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INTERVIEW/051: Antirep2010 - Moshe Zuckermann, israelischer Soziologe und Autor (SB)


Interview mit Dr. Moshe Zuckermann am 9. Oktober 2010 in Hamburg


Moshe Zuckermann ist Soziologe und Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv. Dem deutschen Publikum ist er vor allem als Autor kritischer Abhandlungen zur Politik seiner Heimat Israel, zuletzt 2009 "Sechzig Jahre Israel. Die Genesis einer politischen Krise des Zionismus", und zu deutsch-israelischen Befindlichkeiten, aktuell "'Antisemit!' Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument", bekannt. Am Rande des Internationalen Antirepressionskongresses 2010 an der Universität Hamburg beantwortete Moshe Zuckermann dem Schattenblick einige Fragen.

Moshe Zuckermann - © 2010 by Schattenblick

Moshe Zuckermann
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Schattenblick: Herr Zuckerman, Ihr Buch "'Antisemit!' - Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument" erscheint zu einer Zeit, in der die neue Rechte in Europa im Aufwind ist. Ist es für Sie eine Überraschung, daß Geert Wilders ein ausgesprochener Fürsprecher der israelischen Regierung ist?

Moshe Zuckermann: Nein, das ist für mich ganz gewiß keine Überraschung. Er ist ja nicht nur ein Fürsprecher der israelischen Regierung, sondern dessen, was die israelische Regierung mehr oder weniger symbolisiert, nämlich den Kampf gegen den Islam, also gegen den Terror und so weiter. Bei Leuten wie Wilders, die auf einem autochthonen Purismus ihrer eigenen Länder insistieren, wird Israel dann, wie es schon zu Bushs Zeiten in einem geopolitischen Sinne gewesen ist, zum Codewort für den Kampf gegen den Islam, was nichts anderes bedeutet als Kampf gegen die Palästinenser. Das war so gesehen überhaupt keine Überraschung.

Es ist auch keine Überraschung, daß Wilders hochkommen konnte. Ganz abgesehen davon, was der Islamismus im Hinblick auf die Frage der zugezogenen dritten, vierten, teilweise auch zweiten Welt in die erste und die Vermischung durch sogenannte Einwanderungsgesellschaften bedeutet, ganz unabhängig davon, wie diese Rassismen zustandegekommen sind und wie sich Fremdenfeindschaft heute in dem manifestiert, was man Antiislamismus nennt, glaube ich, daß es damit zu tun hat, daß der Antisemitismus mehr oder weniger tabuisiert wird. Es ist nicht mehr opportun, es ist auch nicht mehr en vogue, Antisemit zu sein, selbst Neonazis wehren sich dagegen, heute noch als Antisemiten betrachtet zu werden. Ich folge da durchaus der Einschätzung des ehemaligen Leiters des Instituts für Antisemitismusforschung, Wolfgang Benz, der da sagte: In vielerlei Hinsicht hat heute die Islamophobie den ehemaligen Antisemitismus, oder den vielleicht noch immer existierenden, aber immer subkutaner gewordenen, den tabuisierten Antisemitismus, ersetzt.

Es ist das gleiche Ressentiment. Diejenigen, die gerne mit dem Antisemitismus fortfahren würden, haben nun eine neue Projektionsfläche. Dadurch, daß das vom Kapitalismus geschüttelte Dasein in seiner Konstellation der kapitalistischen Gesellschaft im Westen überhaupt und in Europa insbesondere in die Krise geraten ist, sind die sozialen Probleme immer neuralgischer geworden. Das ist bekanntlich immer der Zeitpunkt, an dem man die Ressentiments, politisch intendiert, hochkochen läßt und kanalisiert. Dafür braucht man nur das geeignete Objekt. Historisch waren das die Juden, so viele gibt es heute in Europa nicht mehr, dafür gibt es immer mehr Anhänger des Islam, die natürlich als Islamisten apostrophiert werden, und von daher ist das eine sehr befriedigende Ersatzhandlung.

Moshe Zuckermann - © 2010 by Schattenblick

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SB: Der Islam ist im wesentlichen in Ländern mit eher niedrigen Sozialstandards, die ökonomisch wie globalstrategisch unterlegen sind, beheimatet, während Israel und die USA die Seite der Stärke repräsentieren. Erkennen Sie eigentlich einen grundlegenderen Sozialkonflikt in dieser Reorientierung an der Islamophobie?

MZ: Es geht nicht um das große geopolitische Problem, das Sie gerade angesprochen haben. Ich habe mich auf die Frage bezogen, warum die Islamophobie, die in den letzten Jahren immer mehr um sich greift - Sarrazin ist nur ein Codewort für etwas, das bei weitem übersteigt, was er in seinem Buch anführt -, gerade in den Mischgesellschaften Europas aufkommt. Das hat nicht unbedingt nur etwas mit Geopolitik zu tun, sondern auch mit der sozialen Krisensituation nicht zuletzt der Europäer, die in einem Selbstbild befangen sind, das schon seit vielen Jahrzehnten hanebüchen ist. Die Tatsache, daß die deutsche Gesellschaft eine längst durchmischte Einwanderungsgesellschaft ist, ist keine Entdeckung der letzten zwei Jahre.

Ich kann mich noch gut entsinnen, wie die ersten Italiener, Spanier, späterhin Griechen, Jugoslawen in den sechziger Jahren, von Staats wegen initiiert und als billige Arbeitskraft hier integriert, nach Deutschland kamen und blieben. Daß ein Mann wie Sarrazin dafür ideologisch oder strukturell biologische Kategorien heranziehen kann, ist nur deshalb möglich, weil der Antisemitismus inzwischen dermaßen tabuisiert ist. Juden gegenüber würde man das nie wagen, und das jüdische Gen hat er ja nur in einem positive Sinne angesprochen. Er konnte sich übrigens gewiß sein, daß in Israel derartige Untersuchungen stattfinden. Die Tatsache, daß das thematisiert werden konnte, hängt mit der inneren Krisensituation als auch mit der Selbstdarstellung Deutschlands als einer Gesellschaft, in der noch irgend etwas aufs Spiel zu setzen wäre, zusammen. Aufs Spiel zu setzen ist die Realität, es ist keine Frage der kulturellen Definition.

Um auf Ihre Frage zurückzukommen. Es ist in der Tat so, daß das, was wir im kleinen für die inneren gesellschaftlichen Zustände beispielsweise Hollands oder Deutschlands, Frankreichs und auch Englands sehen, in Weltmaßstab gesetzt werden kann. Der Krieg gegen den Terror, wie er von Bush angezettelt worden ist und für den es schon vor ihm Pläne gab, bedurfte genau dessen, was sehr bald auch absorbiert und anerkannt werden konnte, nämlich daß man den Feind bei den Taliban oder dieser oder jener Terrorgruppe islamischer Provenienz verorten konnte, was auch die Möglichkeit bot, geopolitisch sozusagen eine neue Weltordnung herzustellen.

So dienten Konstellationen wie Bush/Sharon, auch noch Bush/Olmert, dazu, etwas voranzutreiben und zu perpetuieren, das seine Ursprünge in einem ideologischen Ressentiment gegenüber dem Islam hat, aber seine Ur-Ursprünge darin hat, daß die Amerikaner nach dem Wegfall des Kommunismus etwas ganz anderes herstellen mußten, nämlich eine neue Kontrolle über die Golfregion und am Hindukusch. Es ist kein Zufall, daß man, noch bevor man überhaupt wußte, wer diese Terroranschläge am 11. September 2001 verübt hatte, Afghanistan ins Auge faßte. Dafür mußte eine Konstellation in der amerikanischen Politik entstehen, wie man sie am Beispiel Cheney und Bush erlebte. Diese Entwicklung resultiert in einem immer stärkeren Rechtsruck der Republikaner, die jetzt zur Tea Party gehen, während sie früher zu den Kreationisten und noch früher den Evangelikalen gingen. Diese Konstellation hat das ideologische Hinterland für das geschaffen, was sozioökonomisch ohnehin angesagt war.

Moshe Zuckermann mit SB-Redakteur - © 2010 by Schattenblick

Moshe Zuckermann mit SB-Redakteur
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SB: Sie erwähnten, daß sich das Verhältnis zwischen Israel und den USA verändert hat. Wie beurteilen Sie das Verhältnis zwischen Netanjahu und Obama?

MZ: Zwischen Netanjahu und Obama herrscht ganz offenbar nicht dieses vermeintliche Liebesverhältnis, das es zwischen George W. Bush und Sharon und späterhin Olmert gegeben hat. Es steht außer Frage, daß Obama etwas anderes wollte. Er strebt keine prinzipiell andere Politik im Nahen Osten an, aber er wollte die sogenannte Friedensregelung als Ertrag seiner neuen Politik vorweisen können.

Gerade weil er sich im Moment gewiß sein kann, daß die Dominanz der USA im Nahen und Mittleren Osten von niemandem herausgefordert wird, kann er sich leisten, was man sich zur Zeit des Kalten Krieges nicht hätte leisten können, als das Engagement in der Region davon abhing, daß der Krieg perpetuiert und der Konfliktzustand fortgesetzt wird. Er kann sich auch als Friedensbringer darstellen, weil sich die sogenannten moderaten arabischen Staaten mittlerweile durch die Heraufkunft des Iran - Hisbollah im Norden Israels, Hamas im Gazastreifen - bedroht sehen. Die USA können sich der Ängste Ägyptens, Saudi-Arabiens und Jordaniens bedienen, um geopolitische Interessen zu verfolgen, die dann als sogenannte Friedenslösung artikuliert werden. Ich sehe absolut keine Möglichkeit, daß es unter der vorhandenen Konstellation einer rechtsradikalen Regierung Israels unter Netanjahu und dem halbinvaliden Abu Mazen zu einer ernstzunehmenden Friedensregelung kommen könnte. Weder kann Netanjahu das gegenüber der israelischen noch kann es der palästinensische Präsident gegenüber seiner eigenen Bevölkerung durchsetzen. Aber es nimmt sich schön aus, wenn man in Washington versucht, die Leute zusammenzubringen.

SB: Würden Sie sagen, daß eine Art der systematischen Spaltung palästinensischer Interessen durch das Auseinanderdividieren der beiden palästinensischen Territorien stattfindet?

MZ: Das war eine fast offizielle Politik Israels. Israel hat bekanntermaßen schon in den siebziger Jahren versucht, die damals noch nicht als Hamas oder Islamischer Jihad auftretenden religiösen Gruppen gegen die bedrohliche, säkulare PLO, die einen säkular-demokratischen, binationalen Staat anstrebte und der offizielle Feind war, zu stärken. Wie in dem berühmten Gedicht Goethes "Der Zauberlehrling" weiß man nie, wie man die Geister, die man rief, wieder los wird. Übrigens sind die Israelis nicht die einzigen, die in dieser Hinsicht rufen. Das haben die Amerikaner auch in Afghanistan und im Irak, ohne dort direkt mit dem religiösen Moment konfrontiert zu sein, getan. Als sie die Mujahedin seinerzeit gegen die Sowjetrussen unterstützten, wußten sie nicht, daß sie eines Tages Krieg gegen die Nachfolger der Mujahedin in Form der Taliban führen müßten. Als sie Saddam Hussein seinerzeit gegen die Mullahs im Iran unterstützten, wußten sie nicht, daß sie ihn eines Tages selbst zum Kriegsgegner haben würden.

Da ist Sharon in seiner Politik ganz klar gewesen. Er sagte es auch: Ich gebe den Gazastreifen weg, denn erstens war der Gazastreifen nie ein Teil der Großisrael-Ideologie, zweitens war er sowieso nie ein Teil der nationalreligiösen Ambitionen in Israel und drittens, was am allerwichtigsten ist, habe ich, indem ich anderthalb Millionen Palästinenser losgeworden bin, das demographische Problem Israels mit den Palästinensern reduziert, um, so sagte er, 40, 50 Jahre lang keine Ansprüche mehr in der Westbank zu hören. Natürlich war vollkommen klar, daß in dem Moment, als er den Gazastreifen zurückgegeben hatte, ihn aber zugleich hermetisch abriegelte, etwas heranbrodelte, das genau das gezeitigt hat, was es gezeitigt hat, nämlich den Sieg der Hamas. Israel konnte nichts Besseres passieren als der Sieg der Hamas im Gazastreifen, auch wenn man sich nicht genau ausrechnen konnte, daß es so käme, weil es im nachhinein objektiv im Interesse Israels stand.

Moshe Zuckermann - © 2010 by Schattenblick

Moshe Zuckermann
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SB: Wie beurteilen Sie das Aufkommen einer stark demographisch und biologistisch gefärbten Debatte um Bevölkerungspolitik hier in der Bundesrepublik, die mit Sarrazin und Sloterdijk fast hegemonial geworden ist, hinsichtlich der Verantwortung der Wissenschaften wie auch einer Wissenschaftstheorie, die ausschließlich auf empirischen Methoden basiert?

MZ: Der Zusammenhang ist klar: Wenn wir in der Antwort auf Ihre erste Frage richtig analysiert haben, wie sich das Problem ausnimmt, dann ist nicht schwer zu verstehen, wie die Wissenschaften dafür vereinnahmt worden sind. Übrigens waren die Sozialwissenschaften und auch die sozialwissenschaftliche Ideologie der Naturwissenschaften, um das einmal so darzustellen, immer sehr schnell vereinnahmbar, wenn nationale oder auch überregionale oder internationale Interessen im Spiel waren. Das konnten Sie anhand der Soziobiologie und des Kapitalismus in den siebziger Jahren in den Vereinigten Staaten beobachten, als man Argumente dafür suchte, warum die Stärkeren in der Tat auch die Stärkeren sein sollten. Und das erleben Sie natürlich jetzt ganz besonders eklatant, da der weiße Mann Deutschlands, wenn ich das einmal so sagen darf, mit einem Mal, selbst erschaffen, konfrontiert ist mit etwas, das er sich so nicht gewünscht hat.

Dafür ist dieses biologistische Argument natürlich immer gut, weil es vermeintlicherweise etwas Dezidiertes, etwas Apodiktisches hat. Wer die wirklichen Naturwissenschaften kennt, der weiß, wie wenig apodikitsch sie sind, wie sehr sie mit sich im Zweifel liegen, daß es zur Biologie auch eine Bioethik gibt und daß dort ein Diskurs geführt wird, der ganz und gar nicht apodiktisch ist. Aber in dem Moment, in dem man wegkommen wollte vom Werterelativismus der Sozialwissenschaften, der sich nicht zuletzt durch die postmoderne Gesellschaft herausgebildet hat und bei dem man sich darin gefiel, nichts Definitives sagen zu wollen, bei dem das kritische Denken und die Möglichkeit, überhaupt einen Gegenentwurf zum Bestehenden anbieten zu wollen, aufgegeben wurde, in dem Moment bricht natürlich die Hochzeit der faktuell ausgerichteten, empirischen Wissenschaften an. Und ganz bestimmt ist das auch der Zeitpunkt, an dem man den Biologismus heranzieht, der ja nicht hinterfragbar ist.

Natürlich ist auch der Biologismus aus der Logik der Biologie selbst hinterfragbar. Die Tatsache jedoch, daß man dieses biologische Moment heute wieder mit einer solchen Leichtigkeit einbringt und das, was man sich über viele Jahrzehnte erhalten hat, nämlich den kulturellen Zustand und die Machbarkeit gesellschaftlicher Zustände usw. wieder ad acta legt, hängt ja damit zusammen, daß es nicht nur um Sloterdijk und Sarrazin geht. Diese Personen würden nicht eine derartige Prominenz erreichen, wenn sie nicht zugleich einen Resonanzboden darstellten für das, was gesellschaftlich ohnehin schon vibriert. Und nichts lieber hört ja derjenige, der sich sozial bedroht fühlt, als daß die Türken oder der Islam oder die dritte Welt unterentwickelt seien. Das hatten wir schon in den sechziger und siebziger Jahren, als nachgewiesen wurde, daß Schwarze einen niedrigeren Intelligenzquotienten haben, und diese Auffassung wieder unterwandert werden mußte durch die Kulturwissenschaften. Dies wird in dieser neuen Krisensituation wieder virulent. Mit der Biologie wie mit dem lieben Gott streitet man nicht. So haben wir es eben mit dem zu tun, was im säkularisierten Europa immer schon der Ersatz für Gott gewesen ist, nämlich Natur.

Moshe Zuckermann - © 2010 by Schattenblick

Moshe Zuckermann
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SB: Wie sehen Sie als Soziologe, der in der Tradition der Frankfurter Schule steht, den Einfluß poststrukturalistischer Theorien auf den von ihnen attestierten Verlust an Kritikfähigkeit in den Sozialwissenschaften?

MZ: Der Poststrukturalismus hat eigentlich gut angefangen. Ein Mann wie Foucault verfügte noch über einiges an kritischem Potential. Ich glaube, daß der Poststrukturalismus, besonders in der amerikanischen Rezeption, die dies vollkommen vergaß, in eine Beliebigkeit übergegangen ist, in einen Werterelativismus, in die Behauptung, daß wir keinen Wahrheitsbegriff und nicht einmal einen Realitätsbegriff mehr haben können, daß die Geschichte ein Kampf der Narrative sei. Nun haben die Poststrukturalisten fast 30 Jahre lang an Boden gewonnen und der kritischen Tradition, wie ich sie verstehe, mit ihrem sehr dezidierten Sein-sollenden Begriff, wie er bei Adorno und Marcuse noch festzumachen ist - bei Habermas weniger - viel Boden genommen.

Allerdings ist der Poststrukturalismus im Abklingen begriffen. Man hat gemerkt, daß die Krise in der Realität doch manifester ist als das, was man über das Ideologische einzutrichtern versucht. Was jetzt statt dessen kommt, ist allerdings das, was Sie gesagt haben. Weil die Krise so ist, wie sie ist, und die Ideologie weiterhin Ideologie, hält das Empirische wieder Einzug, um die staatliche, die gesamtgesellschaftliche Ideologie zu füttern. Dabei spielt, wie gesagt, der Biologismus eine, für meine Begriffe, zentrale Rolle. Das war schon zu Herbert Spencers Zeiten, als der Kapitalismus zum Hochkapitalismus avancierte und man das zu legitimieren hatte, so. Hundert Jahre vor Thatcher vertrat Herbert Spencer, daß das Überleben der Fittesten auch sozial nachzuweisen sei. Der Sozialdarwinismus, der sich soziologiegeschichtlich entwickelt hatte, ist also schon in der viktorianischen Zeit Mitte des 19. Jahrhunderts bei einem Herbert Spencer anzutreffen.

Moshe Zuckermann mit SB-Redakteur - © 2010 by Schattenblick

Moshe Zuckermann mit SB-Redakteur
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SB: In Deutschland scheiterte vor kurzem das Vorhaben des Georg-Büchner-Bündnisses, in Frankfurt als Protest gegen die Rolle der Banken in der Weltwirtschaftskrise eine Bankenblockade durchzuführen, unter anderem daran, daß sich Gruppen der Linken unter dem Vorwurf der verkürzten Kapitalismuskritik, die wieder auf eine Form des Antisemitismus hinausläuft, von dieser Aktion distanzierten. Hätten Sie dazu noch etwas zu sagen?

MZ: Das ist im Grunde genommen hanebüchener Quatsch. Diese Leute, die sich mittlerweile längst von der Linken verabschiedet haben, die sich darin suhlen, alles, was ihnen nicht in den Kram paßt, irgendwie antisemitisch apostrophieren zu wollen, diese Leute wären im Grunde genommen heute die besten Kronzeugen für die Kapitalismusapologie. Es geht ja, wie gesagt, nicht um die Banken, es geht um viel mehr. Aber das haben diese Leute ja gar nicht im Sinn, die haben mit Marx sowieso nichts im Sinn. Das sind Leute, die gerade in Deutschland aus einer Ecke kamen, die sagte: Nie wieder Deutschland! Das war für uns Alt-68er noch ein durchaus vertretbarer Spruch. 'Deutschland, halt' die Klappe!' hieß früher: Ihr seid zu schnell wieder zur Normalität übergegangen. Diese Leute haben das aufgeschnappt und knüpften mit der Antifa-Bewegung an den Antifaschismus an, der sich ursprünglich unter Kommunisten, Sozialdemokraten usw. nachweisen läßt.

Eines Tages verdinglichte sich das. Wann genau, kann ich nicht einmal sagen, aber es verdinglichte sich auf eine Art und Weise, daß mit einem Mal der Fetischcharakter des Antifaschismus umschlug in eine vermeintliche Solidarität mit Juden. Die hat übrigens mit Juden gar nichts zu tun, gefiel sich aber darin zu schlußfolgern: wir sind gegen Deutschland, also sind wir für Juden. Sind wir für Juden, sind wir für Israel. Sind wir für Israel, sind wir gegen die Palästinenser. Sind wir gegen die Palästinenser, sind wir gegen den Islam. Sind wir gegen den Islam, sind wir für die Amerikaner. Sind wir für die Amerikaner, sind wir für den Kapitalismus.

Dieser Kreis ist im Sinne der klassischen Ideologiekritik dermaßen trivial und banal, daß man nicht darüber reden braucht. Dieser Quatsch hat sich mittlerweile so verfestigt, daß es in der Tat heute ganze Horden von Leuten gibt, die meinen, in jeder Form der Kapitalismuskritik auch einen Antisemitismus wahrnehmen zu wollen. Damit bedienen sie selbst ein antisemitisches Klischee. Warum behaupten sie, daß die Kapitalismuskritik antisemitisch sei? Weil der klassische Antisemitismus sagt, die Kapitalisten sind ja die Juden. Das sagt auch, in seiner eigenen Art, Marx. Das sagt sogar noch Horkheimer in seinem Aufsatz von 1939 "Die Juden in Europa". Das sagt, in einer anderen Art und Weise aus einer ganz anderen Ecke kommend, Richard Wagner Mitte des 19. Jahrhunderts. Das wird sogar noch in "Die Stadt, der Müll und der Tod" Bubis gegenüber dargestellt, als sei er damals der einzige Spekulant in Deutschland gewesen - das Spekulantentum als Adaption des Antisemitischen.

Dieses Klischee nehmen diese Leute auf, indem sie behaupten: Wenn diese Leute den Kapitalismus kritisieren, kritisieren sie ihn gar nicht, sondern das, was seit jeher klischierterweise als Träger des Kapitalismus dargestellt wird. Mittlerweile jedoch ist es nicht mehr klischiert, sondern sie nehmen darin in der Tat einen Antisemitismus wahr. Das heißt, es handelt sich nicht mehr um ein Klischee, sondern Juden sind Träger des Kapitalismus, von dem diese Leute unter anderem meinen, er müsse sowieso erst einmal ausgestanden werden, bevor wir gegen ihn vorgehen können. Von daher halten sie es für regressiv, wenn man den Kapitalismus kritisiert. Auch Marx wäre heute der Ansicht, daß im Moment kein revolutionärer Zustand herrscht, weil der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen nicht so eklatant ist, daß er ihm zufolge in eine Revolution umschlagen müsse.

Aber damit haben diese Leute gar nichts am Hut. Sie versuchen eine Identität, eine Befindlichkeit zu bedienen, die sich, wie gesagt, auf eine Ideologie stützen kann, die ursprünglich etwas ganz anderes meinte, als nachher adaptiert wurde. Heute schlägt das in den Vorwurf um: Ihr macht doch im Grunde genommen hier etwas Antisemitisches. Ihr seid ja geschlagen mit einem antisemitischem Ressentiment.

Dieser Philosemitismus steht dem Antisemitismus, vom Ressentiment her gesehen, in nichts nach. Er überträgt sich dann darauf, daß jede Kritik an Israel, dem Kapitalismus, den USA als antisemitisch gebrandmarkt wird. Was dabei zugrunde geht, ist der Kampf gegen den richtigen und den wahren Antisemitismus. Der geht dabei zugrunde. Diese Leute tragen dazu bei, daß der Antisemitismus mittlerweile zu einer leeren Worthülse geworden ist, daß er als Parole und als Ideologie gebraucht wird. Sie haben dazu mehr beigetragen als die Antisemiten und die Neonazis selbst. Diese Leute haben sich etwas verschrieben, das ich als die vielleicht regressivste Ideologie, die die deutsche politische Kultur in den letzten zwanzig Jahren umtreibt, bezeichnen möchte.

SB: Wie paßt der gegen Kapitalismuskritiker gerichtete Vorwurf des Antisemitismus mit dem offenkundigen Konsumismus seiner Urheber zusammen?

MZ: Diese Leute leisten eigentlich keine Kapitalismuskritik. Sie kommen aus der Konsumgesellschaft und sind mit einer Strukturanalyse und mit menschlicher Leiderfahrung gar nicht befaßt. Ihre Identitätspolitik mündet in die Frage, wie man sich heute noch setzen kann. Wie sie sich heute am allerbesten setzen können, sehen sie, wenn die deutsche Bundeskanzlerin Israels Sicherheit zur deutschen Staatsräson erhebt und die Medien auf dieser Schiene abfahren. Sie sind im Establishment angekommen, dürfen sich dabei noch großartig als etwas außerhalb des Establishments fühlen, aber gerade deshalb korrespondieren sie die ganze Zeit mit ihm.

Diese Konsumhaltung ist, für meine Begriffe, eine Selbstsetzung, die nichts anderes besagt, als daß sie nichts gegen den Kapitalismus, nichts gegen den überschwappenden Konsum haben. Ob es eine dritte oder eine vierte Welt gibt, ist völlig egal. Das interessiert uns gar nicht. Einige behaupten sogar mit einem Pseudomarxismus: Der Kapitalismus muß so auf die Spitze getrieben werden, daß er sich selbst ad absurdum führt, erst dann kann man anfangen, über Sozialismus zu reden.

Das ist für eine Generation, die die nächsten 20, 30 Jahre konsumieren wird, genau die richtige Ideologie, das ist das Ideologem, das sie brauchen. Wir wollen jetzt viel Kapitalismus haben, denn dabei geht er zugrunde, aber während er zugrunde geht, konsumieren wir heftig weiter und gewahren in jedem, der darauf schimpft, den Antisemitismus. Das schlimme daran ist, wenn ich das noch einmal zusammenfassend sagen darf, daß es sich ja um keine hohlköpfigen Skinheads handelt. Das sind Leute, die ihren Adorno gelesen haben, das sind Leute, die ihren Marx gelesen haben. Aber ich habe als Geistes- und Ideengeschichtler kaum je erlebt, daß ein sich so emanzipativ ausrichtender Gedankenkörper in einer dermaßen perfiden Art und Weise vereinnahmt und ideologisiert wurde, als daß man Adorno, ja sogar den neuen kategorischen Imperativ, heranzieht, um einen Krieg zu rechtfertigen, um die Repression gegen die Palästinenser zu rechtfertigen. Da muß man in der Tat irgendwie geschniegelt sein, um das Konsumverhalten zu verstehen.

Moshe Zuckermann - © 2010 by Schattenblick

Moshe Zuckermann
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SB: Eine letzte Frage persönlicher Art. Sie sind in diesem Jahr als Soziologe wissenschaftlicher Leiter der Privatstiftung Sigmund Freud geworden. Wie kam es dazu, daß man einen Wissenschaftler aus einem anderen Fachgebiet dazu ernennt?

MZ: Man hat wohl durchaus im Blick gehabt, daß ich mich viel mit Psychoanalyse beschäftigt habe, daß ich von der Frankfurter Schule komme und von daher sehr stark mit Freud befaßt war. Mein Doktorat basiert im Grunde genommen auf der Theorie des autoritären Charakters und unter anderem auf der Frage der Verinnerlichung von Herrschaft in der geschichtlichen Konstellation usw. Man kannte meine Arbeiten, und die Leiterin der Privatstiftung, Frau Scholz-Strasser, legt großen Wert auf das Interdisziplinäre. Von daher war es in der Tat so, daß man es sich leisten konnte, jemanden wie mich zu nehmen. Wir haben jetzt im Oktober eine, wie ich hoffe, sehr schöne Konferenz zum Thema "Geld und Seele", also über Geld und die Formen der Warenherstellung und des Tauschwertes und der Psychoanalyse. Das ist nicht unbedingt ein Thema, das ein klassischer Psychoanalytiker aufgreifen würde, aber Frau Scholz-Strasser tut dies. Von daher, so glaube ich, kommen wir gut miteinander aus.

SB: Dann können sie ja an den Freudomarxismus anknüpfen.

MZ: Das ist mein Hintergrund. Ich komme vom Freudomarxismus der Frankfurter Schule und sogar noch außerhalb der Frankfurter Schule und habe vor, genau das zu tun.

SB: Herr Zuckermann, vielen Dank für dieses lange Gespräch.

Treppenaufgang mit Banner des Antirepessionskongresses - © 2010 by Schattenblick

Internationale Solidarität ... niemals zu hoch gehängt
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Bisher erschienen:
BERICHT/039: Antirep2010 - Der "War On Terror" und moderner Faschismus (SB)
BERICHT/040: Antirep2010 - Heinz-Jürgen Schneider zum Terrorverdikt im politischen Strafrecht (SB)

15. Oktober 2010