verfassungsgerichtsurteile, aber da hat es im Grunde zwischen Regierung und Verfassungsgericht Arbeitsteilung statt Gewaltenteilung gegeben. Insofern ist die Sache durch. Bei welcher Instanz soll man das jetzt einklagen? Auf dieser Ebene kommt man nicht weiter. Insofern muß man eben sehen, daß man die Sachen nicht rechtlich, sondern politisch verhindert.

SB: Wie ist Ihre Einschätzung zur Zukunft deutscher Beteiligung an Kriegen der NATO auch im Verhältnis zur Bundeswehrreform und zur Ausrichtung auf die sogenannte Einsatzarmee? In welchem Ausmaß kann die Bundesrepublik innerhalb des Bündnisses Einfluß auf Entscheidungsprozesse in militärischen Fragen nehmen?

UC: Die Kriege oder Militärinterventionen werden in der heutigen Zeit immer im Team gestaltet. Kein einzelnes europäisches Land ist in der Lage, allein eine Militärintervention durchzuführen, auch Deutschland nicht. Da wird auch nicht danach gestrebt, sondern man baut die Kapazitäten so aus, daß man sie paßfähig für das Bündnis hat und mit Bündnispartnern dann tätig werden kann. Man versucht durch Beiträge, die man in der NATO leistet, Einfluß zu gewinnen. Das ist eine alte Strategie, die man auch in den sechziger Jahren schon angewandt hat. Daran hat sich eigentlich nichts geändert. Deutschland braucht dieses Bündnis dem eigenen Verständnis nach, um seinen Einfluß in der Welt zu mehren.

SB: Herr Cremer, vielen Dank für diese Ergänzungen zu ihrem Vortrag.

Fußnote:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0074.html

Im Gespräch - Foto: © 2011 by Schattenblick

Uli Cremer mit SB-Redakteur
Foto: © 2011 by Schattenblick

19. Oktober 2011