Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REPORT

INTERVIEW/038: Yahav Zohar (ICAHD) - Konfliktlösung aus Sicht eines israelischen Friedensaktivisten (SB)



Interview mit Yahav Zohar am 26. Februar 2010 in Berlin-Mitte


Yahav Zohar vom Israelischen Komitee gegen Häuserzerstörungen (ICAHD) befand sich im Januar und Februar auf einer Vortragsreise in Deutschland, die ihn in 20 Städte und auf 40 Veranstaltungen führte. In diesem Rahmen kam er am 26. Februar nach Berlin, um mit anderen Friedensaktivisten anstelle des ursprünglich vorgesehenen US-Politologen Dr. Norman Finkelstein Rede und Antwort zu Lösungsmöglichkeiten im Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern zu stehen. Die auf politischen Druck hin erwirkte Absage Finkelsteins war ein Anlaß unter mehreren, den diesen Konflikt betreffenden neuen deutschen McCarthyismus zu thematisieren. Darüberhinaus widmet er sich besonders der von ICAHD unterstützten weltweiten Kampagne, Israel mit Hilfe wirksamer Maßnahmen des Boykotts, des Kapitalentzugs und der Sanktionen zur Aufgabe des gegen die Palästinenser gerichteten Siedlerkolonialismus und zur Anerkennung der ihnen vorenthaltenen Rechte zu zwingen. Der Schattenblick hatte Gelegenheit, Yahav Zohar vor der abendlichen Veranstaltung einige Fragen zu stellen.

Yahav Zohar
© 2010 by Schattenblick
Schattenblick: Könnten Sie uns eingangs die Ziele Ihrer Organisation und den Zweck Ihrer Arbeit erläutern?  

Yahav Zohar: ICAHD, das Israeli Committee Against House Demolitions, ist sowohl eine Menschenrechtsorganisation als auch eine politische Organisation. Wir sind der Meinung, daß wir zur Verbesserung der Menschenrechtslage in unserem Land auch politische Veränderungen benötigen. Wir treten für eine nachhaltige Friedenslösung ein. Das heißt eine politische Lösung, die allen Menschen in Israel/Palästina grundlegende Menschen- und Bürgerrechte wie Zugang zu sauberem Wasser, medizinischer Versorgung, Ausbildung, Bewegungsfreiheit, einen Ausweis, mit dem man international reisen kann, und eine Regierung, die einen vertritt, gewährt. Zwar befassen wir uns in der täglichen Arbeit mit dem Thema des Abrisses palästinensischer Häuser, doch vom politischen Anspruch her geht es uns auch darum, den Konflikt insgesamt neu zu definieren.

Die israelische Regierung will das Thema der Besatzung stets als eines der Sicherheit verstanden wissen. Diese Sichtweise wollen wir nicht gelten lassen. Und deshalb sagen wir, nun gut, die Trennungsmauer könnte man vielleicht noch als Sicherheitsmaßnahme akzeptieren, doch dies erklärt nicht ihren Zick-Zack-Verlauf; vielleicht könnte man die Kontrollpunkte als Beitrag zur Sicherheit ansehen, dennoch müßte man erklären, warum sie sich zwischen den verschiedenen palästinensischen Städten befinden und nicht zwischen den besetzten Gebieten und Israel. Zweifelsohne sind aber die Häuserabrisse - 25.000 palästinensische Wohnungen sind seit 1967 dem Erdboden gleichgemacht worden - kaum mit einer Verbesserung der Sicherheitslage zu erklären.

Insgesamt muß man das ganze als Streit um Menschenrechte und um politische Rechte auffassen. Im Grunde genommen geht es hier um eine Militärdiktatur, die über Menschen herrscht, die man als Feinde oder als Problem betrachtet. So sieht die Lage aus, die man ändern muß.  

SB: Kommen Sie im Rahmen Ihrer politischen Arbeit mit Vertretern der Parteien in der Knesset zusammen oder sind Sie ausschließlich im Bereich der Nichtregierungsorganisationen tätig?  

YZ: Wir haben sehr wenig Kontakt mit den großen politischen Parteien Israels, doch das ist deren Entscheidung. Alle Parteien, die jemals an einer israelischen Regierungskoalition beteiligt gewesen sind oder die jemals über echte politische Macht verfügt haben, unterstützen auf die eine oder andere Weise die Besatzung. ICAHD wendet sich deshalb mit seinen Bemühungen an die Regierungen der USA und der EU. Unsere Botschaft an sie lautet, daß man sich, wenn man eine Zweistaatenlösung vermitteln will, als erstes darauf festlegen muß, was das Wort Staat überhaupt bedeutet. Die israelischen Vorschläge und Pläne, die einen palästinensischen Staat vorsehen, dessen Grenzen, Luftraum und Wasserressourcen weiterhin von Israel kontrolliert werden, die zudem den Zugang zu seiner Hauptstadt und die Bewegungsfreiheit seiner Bürger einschränkt, stellen kein ernstzunehmendes Angebot für eine Zweistaatenlösung dar. Das ist das Angebot eines Staates, der die von ihm kontrollierte Entität weiterhin in großer Abhängigkeit halten will.

Unser Ansatz läuft hingegen darauf hinaus, den Friedensprozeß in eine nachhaltige Richtung anzuschieben, indem wir zum Beispiel für die universellen Menschenrechte eintreten. Auch die anderen Organisationen, mit denen ich zusammenarbeite, wie Combatants for Peace, Rabbis for Human Rights und Tayush, die ebenfalls in der israelischen und der palästinensischen Gesellschaft aktiv sind, werden von den größeren politischen Parteien weitestgehend ignoriert.  

© 2010 by Schattenblick SB: Gibt es innerhalb Ihrer Organisation einen Konsens zur Frage der Ein- oder der Zweistaatenlösung?  

YZ: Wir versuchen diese Diskussion so weit wie möglich zu vermeiden, denn wir halten sie für eine Falle. Wenn ich mit Israelis spreche, dann sage ich ihnen, daß sie eine Wahl haben. Wenn Israel darauf beharrt, die Grenzen, den Luftraum, das Wasser und die Bewegungen der Palästinenser zu kontrollieren, dann muß es ihnen auch die Staatsbürgerschaft zuerkennen. Wenn es das nicht will, dann muß es ihnen die Gründung eines echten, unabhängigen Staates gestatten. Eines von beidem muß geschehen. Ich und die meisten Leute, die sich an der Friedensfront engagieren, würden, so denke ich, anstelle zweier Staaten mit einer geschlossenen Grenze entweder einen einheitlichen Staat oder eine zweistaatliche Konföderation, bei der beide Teile miteinander kooperieren, anstreben. Doch meines Erachtens besteht zu diesem Zeitpunkt keine Hoffnung auf eine Veränderung infolge der internen politischen Diskussion in Israel. Wenn es zu einer Veränderung kommt, dann nur aufgrund von Zwang entweder in Form einer dritten Intifada, was natürlich schrecklich wäre, oder in Form wirksamen diplomatischen und wirtschaftlichen Drucks von außen, was selbstredend sehr viel besser wäre. Wir versuchen mit unserer politischen Arbeit letzteres herbeizuführen.  

Wenn alles ohnehin auf Zwang hinausläuft, dann sollte es Druck in Richtung der Einhaltung des Völkerrechts und der Verwirklichung der Arabischen Friedensinitiative 2002 sein, die schließlich die Umsetzung der internationalen Gesetze in Form eines praktikablen Vorschlags darstellt. Nur dann, wenn wir diesen ersten Schritt vollzogen haben und es zwei unabhängige, benachbarte Staaten gibt, können wir anfangen, über Konföderation, über Kooperation, über Öffnung der Grenzen, über einen gemeinsamen Arbeitsmarkt und über Bewegungsfreiheit zwischen beiden Staaten zu reden.

Derzeit sehen wir uns mit einer Ausnahmesituation konfrontiert. Mit Sicherheit durchleben die Menschen in Gaza eine Ausnahmesituation, während die Chancen der Palästinenser im Westjordanland, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, zu reisen und ein normales Leben zu führen, sehr stark eingeschränkt sind. Daher meine ich, daß wir vordringlich eine politische Lösung benötigen, die den Menschen ein normales Leben ermöglicht. Erst wenn wir das erreicht haben, können weitere Gespräche über das Zusammenleben der Israelis und Palästinenser in was für einer utopischen Zukunft auch immer geführt werden. Natürlich gibt es auch bei ICAHD Leute, die der Ansicht sind, daß die Zweistaatenlösung nicht mehr möglich ist und daß nur noch eine Einstaatenlösung oder eine Konföderation in Frage kommt. Dennoch sind wir uns in unserer Organisation darin einig, daß der erste erforderliche Schritt die Beendigung der Besetzung des Westjordanlands und der Belagerung Gazas sein muß.  

SB: Heißt das, daß Sie die Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) unterstützen?  

YZ: Auf jeden Fall, ja.  

SB: Halten Sie es für einen gangbaren Weg, Veränderungen in der politischen Situation in Israel herbeizuführen, indem man den Menschen mit materiellen Konsequenzen droht oder sie diese sogar spüren läßt?  

YZ: Schauen Sie, das Einfachste wäre, die USA und die EU - einer von beiden würde ausreichen - beriefen sich auf ihre eigenen Gesetze. Die EU hat zum Beispiel mit Israel ein Abkommen geschlossen, das Israel einen bevorzugten Handelsstatus einräumt. Die Gewährleistung dieses privilegierten Handelsstatus ist jedoch erklärtermaßen an die Einhaltung der Menschenrechte und der demokratischen Prinzipien gebunden. Daher könnte Brüssel ohne weiteres feststellen, daß die Inhaftierung von Parlamentsabgeordneten der Hamas durch Israel einen Verstoß gegen demokratische Prinzipien darstellt, daß die Belagerung von eineinhalb Millionen Menschen, die erst dann enden soll, wenn sie eine andere Regierung haben, eine krasse Mißachtung der Menschenrechte ist. Deshalb kann der bevorzugte Handelstatus, den Israel gegenüber der EU genießt, folglich nur dann Gültigkeit besitzen, wenn die Belagerung Gazas und die Besetzung des Westjordanlands beendet wird. Eine solche Erklärung würde die politische Situation im Handumdrehen ändern.  

Wir dürfen nicht vergessen, daß es die USA unter dem damaligen Präsidenten George Bush sen. waren, die 1991 damit drohten, Israel Kreditbürgschaften über zehn Milliarden Dollar vorzuenthalten, bis die Israelis mit den politischen Vertretern der Palästinenser redeten. Ungeachtet der jahrelangen Beschimpfung der PLO und Jassir Arafats als "Terroristen", die "schlimmer als die Nazis" seien, mit denen man "niemals reden" würde, willigten Israels Politiker in die Madrider Konferenz ein und nahmen an den Osloer Friedensgesprächen teil. Erst als unter Bill Clinton und George Bush jun. der Druck nachließ, waren sie in der Lage, sich aus ihren damals gemachten Zusagen wieder herauszulavieren. Nichtdestotrotz zeigt dieses Beispiel, daß es lediglich die Androhung der Vorenthaltung der Kreditbürgschaften bedurfte, um die Politik Israels recht schnell zu ändern. Schließlich sind Israel seine diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen zum Westen weitaus wichtiger als die Besetzung der Westbank. Also wäre eine Veränderung der israelischen Regierungspolitik das beste. Und weil aus Israel keine Signale kommen, daß dies bald der Fall sein wird, brauchen wir internationalen Druck, um das zu erreichen.  

Yahav Zohar mit SB-Redakteur
© 2010 by Schattenblick
SB: Was sind Ihrer Ansicht nach die politischen Gründe, deretwegen die Regierungen der EU den von Ihnen erwünschten Kurs nicht längst eingeschlagen haben?

YZ: Nun, bei der EU kommen die Dinge allmählich in Bewegung. Gestern urteilte der Europäische Gerichtshof in Luxemburg, daß sich die Zollfreiheit für israelische Produkte nicht auf Waren aus den jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten erstreckt. Das war ein großer erster Schritt. In Großbritannien und in den skandinavischen Ländern findet eine lebhafte Diskussion über das Für und Wider der Kampagne für Boykott, Investitionsstopp und Sanktionen (BDS) gegenüber Israel statt. In diesem Zusammenhang stellt Deutschland jedoch ein erhebliches Problem dar. In Deutschland wird die Diskussion zu diesem Thema anscheinend völlig unterdrückt. Doch wenn sich Deutschland nicht bewegt, wird es innerhalb der EU keinen Fortschritt geben. Deswegen sind wir bei ICAHD stark daran interessiert, jene Menschen in Deutschland, die sich für den Frieden einsetzen und die um das Ansehen ihres Landes in der Welt besorgt sind und die sich um die Einhaltung seiner Verfassung und seiner Gesetze bemühen, dazu zu ermutigen, in Erscheinung zu treten und öffentlich zu erklären, daß dieses wichtige Thema diskutiert werden muß.  

In den USA gestaltet sich die politische Situation derzeit viel positiver als in Deutschland: Präsident Barack Obama bezieht Stellung, innerhalb der jüdischen Gemeinde tut sich ein Riß auf angesichts der zunehmenden Anzahl amerikanischer Juden, die von der bedingungslosen Unterstützung Israels abrücken und es als ihre Pflicht ansehen, seine Politik als gefährlich für sie, für den Weltfrieden und sogar für Israel selbst zu kritisieren. Dagegen werden Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Deutschland, die öffentlich Kritik an Israel üben, drangsaliert. Politiker, die sich trauen, das Thema in Deutschland kritisch aufzugreifen, werden stark unterdrückt. Das ist der Grund, warum ich nach Deutschland gekommen bin und weswegen wir von ICAHD unser Engagement, die öffentliche Diskussion hierzulande zu beleben, verstärken wollen.

SB: Wie sieht die Lage derzeit in Israel selbst aus? Nach dem Gaza-Überfall hieß es, laut Umfragen hätten 90 Prozent der befragten israelischen Bürger die Militäroperation als gerechtfertigt begrüßt. Können Sie das aus Ihrer Erfahrung bestätigen?  

YZ: Am ersten Tag des Gaza-Kriegs übertraf die öffentliche Zustimmungsrate sogar die 90-Prozent-Quote. Meiner Meinung nach ist es bei Kriegen im allgemeinen der Fall, daß die jeweilige Regierung und die ihr hörigen Medien ihn in aufgeregten Tönen als nationalen Notstand verkaufen, in dem das ganze Land wie ein Mann zusammenhalten muß. Das macht es vor allem in der Anfangsphase sehr schwierig, öffentlich einen kritischen Standpunkt einzunehmen. Ähnliches erlebte man in Deutschland, als die Grünen 2001 den NATO-Einmarsch in Afghanistan unterstützten. Später schauen dieselben Parteien der, sagen wir einmal, "weichen" Linken zurück und fragen sich, wie sie damals den Kriegseinsatz haben gutheißen können. Doch in den ersten Stunden herrscht Einigkeit auf ganzer Linie. Zudem verhält es sich fast überall so, daß die Diskussion um das Für und Wider eines Krieges erst dann wieder beginnt, wenn eigene Soldaten fallen und in Leichensäcken nach Hause zurückkehren.

Im Fall des Gaza-Krieges kam es jedoch praktisch gar nicht zu diesem Phänomen, denn es war kein Krieg im eigentlichen Sinne, sondern ein unilateraler Angriff Israels. Folglich gab es danach auch keine große Diskussion darüber. Diese Tatsache läßt auch die ungeheure Macht der Medien erkennen, deretwegen man in Israel keine Bilder getöteter Kinder zu sehen bekam. In Israel bekamen die Menschen in aller erster Linie die offiziellen Berichte der eigenen Regierung und der eigenen Armee zu hören und zu sehen. Ständig wurde über Raketenangriffe auf Israel und so gut wie gar nicht über die Bomben, die auf Gaza fielen, berichtet. Dadurch entstand in den israelischen Köpfen wieder das Bild, daß wir angegriffen wurden und daß wir uns verteidigen mußten.  

Im weiteren Sinne muß man sagen, daß sich die Menschen in Israel recht wenig für Politik interessieren. Denn für die Israelis sieht die Lage derzeit ganz gut aus. In Tel Aviv zum Beispiel lebt man wie in Europa, nur mit dem Unterschied, daß wir angenehmeres Wetter haben. Bei uns herrscht Frieden. Der palästinensische Widerstand wird erfolgreich unterdrückt. Wenn sie aufmucken, bombardieren wir sie, lassen unsere militärischen Muskeln spielen und weisen sie in ihre Schranken. Angesichts solcher Verhältnisse wundert es nicht, wenn viele Israelis sagen: "Wir führen ein gutes Leben; die Wirtschaft läuft ganz gut; unsere Straßen sind sicher. Warum sollten wir an der Situation etwas ändern? Warum sollten wir das, was wir jetzt schon haben, aufs Spiel setzen?" Wie ich schon vorhin sagte, kann Veränderung nur dann entstehen, wenn die Öffentlichkeit und die Regierung Israels gemeinsam zu der Einsicht gelangen, daß die Besatzung sie etwas kostet. Das könnte entweder infolge eines großangelegten palästinensischen Aufstandes, also in Form einer dritten Intifada, oder in Form wirksamen diplomatischen und wirtschaftlichen Drucks geschehen.  

© 2010 by Schattenblick SB: Herrschen in Israel nicht ähnliche soziale Spannungen wie hierzulande? Wie sieht die soziale Lage der benachteiligten Bürger aus? Besteht nicht eine Verbindung zwischen ihrem Schicksal und dem der Palästinenser?  

YZ: Sie besteht durchaus. Tatsächlich wird die Kluft zwischen den Wohlhabenden und den Habenichtsen immer größer. Seit über 20 Jahren entwickelt sich Israel von einer Sozialdemokratie, wie sie für einige Länder Westeuropas typisch ist, zu einer sehr privatisierten Gesellschaft mit großen wirtschaftlichen Unterschieden zwischen den sozialen Schichten, die eher mit der sozialen Situation in den USA vergleichbar ist. Der politische Diskurs in Israel geht auf diese Entwicklung kaum ein, sondern dreht sich in allererster Linie um die Palästinenser und darum, wie wir sie kontrollieren können und was wir mit ihnen anstellen sollten. Folglich tauchen soziale Themen im allgemeinen politischen Diskurs unseres Landes kaum auf.  

Es gibt eine Theorie, für die einiges spricht und die darauf hinausläuft, daß die israelische Regierung ein Interesse an der Aufrechterhaltung des Konflikts mit den Palästinensern hat, um die Erörterung sozialer Mißstände im eigenen Land vermeiden zu können. Ob die Regierung die ihr unterstellte Absicht tatsächlich verfolgt, kann ich nicht sagen. Die Tatsachen sprechen jedoch für die Richtigkeit dieser These. Besonders unter den Unterprivilegierten Israels herrscht ein nationalistisches Gefühl nach dem Motto vor, daß wir uns im Krieg befinden und uns von den anderen nicht besiegen lassen dürfen. Derartiges Gedankengut verdrängt die meisten anderen gesellschaftlichen Themen. So gesehen könnte man sagen, daß die Fortsetzung der Besatzung der Manipulation oder der Vermeidung einer ernsthaften politischen Diskussion sozialer Themen in Israel dienlich ist.  

SB: Trifft das auch hinsichtlich der seit langem bestehenden inneren Spannungen zwischen europäischen, orientalischen und russischen Juden zu?  

YZ: Auf jeden Fall. Die orientalischen Juden, die aus arabischen Staaten wie Marokko, dem Irak et cetera eingewandert sind, und ihre Nachkommen sind überproportional von Armut und anderen sozialen Problemen wie geringer Bildung betroffen. Es gibt einen israelischen Soziologen namens Yehouda Shenhav. Er leitet die Abteilung für Anthropologie und Soziologie an der Universität von Tel Aviv. Seine Eltern kamen ursprünglich aus dem Irak, und er hat in den neunziger Jahren viel über die sogenannten "jüdischen Araber" geschrieben. Seiner Analyse nach steht an der Spitze der israelischen Gesellschaft eine kleine Minderheit europäischer Juden, die die Wirtschaft, das Bildungswesen und andere Bereiche kontrollieren. Sie herrscht über den größten Teil der unterbezahlten Arbeiter (working poor), die aus Palästinensern, Muslimen, Christen und arabischstämmigen Juden aus dem Irak, dem Jemen und so weiter besteht. Shenhav ruft dazu auf, den sozialen Konflikt aus dieser Perspektive grundlegend neu zu definieren. Leider hat diese Idee die intellektuelle Debatte niemals verlassen und sich nicht allgemein durchsetzen können.  

Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß der Begriff des "arabischen Juden" in Israel wie ein Oxymoron klingt. Entweder ist man Araber oder Jude. Es geht um Juden gegen Araber. Die meisten Menschen, die selbst aus arabischen Ländern kommen oder deren Eltern oder Großeltern von dort stammen, wären beleidigt, wenn man sie als "arabische Juden" bezeichnete. In den Jahren nach der Einwanderung wurden sie unter enormem Druck dazu genötigt, nicht Arabisch zu sprechen, keine arabische Musik und kein arabisches Radio zu hören, denn das alles steht für den Feind. Dadurch kann traurigerweise fast niemand aus der Enkelgeneration mehr die arabische Muttersprache der Großeltern, die in den fünfziger Jahren aus der umliegenden Region nach Israel einwanderten, sprechen. Man hat das Arabische auf sehr wirksame Weise unterdrückt. Im Grunde genommen hat man diese Menschen in die Zwangslage gebracht, beweisen zu müssen, wie unarabisch sie wären. Eine Möglichkeit, sich in den Mainstream der israelischen Gesellschaft zu integrieren, war zu sagen: "Wir hassen die Araber sogar noch mehr als ihr!" Deshalb gehören die orientalischen Juden heute zum Kern der nationalistischen Bewegung Israels. Natürlich wäre es schön, wenn die Menschen den sozialen Kampf als Teil des politischen Kampfes betrachteten, doch das kommt in Israel bis auf intellektuelle Randgruppen kaum vor.  

SB: In dem Dokumentarfilm "Slingshot Hip Hop", in dem es um junge palästinensische Hiphopper in Israel, in Gaza und auf der Westbank geht - unter anderem die Gruppen Dam und Palestinian Rapperz - legt sich die israelische Polizei in einer Szene scheinbar nur deshalb mit einem Rapper an, weil er arabisch spricht. Es ist doch in Israel nicht verboten, arabisch zu sprechen?  

YZ: Nein, natürlich ist es nicht verboten, aber gleichwohl zieht man damit Aufmerksamkeit auf sich. Wenn man mitten in einem jüdischen Wohnviertel oder in einem israelischen Einkaufszentrum arabisch spricht, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß die Polizei einen zur Rede stellt und danach fragt, was man dort zu suchen hat, wie man heißt, und einen Einblick in die Ausweispapiere verlangt. Hat man eine Tasche bei sich, schaut man nach, ob darin keine Bombe steckt.  

SB: Gibt es unter den ICAHD-Mitgliedern auch Palästinenser?  

YZ: Klar. Unser Büroleiter ist Palästinenser, und Salim, der Leiter unseres Projektes zum Wiederaufbau von Häusern, kommt aus Ostjerusalem.  

SB: Wie stark ist das politische Engagement der israelischen Palästinenser? Tragen sie das Anliegen der Palästinenser in Gaza und im Westjordanland in die israelische Öffentlichkeit oder sind sie zu isoliert?  

YZ: Bis auf wenige Ausnahmen tun sie das kaum. Die meisten Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft machen sich zuallererst Gedanken um ihren Lebensunterhalt, darüber, daß sie nicht mit den israelischen Behörden in Konflikt geraten usw. Eine Ausnahme stellen die arabischen Abgeordneten der Knesset dar. Sie sind dort in dem Sinne isoliert, daß sie niemals eingeladen wurden und vermutlich auch niemals in naher Zukunft eingeladen werden, sich an einer Regierungskoalition zu beteiligen. Sie können sich nur durch die Veröffentlichung von Erklärungen Luft verschaffen, in denen sie die Lage mit recht drastischen Worten kritisieren. Bemerkenswerterweise äußert sich Scheich Raed Salah, der Anführer der Islamischen Bewegung in Israel, häufig zum Thema Palästina, zum Schicksal der Palästinenser, zu Fragen der heiligen Stätten und so weiter. Er mobilisiert seine Anhänger dazu, die Palästinenser in den besetzten Gebieten politisch, sozial und wirtschaftlich zu unterstützen. Doch die meisten palästinensischen Israelis meiden genauso wie die meisten jüdischen Israelis die aktive politische Betätigung.  

© 2010 by Schattenblick SB: Wie bewerten Sie die Rolle der Hamas und ihr Verhältnis zum sogenannten Friedensprozeß? Hier in Deutschland wird der Eindruck vermittelt, daß sie alle Israelis ins Meer jagen und die Kontrolle über das gesamte Territorium übernehmen will. Gleichwohl haben diverse Hamas-Führungsmitglieder signalisiert, irgendwann in der Zukunft auch für Friedensgespräche mit Israel bereit zu sein.  

YZ: Die Frage läßt sich nicht so leicht beantworten, denn die Hamas hat keine einheitliche Stimme. Sie ist eine große Bewegung mit vielen Mitgliedern und vielen divergierenden Meinungen. Würde man die offizielle Hamas-Linie zusammenfassen, so lautete diese, daß die Organisation zu Gesprächen mit Vertretern des israelischen Staates beziehungsweise des "zionistischen Projektes" nicht bereit ist, wiewohl man die Fatah dazu autorisiert. Das versteht man als eine Art Aufgabenteilung. Zwar beansprucht die Hamas, Kontrolle über das ganze Land auszuüben, doch die meisten ihrer Aktivisten und ihrer Führungsmitglieder sind Pragmatiker, die begreifen, daß die Chance auf Erreichen dieses Ziels in naher bis mittlerer Zukunft gleich null ist. Darüber hinaus machen sie sich über das Kräfteverhältnis nichts vor. Das fällt vollkommen zu Israels Gunsten aus, also besteht nicht die geringste Möglichkeit, daß Hamas in den kommenden Jahrzehnten Tel Aviv oder Haifa erobern wird.  

Vor diesem Hintergrund haben sie sich im gewissen Sinne in der eigenen Rhetorik verfangen. Sie erklären, daß sie niemals mit den Israelis verhandeln oder deren Staat anerkennen werden. Gleichzeitig haben sie nichts dagegen, daß die Fatah mit Israel verhandelt. Darüber hinaus müssen sie anerkennen, daß ihr Hauptsponsor Syrien Unterzeichnerstaat der Arabischen Friedensinitiative ist, die eine umfassende Friedensregelung in Aussicht stellt, vorausgesetzt, Israel läßt die Entstehung eines palästinensischen Staates innerhalb der Grenzen von 1967 zu. Also läuft das, was der politische Chef Chalid Maschal und andere Hamas-Anführer in verschiedenen Formulierungen von sich gegeben haben, darauf hinaus, daß die Hamas, sollte Israel die Entstehung eines palästinensischen Staates zulassen - was sie nach den bisherigen Erfahrungen nicht glauben oder sich nicht vorstellen können -, den bewaffneten Kampf zugunsten eines politischen Kampfes aufgeben wird. Also bekennen sie sich praktisch zum Ziel des Endes der Feindseligkeiten und der Annahme der Arabischen Friedensinitiative. Nur ihre Rhetorik zwingt sie noch dazu, weiterhin das Existenzrecht Israels offiziell zu bestreiten und Verhandlungen mit den Israelis abzulehnen, und erlaubt ihnen nicht, von Frieden, sondern lediglich von Waffenstillstand und ähnlichem zu reden.  

SB: Die die Hamas betreffende Sprachregelung hierzulande verlangt, daß sie in jeder Nachrichtenmeldung als "radikalislamisch" bezeichnet wird, wodurch nahegelegt wird, daß es sich um "Terroristen" handelt. Wie würden Sie den ideologischen Status der Hamas beurteilen? Ist die Organisation hauptsächlich religiös motiviert oder eher das Produkt politischer Unterdrückung, das seine Ziele auf politische Weise zu verwirklichen sucht?  

YZ: Meiner Meinung nach ist die ganze Trennung zwischen Nationalismus und Religion nichts als ein semantisches Wortspiel. Es handelt sich bei beidem um Systeme von Symbolen, mittels derer man die Menschen zu politischen Zwecken organisiert. Es fällt mir schwer, bei Hamas eine solche Trennung vorzunehmen, denn bei ihr ist die Religion ein Mittel, den Nationalismus voranzutreiben, und umgekehrt. Was man über die Hamas auf jedem Fall sagen kann, ist, daß sie über eine Reihe kluger Politiker verfügt. Sie sind nicht mehr oder weniger irrational als die Politiker anderer Konfliktparteien. Sie vertreten den sehr einfach zu begründenden Standpunkt, daß jedes Volk, dessen Siedlungsraum besetzt wird, nach internationalem Recht dazu befugt ist, unter Anwendung militärischer Gewalt Widerstand zu leisten.  

Man darf nicht vergessen, daß auch bei der Gründung des jüdischen Staates Bomben - unter anderem gegen das Hauptquartier der britischen Verwaltung und arabische Märkte - zum Einsatz kamen. Ohnehin wird mit dem Wort "Terrorismus" Begriffsverwirrung betrieben. Wie Sie wissen, sprachen die Amerikaner beim Einmarsch in den Irak 2003 von "Shock and Awe". Bei der Niederschlagung der zweiten Intifada sprachen israelische Generäle wiederholt davon, "in das Bewußtsein der Palästinenser" die Einsicht zu "brennen", daß sie ein besiegtes Volk wären und daß die Fortsetzung ihres Kampfes für sie keinen Sinn hätte. Vergleicht man diese drei Wortschöpfungen "shock and awe", "ins Bewußtsein brennen" und "Terrorismus", dann stellt man fest, daß der Unterschied lediglich semantischer Art und sehr gering ist. Es geht in allen drei Fällen darum, durch die Anwendung militärischer Gewalt massenpsychologische Wirkung zu entfalten. Vor diesem Hintergrund ist die Hamas ebenso eine terroristische Organisation, wie die Bombardierung Gazas durch Israel oder die Luftangriffe der USA auf Bagdad terroristische Handlungen waren.

Vielleicht ist der Begriff "Terrorismus" einfach nicht sinnvoll, denn schließlich geht es hier um politische Kämpfe zum Erreichen politischer Ziele. Die Hamas hat die Unabhängigkeit Palästinas und die Selbstbestimmung seiner Bewohner zum Ziel erklärt, was völlig legitim ist. Ich bin der Meinung, daß Angriffe auf Zivilisten illegitim sind, doch es kann niemand behaupten, daß nur die eine Seite zu solchen Mitteln greift. Mit Sicherheit sind mehr palästinensische Zivilisten durch israelische Bomben ums Leben gekommen als umgekehrt, doch das hat weniger mit Ideologie als mit den herrschenden Kräfteverhältnissen zu tun. Keine der beiden Seiten kann von sich behaupten, saubere Hände zu haben und niemals Zivilisten anzugreifen.  

Die Israelis behaupten, daß sie bei der Offensive gegen Gaza keine Wahl gehabt hätten, denn das Hauptquartier der Hamas hätte inmitten eines zivilen Wohngebietes gelegen. Wenn Sie Tel Aviv besuchen, werden Sie sehen, daß das Hauptquartier der israelischen Armee mitten im Stadtzentrum liegt. Gäbe es eine andere Seite, die uns mit Bomben und Raketen aus der Luft angreifen könnte, dann wäre ein Angriff auf die Schaltzentrale der israelischen Armee gleichbedeutend mit einem Angriff auf das Zentrum Tel Avivs. Also haben wir es hier mit gezielter Begriffsverwirrung zu tun. Was ist Terrorismus? Was ist rational oder irrational? Hier ist niemand rational. Daher glaube ich, daß bestimmte Wörter benutzt werden, um die nackten Tatsachen der Belagerung Gazas, der Besetzung der Westbank und eines Volkes, das ohne irgendwelche Rechte leben muß, sowie die Dringlichkeit einer politischen Lösung zu verschleiern.  

© 2010 by Schattenblick SB: Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach die israelische Regierung in Bezug auf den innerpalästinensischen Konflikt zwischen Fatah und Hamas?  

YZ: Nun, die Regierungen Israels und der USA haben viel mit dem, was in den besetzten Gebieten passiert, zu tun, denn schließlich haben sie die Macht und das Sagen. Das meine ich nicht nur in Bezug auf die Teilung zwischen dem von der Fatah regierten Westjordanland und dem von der Hamas kontrollierten Gazastreifen. Schaut man sich die Verhältnisse genauer an, stellt man fest, daß die Palästinenser in fünf verschiedene Kategorien unterteilt sind: die Flüchtlinge im Ausland, die an der politischen Diskussion gar nicht erst beteiligt werden; die Menschen in Gaza, die dort in Gefangenschaft leben; die Bevölkerung des Westjordanlands, die sich in halber Gefangenschaft befindet; die Bewohner Ostjerusalems, die einer besonderen Form des Zwischenstatus ausgesetzt sind; und schließlich die in Israel lebenden Palästinenser, die dort Bürger zweiter Klasse sind. Diese Unterteilung ist das Produkt der israelischen Politik und dient dem kurzfristigen Zweck der Kontrolle. Wären alle diese Menschen vereint, sähe das Kräfteverhältnis ganz anders aus. Doch weil Israel jeder Gruppe bis auf den im Ausland lebenden Flüchtlingen geringfügig voneinander abweichende Rechte zugesteht, haben alle Angst davor, ihren Platz auf der Leiter zu verlieren und eine Stufe nach unten zu fallen. Die Leute in Ostjerusalem sagen sich, daß es ihnen, wenn sie Widerstand leisteten, genauso schlimm wie den Menschen im Westjordanland erginge. Letztere wiederum haben Angst, daß es ihnen so dreckig gehen könnte wie den Landsleuten in Gaza. Das ganze basiert auf Teilen und Herrschen. Aus Angst vor der Macht der säkularen, nationalistischen Fatah hat die israelische Regierung in den achtziger Jahren die islamische Bewegung Hamas als politische Alternative für die Palästinenser gefördert, was daran erinnert, wie die Amerikaner in Afghanistan die Mudschaheddin mit Waffen und Ausbildung unterstützt haben. Kurzum, Israel hat ganz klar auf die Teilung der Palästinenser hingewirkt und sie schließlich erreicht.  

Marwan Barghuthi, der in einem israelischen Gefängnis einsitzende, sehr populäre Anführer der Fatah, und mehrere ebenfalls inhaftierte Hamas-Führungmitglieder haben ein gemeinsames Dokument zur künftigen Zusammenarbeit beider Organisationen verfaßt und veröffentlicht. Dort heißt es unter anderem, daß die Hamas keinen direkten Kontakt zur israelischen Regierung haben wird, aber daß die Fatah im Namen des ganzen palästinensischen Volkes mit ihr sprechen soll. Offenbar wird Fatah-Chef Mahmud Abbas von den USA unter enormen Druck gesetzt, dieses Dokument der Versöhnung mit der Hamas nicht abzusegnen. Washington vertritt nach wie vor den Standpunkt, daß die Hamas quasi zur "Achse des Bösen" gehört, eine Art "terroristischen" Islam vertritt, und daß man deshalb mit ihr nicht verhandeln darf. Also arbeiten die USA und Israel gemeinsam an der Aufrechterhaltung dieser Spaltung. Ich will die Verantwortung palästinensischer Politiker für diese mißliche Situation nicht bestreiten, schließlich spielen auch sie ihren Part, doch das ganze ist keineswegs allein auf ihr Betreiben hin zustandegekommen.  

SB: Lassen sich unter den letzten zwei bis drei israelischen Regierungen irgendwelche nennenswerten Unterschiede im Umgang mit den Palästinensern feststellen?  

YZ: Geschichtlich betrachtet wies die israelische Politik stets zwei Gesichter auf. Auf der einen Seite gab man sich im Prinzip friedensbereit und bekannte sich zur Zweistaatenlösung, während man auf der anderen Seite den Ausbau der jüdischen Siedlungen vorantrieb und an der Besetzung des Westjordanlands respektive der Belagerung Gazas festhielt. Die Veränderung, die der israelische Außenminister Avigdor Lieberman mehr als jeder andere verkörpert, ist das Ablegen des erstgenannten dieser beiden Gesichter. Ihm zufolge besteht keine Aussicht auf Frieden - "es handelt es sich um einen fundamentalen Kampf zwischen Gut und Böse, daher besteht für uns der einzige Weg in der Ausübung militärischer Kontrolle". Wir haben es hier nicht mit einer fundamentalen Änderung der tatsächlichen Politik, sondern lediglich mit dem Gesicht, das man ihr verleiht, zu tun.  

SB: War es nicht Ariel Scharon, der schon vor Jahren erklärte, daß Israel auf Seiten der Palästinenser keinen Gesprächspartner besitzt?  

YZ: Eigentlich war es Ehud Barak, der diese Formulierung in Umlauf brachte. Er ist derjenige, der den Palästinensern im Jahr 2000 bei den Gesprächen in Camp David unter der Schirmherrschaft Bill Clintons das finale Angebot eines Staates machte, bei dem Israel weiterhin die Grenzen, die Hauptstadt, die Wasserressourcen, den Luftraum, das elektromagnetische Spektrum und die internen Bewegungen kontrollieren sollte. Und Barak ist derjenige, der nach Israel zurückkehrte und erklärte, er habe "Arafats wahres Gesicht enthüllt", er sei "kein Mann des Friedens", denn er habe "unser großzügiges Angebot nicht akzeptiert"; es gebe für Israel "keinen Partner". Das war sein Verdienst, wenn man es so nennen darf. Ehud Barak steht der Arbeitspartei und Benjamin Netanjahu dem Likud vor, während Ariel Scharon die Partei zwischen ihnen, Kadima, gegründet hat. Doch im Grunde stehen alle drei praktisch für die gleiche Politik, sie benutzen nur geringfügig voneinander abweichende Sprachregelungen dafür.  

© 2010 by Schattenblick SB: Für wie stark schätzen Sie den Einfluß des israelischen Militärs auf die Regierungspolitik Ihres Landes ein?  

YZ: Man sollte ihn nicht überbewerten. An den verschiedenen Kabinettstischen haben zwar immer wieder Ex-Militärs wie Ehud Barak oder Ariel Scharon, aber auch viele Zivilisten wie Benjamin Netanjahu, Tzipi Livni und Avigdor Liebermann gesessen. Ich glaube, daß das eigentliche Problem tiefer sitzt. Das Problem liegt in einer Gesellschaft, die eine militärische Sichtweise favorisiert, und in einem Bildungssystem, in dem Kinder bereits in frühen Jahren heldenhafte Soldatengeschichten eingetrichtert bekommen. Die Armee wird in der Gesellschaft als gut, notwendig und wichtig hochgehalten. Das macht die Diskussion darüber so schwierig. Israel gibt zehn Prozent seines Bruttosozialproduktes für das Militär aus, während junge Männer drei Jahre und junge Frauen zwei Jahre Wehrdienst leisten müssen. So etwas gibt es nirgendwo sonst auf der Welt - Nordkorea vielleicht ausgenommen. Jedenfalls ist Israel eine sehr militarisierte Gesellschaft. Dies wirkt sich auf die Sichtweise der Menschen aus und reduziert die Beziehungen zu den Palästinensern oder zu den Nachbarländern stets auf die Frage der Waffengewalt und des Erlangens der Kontrolle. Zwar genießt das Militär hohes Ansehen, und den Äußerungen der Generäle wird breiter Raum zugestanden, doch das Problem geht tiefer als die Frage nach den technischen Fähigkeiten der Streitkräfte oder der Zahl der Politiker, die früher Militärs waren.  

SB: Inwieweit sind sich die Israelis bewußt, daß sie auf die Militärhilfe der USA angewiesen sind?

YZ: Ich denke schon, daß sich die Leute im allgemeinen darüber im klaren sind, daß die Allianz mit den USA wichtig ist. Gleichwohl herrscht das Gefühl vor, daß dies der natürlichen Ordnung der Dinge entspricht oder daß uns Washingtons Unterstützung zusteht. Kritisieren amerikanische Politiker Israel, löst dies bei uns stets die gleiche empörte Reaktion aus: "Wie können sie nur? Wissen sie nicht, daß wir ein kleines, bedrohtes Land sind? Wissen sie nicht, daß wir ihre treuesten Verbündeten im Nahen Osten sind? Wissen sie nicht, daß wir die einzige Demokratie hier sind?" und so weiter und so fort.  

SB: Für wie stark halten Sie den Einfluß der Siedlerbewegung? Stellen die jüdischen Siedler für die friedliche Beilegung des Nahostkonfliktes ein ernstzunehmendes Hindernis dar?  

YZ: Momentan gibt es rund 500.000 Israelis, die jenseits der grünen Linie in Ostjerusalem und im Westjordanland leben. Die meisten von ihnen sind nicht aus ideologischen Gründen dort hingezogen. Der größte Teil dieser Menschen bewohnt die Vororte von Jerusalem und Tel Aviv, die jenseits der grünen Linie liegen, weil die Regierung sie mit Subventionen und Steuererleichterungen dort hingelockt hat. Solche Leute stellen kein ernsthaftes Hindernis dar. Von den rund 500.000 Siedlern sind allerhöchstens 100.000 ideologisch motiviert, wähnen sich in göttlicher Mission und so weiter. Das ist eine kleine Anzahl Menschen, die ohne die Unterstützung des Militärs und des Staates auch kein großes Problem darstellen dürften. Sie sind zwar ein Problem, aber auch eines, dessen man mit polizeilichen Mitteln Herr werden kann.  

SB: Was macht Sie da so sicher?  

YZ: Was könnten 75.000 Siedler dagegen unternehmen, wenn elf Million Menschen in Israel und Palästina eine Zweistaatenlösung beschließen? Bei jedem politischen Kompromiß gibt es Menschen, die sich nicht damit abfinden können. Doch selbst wenn die Siedler zu den Waffen greifen sollten, werden sie, solange die israelische Armee die Zweistaatenlösung unterstützt, wenig ausrichten können. Für die Bewältigung solcher Probleme unterhält der Staat schließlich Sicherheitskräfte. Gleichwohl genießen die Siedler unverhältnismäßig viel Rückhalt in der israelischen Gesellschaft aufgrund ihrer Hingabe an ihre Sache, aufgrund ihrer sehr effizienten politischen Organisation, und weil es ihnen gelingt, eine bestimmte empfindsame Stelle im Gefühlshaushalt ihrer Landsleute zu berühren. Die zionistische Bewegung basierte stets darauf, daß einige Menschen Risiken auf sich nahmen, ein unbekanntes Territorium besiedelten und so weiter. Die Siedler betrachten sich als diejenigen, die diese Tradition heute fortsetzen.

Zudem sind sie unter den Abgeordneten der Knesset überproportional vertreten. Unser Außenminister Avigdor Lieberman ist ideologisch ein Siedler! Das sagt doch alles. Zwar haben sich seine Schas-Partei und die Fraktion der Habajit Hajehudi die Unterstützung der Siedler auf die Fahne geschrieben, sie bilden jedoch mit insgesamt nur zwölf Sitzen noch lange keine mehrheitliche Position in der Knesset. Sie vertreten eine gesellschaftliche Kraft, die vereint, gut organisiert und schlagkräftig ist. Doch ich betone nocheinmal, sollte es zum nationalen Konsens werden, daß die Siedlungen nicht im Interesse des israelischen Staates, sondern diesem eher abträglich sind, dann glaube ich nicht, daß die Siedler die Entwicklung werden aufhalten können.  

SB: Was sagen Sie zu dem Phänomen der religiösen Radikalisierung innerhalb der israelischen Streitkräfte? Inwieweit geht von dieser Entwicklung eine Bedrohung auf die Bemühungen um eine friedliche Beilegung des Nahostkonfliktes aus?  

YZ: Das Phänomen, dessen Existenz man nicht wegdiskutieren kann, gibt es nicht zuletzt wegen des Verlusts des ideologischen Ansporns in der restlichen Gesellschaft. Die Siedlerbewegung ist einer der wenigen Orte in einer generell sehr kapitalistischen Gesellschaft, in denen noch Gesinnung und ein gewisser Altruismus hochgehalten werden. Dies hat dazu geführt, daß sich nicht wenige junge Menschen aus den Siedlungen nach dem Wehrdienst für eine Offizierskarriere melden. Sie halten das Militär für wichtig und sehen den soldatischen Dienst als eine Art Mission an. Zwar ist das ein Problem, dennoch glaube ich nicht, daß es in Israel zu einem Militärputsch kommen wird. Welchen Kurs auch immer die Regierung einschlägt, die Streitkräfte werden sich dem weiterhin unterzuordnen wissen.  

Diese religiöse Radikalisierung ist lediglich ein Ausdruck des für mich viel größeres Problems des Rassismus. In Israel und in Palästina hat es immer Rassismus gegeben. Der ethnische Konflikt hat ihn weiter gedeihen lassen. Doch das System der Trennung, das seit einigen Jahren dank der Mauer, der vielen Kontrollpunkte und so weiter forciert wird, hat eine Situation geschaffen, in der die Israelis den Palästinensern in ihrem alltäglichen Leben kaum mehr begegnen, es sei denn im Fernsehen, wo sie sie als Angreifer erleben. Ihrerseits begegnen die Palästinenser den Israelis meistens als Soldaten an Kontrollpunkten oder als Siedler, die sie von ihrem Land zu verjagen versuchen. Es gibt immer weniger Kontakt zwischen den Menschen beider Seiten, was wiederum den Rassismus schürt. Inzwischen werden beide Gesellschaften immer polarisierter, immer rassistischer. Das ist wirklich ein großes Problem.

Auf meiner Reise bekomme ich ständig zu hören: "Wie gut, daß Sie hier sind, um der Stimme der jungen Generation Israels Gehör zu verschaffen." Dagegen verwahre ich mich. Ich vertrete nicht die junge Generation Israels. Wenn ich etwas vertrete, dann ist es die kleine Friedensbewegung, in der es Junge, Alte und Menschen aller Generationen gibt. Leider bewegt sich die allgemeine Entwicklung der israelischen Gesellschaft nicht in unsere Richtung. Die allgemeine Entwicklung Israels ist davon gezeichnet, daß man sich auf der einen Seite immer mehr von der Möglichkeit einer politischen Konfliktlösung abwendet und auf der anderen Seite immer mehr in Richtung eines unverhohlenen Rassismus tendiert.  

SB: Yahav Zohar, wir bedanken uns für das aufschlußreiche Gespräch.


Aus dem Englischen übertragen von der Redaktion Schattenblick

Café "Die Eins" im Gebäude des ARD-Hauptstadtstudios im
Berliner Regierungsviertel
© 2010 by Schattenblick

15. März 2010