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INTERVIEW/033: US-Menschenrechtsanwalt Reed Brody, Human Rights Watch (SB)



Interview mit Reed Brody von Human Rights Watch am 21. November 2009 in Berlin

Seit rund 30 Jahren gehört der New Yorker Anwalt Reed Brody zu den führenden Menschenrechtsaktivisten weltweit. 1985 hat seine Aufdeckung von Greueltaten der rechtsgerichteten nicaraguanischen Contras den Zorn des damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan erregt, der ihn öffentlich als Sympathisanten der sozialistischen Sandinista-Regierung Daniel Ortegas beschimpfte. Durch forensische Recherchen, Untersuchungsberichte, Bücher, Gastkommentare in namhaften Zeitungen wie The Guardian, Le Monde, El País oder die Los Angeles Times hat Brody immer wieder auf Menschenrechtsverletzungen, sei es in Augusto Pinochets Chile, in Hissène Habrés Tschad, in Osttimor zur Zeit der indonesischen Fremdherrschaft, in den besetzten Gebieten Palästinas, im Myanmar der Generäle, im chinesischen Tibet, im sudanesischen Darfur oder in den US-Militärgefängnissen im irakischen Abu Ghraib, im afghanischen Bagram oder auf dem Stützpunkt Guantánamo Bay auf Kuba aufmerksam gemacht und damit den Leidtragenden zu helfen versucht. Seit Jahren arbeitet Brody für die New Yorker Nicht-Regierungsorganisation Human Rights Watch. Derzeit leitet "Der Diktatorenjäger" - als solches wurde er 2007 in der gleichnamigen Dokumentation der niederländischen Regisseurin Klaartje Quirijns bezeichnet - die Kommunikationsabteilung der HRW-Dependence in Brüssel. Anläßlich der Eröffnung der neuen Büroräume des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) am 21. November in Berlin konnte der Schattenblick mit Reed Brody sprechen.

Reed Brody
© 2009 by Schattenblick

Schattenblick: Als Barack Obama vor kurzem China, Japan und Südkorea besucht hat, ist in der asiatischen Presse ein Leitartikel erschienen, in dem es hieß, daß die Menschen in den USA und in Europa keine Vorstellung von dem Ausmaß hätten, in dem der "globale Antiterrorkrieg" und die damit einhergehenden Exzesse - "außerordentliche Überstellungen", "Waterboarding", "Präventivhaft" usw. - die moralische Autorität des Westens und seine Menschenrechtswerte in Mißkredit gebracht haben. Stimmen Sie dieser Beobachtung zu, und inwieweit sind Sie und die anderen Mitglieder von Human Rights Watch in den letzten Jahren in Ländern außerhalb der industrialisierten Welt als Folge des "Antiterrorkrieges" der USA und ihrer Verbündeten mit der Arbeit, die Sie zu leisten versuchen, auf Widerstand gestoßen?

Reed Brody: Das haben wir auf jeden Fall erlebt. Der Antiterrorkrieg oder eher der Terrorismus und der Antiterrorkrieg haben das Umfeld für die Menschenrechtsarbeit völlig verändert. Die Menschen stellen fest, daß es eine Doppelmoral gibt. Die Menschen beobachten, wie die Länder, die traditionellerweise Vorbilder und Verfechter der Menschenrechte gewesen sind, Verstöße dagegen nicht nur bewußt ignorieren, sondern sie auch noch selbst begehen. Das hat es Gruppen wie Human Rights Watch und Amnesty International sehr schwer gemacht, außerhalb von den USA und Europa Folter und Menschenrechtsverletzungen anzuprangern, weil man uns in der Tat, berechtigter- oder unberechtigterweise, als Vertreter der Ersten Welt ansieht. Dennoch sind die Werte, die Ambitionen und die Sehnsucht der Völker nach Menschenrechten gleich geblieben. Für die meisten Menschen auf der Welt steht, wenn man sie nach ihren Hauptängsten oder -sorgen fragt, der Terrorismus sehr weit unten auf der Liste. Und trotzdem erleben wir, daß die Terrorabwehr die Menschenrechte als organisierendes Prinzip der westlichen Außenpolitik abgelöst hat. Weltweit hat das zu erhöhtem Widerstand gegen Kritik von Seiten der Menschenrechtsorganisationen geführt. Nach der Anklageerhebung gegen den Präsidenten des Sudan, Omar al-Bashir, durch den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag 2008 wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid in Darfur waren beispielsweise Politiker und Medien in der arabischen, afrikanischen und übrigen Dritten Welt schnell bei der Hand, auf die doppelten Maßstäbe hinzuweisen, die dabei anlegt wurden. Also ja, das Umfeld für die Menschenrechtsarbeit hat sich seit den Anschlägen vom 11. September 2001 und infolge der Verstöße und Mißhandlungen, die im Zusammenhang mit dem Antiterrorkrieg stattgefunden haben, sehr verändert.

SB: Haben die Entwicklungsländer auf die gleiche Art und Weise wie George W. Bush, Dick Cheney und Donald Rumsfeld das Paradigma der Terrorabwehr für sich beansprucht, um sich selbst vor Anschuldigungen zu verteidigen, die Menschenrechte verletzt zu haben?

RB: Wir haben erlebt, daß sich Regierungen die Sprache der Terrorabwehr zu eigen machten und sie für die eigenen Zwecke zurechtbogen. Robert Mugabe beispielsweise, der Präsident von Simbabwe, nennt seine Kritiker Terroristen. In gleicher Weise bezeichnet die Regierung in Peking Dissidenten oder die Menschen, die eine Autonomie für die chinesische Provinz Ostturkmenistan anstreben, als Terroristen. Das ist eine Methode, Menschenrechtsverstöße zu bemänteln, die es westlichen Staaten, die die Terrorabwehr zu ihrem neuen Credo erhoben haben, erschwert, sie als solche aufzudecken.

SB: Eine jüngere Entwicklung, die für sich gesehen recht interessant ist, ist der Wandel in der Berichterstattung über Human Rights Watch in den westlichen Medien. Lange Zeit über war diese durchgehend positiv, aber insbesondere in den letzten Monaten hat es eine ganze Reihe kritischer Töne gegeben, die besonders von jenen Kräften kamen, die mit der äußersten Rechten in Israel im Einvernehmen stehen. So ist beispielsweise im Oktober ein beißender Brief in der New York Times erschienen, der unter anderem vom Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel, von Alan Dershowitz, Juraprofessor in Harvard, und dem früheren CIA-Direktor James Woolsey unterschrieben wurde. In welchem Maße hat die kritische Berichterstattung von Human Rights Watch über den Nahostkonflikt für Sie in den USA oder in Europa zu Problemen geführt?

RB: Das hat uns keine ernsthaften Probleme bereitet. Ehrlich gesagt bin ich der Meinung, daß Human Rights Watch aus diesem speziellen Konflikt gestärkt hervorgegangen ist. Hier haben wir es damit zu tun, daß Israel versucht, die Berichterstatter zu diskreditieren, die Schiedsrichter zu diskreditieren und die Regeln zu diskreditieren. Das hatte Angriffe seitens Israels auf Human Rights Watch und andere Menschenrechtsorganisationen sowie auf das Gefüge des Humanitären Völkerrechts selbst zur Folge. Israel hat sowohl eine Abänderung der Genfer Konventionen als auch der Prinzipien des Kriegsvölkerrechts gefordert. Human Rights Watch war möglicherweise aufgrund der Gründlichkeit und Genauigkeit, mit der wir den Gazakrieg und die von beiden Seiten begangenen Verbrechen untersucht haben, das Hauptziel der Kritik pro-israelischer Gruppierungen.

Deren Kampagne zielt nicht nur auf Human Rights Watch, sondern auch auf jede Gruppe oder Person ab, die versucht, über israelische Verstöße zu berichten. Es ist im gleichen Maße eine Kampagne gegen die Regeln an sich. Israel behauptet, daß diese Regeln geändert werden müßten, damit es sich gegen die asymmetrische Kriegsführung verteidigen kann. Das sind die gleichen Argumente, die wir seit vierzig Jahren hören. Die Richtlinien des Humanitären Völkerrechts lassen sich sehr wohl auf den Nahostkonflikt anwenden. Die Israelis sind keinesfalls die erste Gruppe, die versucht hat, die Grundsätze des Humanitären Völkerrechts in Frage zu stellen, als ihre Verstöße dagegen aufgedeckt wurden. Die Regierung von George W. Bush hat auf vielerlei Weise und bei vielen Gelegenheiten das gleiche getan.

SB: In Verbindung mit dieser Kontroverse wurde unterstellt, daß insbesondere in den USA die finanzielle Unterstützung für Human Rights Watch infolge der kritischen Position Ihrer Organisation gegenüber Israel zurückgegangen wäre. Ist etwas Wahres daran?

© 2009 by Schattenblick

RB: Nein. Einige Spender haben ihre Zahlungen an Human Rights Watch eingestellt, aber es waren sehr wenige, und andere haben sie ersetzt. Wir haben zum Glück eine Spendenbasis, die weit genug gestreut ist. Also wurde unsere finanzielle Situation nicht merklich beeinträchtigt. Robert Bernstein, der Gründungsdirektor von Human Rights Watch, jemand, den ich sehr hoch achte, hat in der New York Times einen Gastkommentar veröffentlicht, in dem er nicht allein die Arbeit von Human Rights Watch bezüglich Israel, sondern auch unsere Arbeit bezogen auf offene Gesellschaften im allgemeinen kritisiert hat. Für eine Organisation ist es natürlich traurig, wenn ihr Gründungsdirektor das Gefühl hat, daß er sich auf solche Weise von ihr distanzieren muß. Aber ehrlich gesagt denke ich, daß Human Rights Watch aus diesem ganzen Streit gestärkt hervorgegangen ist. Bedauerlicherweise gibt es gewisse Leute, die nur solange für die Menschenrechte sind, wie es Israel nicht betrifft. Darum kann es nicht gehen, wenn man die Einhaltung der Menschenrechte fordert. Wenn man für die Menschenrechte eintritt, muß man Israel an denselben Standards messen wie die USA, den Sudan oder Kuba.

SB: Im gleichen Zusammenhang wurde der Vorwurf laut, Human Rights Watch habe finanzielle Unterstützung aus Saudi-Arabien, sei es nun staatlicherseits oder von reichen Einzelpersonen, erhalten oder sich darum bemüht. Könnte Sie das, sollte es der Fall sein, vielleicht Vorwürfen aussetzen, Zuwendungen aus einem Land zu erhalten, das selbst einen ziemlich schlechten Ruf in Bezug auf Menschenrechte hat?

RB: Erst einmal: Human Rights Watch erhält von keiner Regierung Geld, weder von der der Vereinigten Staaten, noch von der schwedischen oder der saudischen. Das ist ein fundamentales Prinzip unserer Organisation. Human Rights Watch bemüht sich ganz aktiv darum, seine finanzielle Grundlage auf eine so breite Basis wie möglich zu stellen. Zur Zeit kommen fast zwei Drittel unserer Spendengelder aus Nordamerika, fast 95 Prozent aus Ländern der westlichen Welt. Deshalb bemühen wir uns sehr intensiv darum, das zu ändern. Wir haben Büros in Ländern wie Indien und Südafrika gegründet, um internationaler zu werden und unsere Unterstützerbasis zu diversifizieren. Wir sind nicht der Auffassung, daß es falsch ist, um finanzielle Unterstützung von Menschen im Nahen Osten oder in Saudi-Arabien zu werben. Es liegt nahe, daß wir kein Geld von Regierungen und kein Geld von Personen annehmen, deren Einkommensquelle in irgendeiner Weise nicht ganz sauber sein könnte. Aus diesem Grund haben wir ein Komitee, das darauf achtet und Spender auf mögliche Interessenkonflikte hin überprüft.

SB: Kann man davon ausgehen - angenommen Sie erhielten Geld aus saudischen Quellen -, daß die Menschen von dort, die Sie unterstützten, nicht nur eine Verbesserung im Bereich der Menschenrechte für Israelis und Palästinenser wünschten, sondern auch für ihr eigenes Land?

RB: Human Rights Watch hat die saudische Regierung sehr scharf kritisiert. Human Rights Watch hat seine erste Mission in Saudi-Arabien vor zwei oder drei Jahren durchgeführt. Wir haben sehr kritische Berichte über den Mangel an Freiheiten ganz allgemein in Saudi-Arabien und ganz speziell der Frauen dort veröffentlicht. Ich kenne die Motive der Unterstützer nicht, aber Menschen in Saudi-Arabien konnten beispielsweise ihre Beiträge niemals an die Arbeit über Israel binden.

SB: Als Sie die Delegation von Human Rights Watch auf der UN-Konferenz gegen Rassismus 2001 im südafrikanischen Durban leiteten, hat NGO Monitor Ihnen vorgeworfen, Sie hätten sich Israel als einziges Land herausgegriffen und verurteilt und keinen weiteren Staat beziehungsweise kein anderes Regime wegen Menschenrechtsvergehen angeklagt. Was sagen Sie zu dieser Anschuldigung?

RB: Es stimmt, daß ich die Delegation von Human Rights Watch in Durban geleitet habe. Das war es dann aber auch. Unsere Arbeit in Durban ist dermaßen falsch dargestellt worden, daß eine etwas ausführlichere Erklärung vielleicht erforderlich ist. Man muß zwischen zwei Veranstaltungen unterscheiden, die in Durban parallel stattgefunden haben: das Forum der Non-Governmental Organisations [Nicht-Regierungsorganisationen] und die offizielle Konferenz der Vereinten Nationen gegen Rassismus. Auf dem NGO-Forum wurde eine Erklärung verabschiedet, die wir für unannehmbar hielten. Minuten, nachdem die NGO-Erklärung angenommen worden war, hat die Human-Rights-Watch-Delegation den bis dahin nie dagewesenen Schritt vollzogen, sich davon zu distanzieren. Tatsächlich habe ich viel Zeit mit dem Versuch verbracht, die Abschlußerklärung zu ändern. Ich bin zu meinen palästinensischen und arabischen Freunden in den NGO-Komitees gegangen und habe gesagt: "Seht mal, wenn Ihr diese Begrifflichkeiten wählt, Zionismus mit Rassismus gleichzusetzen und Israel als einen Staat zu bezeichnen, der Genozid begeht, dann werden wir uns davon distanzieren müssen." Und sobald die Erklärung verabschiedet war, habe ich persönlich alle Nachrichtenagenturen aufgesucht, die über die Konferenz berichteten, und sie darüber informiert, daß Human Rights Watch sich davon distanziert. Das hat dazu geführt, daß die arabischen NGOs über uns verärgert waren.

Diese spezifische Aussage, daß der Zionismus eine Form des Rassismus darstelle, war zu diesem Zeitpunkt bereits aus der Abschlußerklärung der eigentlichen UN-Konferenz gestrichen worden. Dennoch haben sich sowohl Israel als auch die Vereinigten Staaten von der Konferenz zurückgezogen. Dafür hat die Delegation von Human Rights Watch beide gleichermaßen kritisiert. Rückblickend muß ich sagen, daß die revisionistische Darstellung der Geschehnisse von Durban, mit der wir bezichtigt werden, uns irgendwie am Antisemitismus mitschuldig gemacht zu haben, die Wirklichkeit völlig auf den Kopf stellt.

SB: Wie erklären Sie sich diese Bezichtigung? Glauben Sie, daß sie mit Ihrer Kritik am Verhalten des israelischen Militärs während der "Operation gegossenes Blei" im Gazastreifen im Dezember 2008 und Januar 2009 zu tun hat?

RB: Nein. Es gab sie schon länger und hat weniger als sechs Monate nach dem Ende der Antirassismuskonferenz in Durban begonnen. Tatsache ist, daß es eine Menge widerlicher antisemitischer Ausdrucksformen auf dem NGO-Forum seitens einiger arabischer NGOs oder einfach seitens Einzelpersonen gegeben hat. Ich meine, es war ein sehr großes Forum; die Menschen waren sich nicht notwendigerweise darüber im klaren, was in anderen Diskussionen und Workshops vor sich ging. Und es ist nicht die Aufgabe von Human Rights Watch, die Äußerungen von anderen zu kontrollieren.

SB: Wo ziehen Sie die Linie zwischen dem Antisemitismus und der Kritik an Israel als einem kriegführenden Staat?

RB: Das ist eine andere Frage. Ich meine, auf dem NGO-Forum waren zum Beispiel Cartoons im Umlauf, in denen klassische jüdische Stereotype reproduziert wurden. Das ist für mich Antisemitismus.

SB: Natürlich.

RB: Kritik an Israel oder Israel des Genozids zu beschuldigen, ist nicht zwingend antisemitisch. Der Antisemitismus könnte als Motiv hinter einer solchen Aussage stecken, sie ist aber für sich gesehen nicht antisemitisch. Wenn sie irgend etwas ist, dann ist sie faktisch falsch. Als ich mich im Namen von Human Rights Watch von der Abschlußerklärung des NGO-Forums distanziert habe, war eine meiner Aussagen, daß Israel Kriegsverbrechen begangen hat, aber keinen Genozid.

SB: Den Angriffen auf Ihre Organisation nach zu urteilen, war allein schon diese Aussage einigen Leuten zuviel.

RB: Unglücklicherweise gibt es Menschen, die nicht in der Lage sind, diese Unterscheidung zu treffen, und die jede Kritik an Israel sehr schlecht aufnehmen. Ich bin selbst Jude. Mein Vater war im Zweiten Weltkrieg in deutschen Arbeitslagern interniert. Ich denke also, daß ich mir der Empfindlichkeiten in diesem Bereich bewußt bin. Gleichzeitig jedoch glaube ich nicht, daß Sensibilität für das Thema des Antisemitismus bedeutet, daß man über von Israel begangene Vergehen hinwegsehen sollte.

Reed Brody mit einem SB-Redakteur
© 2009 by Schattenblick

SB: Inwieweit meinen Sie, hat Barack Obama durch die Anordnung, das Gefängnis in Guantánamo Bay und die geheimen "black sites" der CIA im Ausland zu schließen, sowie den Plan, Khalid Sheikh Mohammed, dem mutmaßlichen "Drahtzieher" der Anschläge vom 11. September und fünf seiner angeblichen Komplizen vor einem Bundesgericht in New York den Prozeß zu machen, sein Versprechen erfüllt, die USA zurück zu den Prinzipien der Verfassung zu führen?

RB: Ich würde ihm die Note "befriedigend" geben, aber nicht viel mehr. Zugegeben, er hat Amerika vor dem Abgrund bewahrt, konnte aber nicht den Makel beseitigen, den die Rechtsbrüche der Bush-Ära hinterlassen haben. Die Anordnung des Präsidenten zum Verbot von Folter sowie die Entscheidung, über KSM vor einem Bundesgericht zu verhandeln, sind durchaus begrüßenswerte Schritte. Das gilt aber nicht für den Beschluß, anderen - einschließlich des jungen Kanadiers Omar Khadr, der zur Zeit seiner Verhaftung 2002 in Afghanistan gerade erst 15 Jahre alt war -, vor Militärtribunalen den Prozeß zu machen, wie verbessert auch immer die Verfahrensweisen und die Regeln für die Beweisführung sein mögen.

SB: In diesem Zusammenhang wurde der Obama-Administration der Vorwurf der Willkür gemacht. Was halten Sie davon?

RB: Die Regierung vertritt den Standpunkt, daß der 11. September ein terroristischer Anschlag auf zivile Ziele war, während es sich bei den Fällen, die vor Militärtribunalen verhandelt werden, um Anschläge auf militärische Ziele handelt, wie den im Jahr 2000 auf die USS Cole. Persönlich bin ich der Ansicht, Obama hätte ganz konsequent sein und auch die Militärtribunale aufheben sollen. Die USA haben ein gutes Rechtssystem, das sehr wohl in der Lage ist, mit jeder Art von Verbrechen einschließlich Terroranschlägen mit einer Unzahl von Opfern fertigzuwerden. Die größte Enttäuschung in Zusammenhang mit Obamas Präsidentschaft bereitet mir aber das Versäumnis, die von der Bush-Administration begangenen Verbrechen tatsächlich zu untersuchen.

SB: Worauf beziehen Sie sich jetzt genau?

RB: Ich spreche von Folter, dem Verschwinden von Menschen, von außerordentlichen Überstellungen ...

SB: ... vom Angriffskrieg?

RB: Lassen Sie mich das so sagen: Das übersteigt unseren Auftrag. Leider gibt es derzeit kein Gericht, vor dem man über Angriffskriege verhandeln könnte. Aber das lasse ich jetzt einmal beiseite. Sollten die Vereinigten Staaten die Schuld an den Verbrechen, die zur Zeit der Bush-Regierung begangen wurden, tatsächlich zurückweisen, dann müssen die Urheber jener Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden. Bis heute bekleideten die wenigen, die man aufgrund der Mißhandlung von Häftlingen zur Verantwortung gezogen hat, untere Ränge: die Lynndie Englands und Charles Graners dieser Welt. Der neue Justizminister, Eric Holder, hat in einigen Fällen eine Untersuchung angeordnet, bei denen es so aussieht, als wären CIA-Agenten über die Vernehmungsmethoden, die von der Bush-Regierung erlaubt waren, hinausgegangen. Das eigentliche Verbrechen war die Erteilung der Erlaubnis.

SB: Stimmt.

RB: In einem Bericht mit dem Titel "Getting away with Torture" ["Unbehelligt foltern"], den ich 2005 geschrieben habe, forderten wir die Einleitung von Ermittlungen gegen den damaligen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und den damaligen CIA-Direktor George Tenet, ebenso gegen den früheren Oberkommandierenden der US-Streitkräfte im Irak, Generalleutnant Ricardo Sanchez, und Generalmajor Geoffrey Miller, der anfänglich für Camp X-Ray in Guantánamo verantwortlich war und später in den Irak versetzt wurde, um die Befragungen in Abu Ghraib zu "gitmoisieren" [das Wort "gitmo" ist in der militärischen Umgangssprache die Kurzform für Guantánamo Bay]. Nach allem, was wir derzeit wissen, müßten die Untersuchungen auch auf höhere Ränge ausgedehnt werden und Bush und seinen damaligen Vizepräsidenten Dick Cheney mit einschließen. Zweifelsohne sollte man alle, die die geheime Haft, außerordentliche Überstellungen und Folter gebilligt haben, vor Gericht bringen.

SB: In den letzten Jahren haben Sie in der HRW-Geschäftsstelle in Brüssel gearbeitet. Was denken Sie über die Rolle von Amerikas europäischen NATO-Alliierten bei dem ganzen Themenkomplex?

RB: Da gibt es eine ganze Reihe von Fragen. Eine wäre die Mittäterschaft bei der Durchführung von außerordentlichen Überstellungen und der Einrichtung von Geheimgefängnissen. Inzwischen wissen wir, daß während der Ära von Bush junior in mindestens drei europäischen Ländern - Rumänien, Polen und Slowenien - geheime Haftzentren existiert haben, in denen aller Wahrscheinlichkeit nach Gefangene gefoltert wurden. Gegen Personen, die als Mitglieder der entsprechenden europäischen Regierungen an diesen Verbrechen beteiligt waren, sollte ermittelt werden. Auch gegen einzelne, die möglicherweise bei den außerordentlichen Überstellungen geholfen haben, sollten Untersuchungen eingeleitet werden, sei es nun in Deutschland wie im Fall von Khaled Al Masri oder in Großbritannien wie im Fall von Binyam Mohamed und anderen. Wenn sich Europa in dieser Sache reinwaschen will, müssen diese Vorfälle untersucht werden. Es müssen Maßnahmen ergriffen und Verfahrensweisen festgelegt werden, damit sich die Europäer nicht nochmal hinters Licht führen lassen können. Offensichtlich gab es einige Regierungen, die den Vereinigten Staaten im Grunde erlaubt haben, in Europa Amok zu laufen. Es reicht also nicht, mit dem Finger auf die Bush-Administration zu zeigen, man muß auch die Rolle berücksichtigen, die Europa bei dem ganzen gespielt hat.

SB: Sie haben die Entscheidung von Barack Obama und Eric Holder, KSM, Ramsi Binalshibh sowie vier weitere vermeintliche Mitverschwörer der Anschläge vom 11. September vor Gericht zu bringen, als einen begrüßenswerten Schritt bezeichnet. Aber ist das nicht gleichermaßen paradox? Erstens haben diese Männer kaum eine Chance auf ein faires Verfahren in New York, und zweitens wurde ein Großteil der Aussagen, die gegen sie verwendet werden könnten, durch Folter erzwungen. Läuft es nicht im wesentlichen auf einen Schauprozeß hinaus?

RB: Bundesgerichte in den USA dürfen keine Aussagen zulassen, die durch Folter erzwungen wurden. Das ist meiner Meinung nach einer der Gründe, warum diese Fälle vor Bundesgerichten verhandelt werden müssen. So wie ich das sehe, gibt es ausreichendes Belastungsmaterial gegen KSM, so daß kein Bedarf an durch Folter gewonnenen Aussagen besteht. Allein die Tatsache, daß KSM - wie festzustehen scheint - gefoltert wurde, bedeutet nicht, daß man das Verfahren automatisch einstellen müßte. Es heißt nur, daß die Beweismittel, die man gewonnen hat, indem man ihn oder andere folterte, nicht verwendet werden dürfen. Jemand hat mir gestern erzählt, daß Obama gesagt habe: "Nun, er wird auf jeden Fall verurteilt und ..."

SB: Das hat er. Es geschah während eines Interviews mit ABC News, entweder als er in China oder in Südkorea war. Anscheinend, um sich gegen Anwürfe der republikanischen Rechten zu schützen, daß er gegenüber dem Terrorismus nachgiebig werde, meinte Obama, daß der Ärger und die Sicherheitsbedenken über die geplanten Zivilverfahren in New York nachlassen würden, sobald KSM "verurteilt ist und er die Todesstrafe erhalten hat". Als ihm bewußt wurde, was er da gesagt hatte, versuchte er unverzüglich, seinen Kommentar zurückzuziehen, indem er erklärte, daß er selbst ja nicht im Gerichtssaal sitzen werde und auch nicht versuche, im vorhinein zu verurteilen. Aber der Schaden war bereits entstanden. Binnen kurzem waren die Medien in den USA dabei, Obamas Vorverurteilung in Bezug auf den Ausgang des KSM- Verfahrens mit der Aussage Richard Nixons zu vergleichen, als sich dieser 1970 öffentlich von der Schuld von Charles Manson im Mordfall Sharon Tate überzeugt gab.

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RB: Amerikanische Gerichte sind vom Grundsatz her unabhängig. Wir werden also abwarten müssen, was passiert. Human Rights Watch ist unter allen Umständen gegen die Todesstrafe. Wir sind zwar entsetzt darüber, daß der Justizminister in diesen Fällen für die Todesstrafe plädiert, aber es kommt ganz bestimmt nicht überraschend.

SB: Es gibt weitere Bereiche, in denen Obama die Politik der Bush-Administration verteidigt hat, zum Beispiel in dem Verfahren von Binyam Mohamed und weiteren vier Opfern des CIA-Programms "außerordentlicher Überstellungen" gegen die Boeing-Tochter Jeppesen Dataplan. Eric Holder und Barack Obama versuchen vor einem Bundesgericht in San Francisco zu erreichen, daß die Klage in diesem Fall abgewiesen wird, indem sie sich auf das "Exekutivprivileg des Staates" berufen.

RB: Unglücklicherweise ist einer der Bereiche, in denen die Auseinandersetzungen in der Regierung in die falsche Richtung zu gehen scheinen, die Frage von Transparenz versus Geheimhaltung. Ich meine, wir haben erreicht, daß die vier sogenannten Foltermemos freigegeben wurden, obgleich Greg Craig, der Rechtsbeistand des Präsidenten, der dieser Tage das Weiße Haus verläßt, offensichtlich den Preis dafür zahlen mußte. Die Berufung auf Staatsgeheimnisse - sei es in dem Fall, den Sie erwähnt haben oder im Falle des kanadischen Telekommunikationsingenieurs Maher Arar, der 2002, als er über JFK [John F. Kennedy Airport, New York] von einer Geschäftsreise in Südafrika nach Hause zurückkehrte, nach Syrien verschleppt und dort gefoltert wurde - ist ganz einfach nicht kompatibel mit einer offenen Regierung und der Achtung der Menschenrechte. Daß Menschen nicht in der Lage sind, ihre Ansprüche auf Entschädigung geltend zu machen, weil das die Enthüllung von Staatsgeheimnissen zur Folge haben könnte, ist eine kafkaeske Situation ersten Ranges.

SB: Die Briten berufen sich auf dasselbe Argument, in ihrem Fall auf das Official Secrets Act, in Bezug auf mehrere ihrer eigenen Staatsbürger, die offenbar mit Wissen und/oder unter Mitarbeit des MI5 und des MI6 in Pakistan gefoltert wurden.

RB: Nun, es ist bedauerlich, daß die Briten das auch machen.

SB: Eine letzte Frage: Wie würden Sie auf den Vorwurf reagieren, daß Ihre Arbeit die Handlungen von Regierungen legitimiert, die Gesetze erlassen, die gegen die eigene Verfassung verstoßen?

RB: Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, daß wir ein solches Verhalten von Regierungen legitimieren?

SB: Mit Ihrer Menschenrechtsarbeit halten Sie demokratische Werte und Prinzipien hoch, während Sie das System als gegeben akzeptieren. In den USA sind antidemokratische Gesetze wie das Military Commissions Act [Gesetz zur Schaffung von Sondermilitärtribunalen] in Kraft getreten. Sie kooperieren also letztendlich mit demokratischen Regierungen, die die Menschenrechte beschneiden, ähnlich wie Sie versuchen mit Diktaturen zusammenzuarbeiten, in denen überhaupt keine humanitären Organisationen vertreten sind und eine deutliche Verbindung zwischen Macht und Unterdrückung besteht.

RB: Ich bin nicht sicher, ob ich Ihre Frage ganz verstehe. Wir sind eine nicht-politische Organisation oder versuchen zumindest, uns soweit wie möglich aus der Politik herauszuhalten. Ich glaube nicht, daß wir ...

SB: Um Ihnen ein anderes Beispiel zu geben: Nehmen Sie die Art und Weise, wie die NATO sich auf das Argument der humanitären Intervention berufen hat, um gegen Jugoslawien in den Krieg zu ziehen.

RB: Das läßt sich natürlich nicht bestreiten. Aber wenn Regierungen diesen oder jenen Bericht von Human Rights Watch zitieren, um einen Grund zu haben, Bomben abzuwerfen, ist das offensichtlich ihre Sache. Bei Human Rights Watch sind wir der Auffassung, daß die internationale Gemeinschaft im Falle eines Genozids oder ähnlicher Greueltaten verpflichtet ist, hineinzugehen und diese Verbrechen zu beenden, daß das aber auch das letzte Mittel ist, auf das man auf der Basis der Rechnung zurückgreift, daß der Schaden, der durch die Intervention verursacht wird, nicht größer sein wird als die Verbrechen, die bereits begangen wurden. Unglücklicherweise haben wir kein System mit einer neutralen Gruppe von Staaten wie Finnland und Schweden, deren Soldaten im Falle eines Genozids hineingehen, das Regime stürzen und dann eine wohlwollende Regierung einsetzen. Die Aufgabe von Human Rights Watch ist es, Menschenrechtsverletzungen festzustellen, wo auch immer sie geschehen, um damit auch die Täter zu nennen und bloßzustellen. Unglücklicherweise können Militärinterventionen unter humanitärem Vorwand stattfinden, wie wir es in der Vergangenheit zum Beispiel mit der Bush-Administration im Irak erlebt haben. Das ist nicht das, wofür wir eintreten.

Wir haben uns als Organisation dafür entschieden, keine Stellung dazu zu beziehen, ob der Rückgriff auf eine Militärintervention legitim ist, handele es sich nun um die Vereinigten Staaten im Irak und in Afghanistan oder um Israel in Gaza. Wir sind der Auffassung, daß wir unserer Rolle, menschliches Leid zu mindern, am besten gerecht werden können, wenn wir das Verhalten aller Konfliktparteien stets genauestens überprüfen. Tatsächlich waren wir in der Lage, die Vereinigten Staaten und andere dazu zu veranlassen, bestimmte Waffen nicht mehr einzusetzen und bestimmte Arten von Angriffen einzustellen. Wir haben beschlossen, daß wir unsere Rolle dann am effektivsten spielen, wenn wir nicht einer bestimmten Regierung sagen, daß ihre Soldaten nicht im Land X sein sollten, sondern wenn wir alle Seiten dazu anzuhalten, die Standards des Kriegsvölkerrechts einzuhalten.

SB: Reed Brody, wir bedanken uns für das Gespräch.

18. Dezember 2009