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INTERVIEW/007: Blancanieve Portocarrero, Botschafterin Venezuelas (SB)


Interview mit Dr. Blancanieve Portocarrero, Botschafterin der Bolivarischen Republik Venezuela in Deutschland, am 4. Februar 2009 in Berlin.


Die promovierte Juristin und Soziologin Dr. Blancanieve Portocarrero war von 1967 bis 1999 Professorin für Rechtswissenschaften an der Universität von Carabobo. Sie wurde 1999 in die Verfassungsgebende Nationalversammlung in Caracas gewählt und 2000 von Präsident Hugo Chávez mit dem Amt der Ministerin für Arbeit betraut. Zwei Jahre später übernahm sie die Leitung der Ständigen Vertretung ihres Landes bei den verschiedenen UN-Organisationen in Genf. Seit 1. März 2005 ist sie die Botschafterin Venezuelas in Berlin.

Am 4. Februar 2009 lud die Botschaft der Bolivarischen Republik Venezuela in Berlin zu einer Veranstaltung im Rahmen der Feiern zum zehnten Jahrestag der Bolivarischen Revolution ein. Die Redaktion Schattenblick nahm diese Gelegenheit gerne wahr, ihren Einblick in die Errungenschaften dieses Jahrzehnts gesellschaftlicher Entwicklung in dem lateinamerikanischen Land in einer persönlichen Begegnung zu vertiefen und publizistisch dazu beizutragen, der hierzulande vorherrschenden Desinformation mit den Mitteln der Richtigstellung und Aufklärung etwas entgegenzusetzen. Trotz ihrer Beanspruchung als Referentin des für denselben Abend vorgesehenen Vortrags nahm sich Frau Dr. Blancanieve Portocarrero am späten Nachmittag Zeit, unseren Redakteuren ein Interview zu geben, wofür wir ihr an dieser Stelle noch einmal danken möchten.

Botschafterin Dr. Blancanieve Portocarrero - © 2009 by Schattenblick

Botschafterin Dr. Blancanieve Portocarrero
© 2009 by Schattenblick


Schattenblick: Als Grund für die Verfassungsänderung hinsichtlich einer Verlängerung der Amtszeiten durch die Möglichkeit der Wiederwahl hat Präsident Hugo Chávez von faschistischen Umtrieben gesprochen. Sind darunter die Intervention von USAID im Bundesstaat Petare und die Infiltration kolumbianischer Paramilitärs in grenznahen Regionen sowie Schlägertrupps in Caracas nach der Novemberwahl zu verstehen? Können Sie das bestätigen und gingen die Angriffe noch darüber hinaus?

Blancanieve Portocarrero: Ich kann es weder bestätigen noch nicht bestätigen, aber es ist natürlich immer so, daß in diesen Prozessen solche Störungen auftreten. Man versucht immer, den revolutionären Prozeß zu stören, den jetzt das venezolanische Volk zu einer partizipativen Demokratie eingeschlagen hat.

SB: Eine gesellschaftliche Kraft, die immer wieder in Opposition zu Präsident Chávez auftritt, ist die Führung der katholischen Kirche. In Verbindung mit der anstehenden Volksbefragung hat sie dem Präsidenten vorgeworfen, er wolle auf illegitime Weise an der Macht bleiben. Wie aber sieht die Unterstützung der Revolution durch die Priester und Laien an der Basis aus? Vertritt die Kirchenführung alle Mitglieder oder spricht sie nur für sich?

BP: Die soziale Basis der Kirche akzeptiert und unterstützt natürlich die bolivarische Revolution, denn was der venezolanische Prozeß grundsätzlich anstrebt, steht ja nicht im Gegensatz zu dem, was auch die Kirche für die Armen und für alle Menschen darbringt, die der Hilfe bedürfen.

SB: Ein Grund, warum man es für notwendig hält, daß Präsident Chávez weiter im Amt bleibt, könnte das mangelnde Charisma anderer Führer der vereinigten Linken sein. So mußte die PSUV im letzten November einige schwere Niederlagen hinnehmen wie z. B. als bei der Bürgermeisterwahl in Caracas ihr Kandidat Aristobulo Istoris unterlag. Ist das nicht ein Schwachpunkt der Revolution, wenn sie nach zehn Jahren immer noch von einer Person abzuhängen scheint?

BP: In diesem Moment ist kein anderer da, der dieses Charisma hätte, wie es Präsident Chávez hat. Es geht ja nicht nur um den Präsidenten, es geht um die soziale Basis der Revolution, und wir haben im Moment niemanden, der ihn ersetzen könnte. Es gibt im Moment aber auch keinen anderen Vorschlag, der noch sozialer oder besser wäre als der bolivarische Prozeß. Dieser ist insgesamt gesehen das Wertvollste, was es im Moment gibt. Sicher werden sich andere Führer im Verlauf dieses lebendigen Prozesses herauskristallisieren und sie werden bestimmt nicht von den derzeit höheren Positionen herkommen, sondern von der Basis, von den jungen Menschen, die diesen Prozeß schon vom Jugendalter an gelebt haben. Daraus werden bestimmt neue Führer hervorgehen. Wesentlich an diesem demokratischen Prozeß ist, daß wir die Partizipation der Bürger anregen und die Selbstbestimmung fördern. Und diese Selbstbestimmung stimulieren wir natürlich in den verschiedenen Bereichen, in denen sich der einzelne Bürger bewegt, und das wird ein neues soziales Netzwerk hervorrufen, eine neue soziale Basis. Daraus wird dann wahrscheinlich nicht nur einer, sondern es werden viele Personen daraus hervorgehen, die Führungsqualitäten besitzen und die sich miteinander verbinden und daraus wird vielleicht eine ganz andere Art von Führung entstehen.

B. Portocarrero und ihre Assistentin G. Braun - © 2009 by Schattenblick

B. Portocarrero und ihre Assistentin G. Braun
© 2009 by Schattenblick


SB: In Verbindung mit Rückschlägen der PSUV bei den Novemberwahlen wird in einigen Fällen die These vertreten, daß die Kandidaten unter Korruptionsverdacht standen oder dem rechten Flügel der Partei zugeordnet wurden, was bei der Basis unattraktiv war. Was halten Sie von dieser These?

BP: Diese Prozesse, wie sie in Venezuela lebendig sind, müssen natürlich eine tiefe Ethik haben wie auch Ästhetik, also eine schöne Umgebung, eine saubere Umgebung. Das ist etwas, das auch den Frieden fördert, damit die Menschen in Ruhe leben, damit sie zufrieden leben. Und da sind so einige Dinge passiert, die nicht beachtet worden sind oder bei denen nicht richtig gehandelt worden ist. In Caracas, wo die Opposition gewonnen hat, war der Unterschied zu den offizielllen Kandidaten ja minimal. Zudem muß man sehen, daß die PSUV landesweit in 85 Prozent der Gemeinden gewonnen hat, also das ist ja die soziale Basis, an der der bolivarianische Prozeß ansetzt. Es ist natürlich auch Korruption vorgekommen, aber das ist eben auch Teil dieses Lernprozesses. Das muß man sich natürlich zu Herzen nehmen und dafür benutzen, daß der Prozeß immer mehr gesäubert wird, immer mehr zu etwas Gerechtem findet.

SB: Ein Vorwurf, der in den letzten Jahren gegen die Regierung erhoben wurde, lautete, sie habe zu wenig gegen die Kriminalität getan. In jüngerer Zeit sollen verstärkte Anstregungen auf diesem Gebiet unternommen worden sein. Wie sehen diese aus?

BP: Das ist ein Problem, das auch Präsident Chávez sehr beschäftigt. Deswegen sind diese sozialen Kontrollorgane geschaffen worden, um eine Besserung herbeizuführen. Und all diese verschiedenen Organe arbeiten daran, dafür Lösungen zu finden. Es handelt sich also um ein Problemfeld, das durchaus wahrgenommen wird, und man versucht, auf all den verschiedenen Ebenen Lösungen dafür zu finden. Doch obgleich diese Probleme existieren, sind sie doch insgesamt gesehen eher marginal. Man kann nicht sagen, daß Venezuela ein durchkriminalisiertes Land ist und daß dies den revolutionären Veränderungsprozeß gefährdet.

SB: Das sind ja auch Einwände, die hierzulande herausgepickt werden, weil man die Errungenschaften nicht darstellt, sondern nur die angeblichen Schwachpunkte herausgreift.

BP: Genau. Wenn man jetzt den Gewinn dieser zehn Jahre sieht, wenn man sieht, was alles geschafft worden ist, wenn man das einmal richtig ins Auge faßt, ist das andere relativ. Es existiert zwar, aber es ist sehr viel geschaffen worden und man ist auf dem besten Weg. Es verhält sich so, daß die Medien diese Dinge noch mehr aufbauschen und andere nicht berücksichtigen.

SB-Redakteur im Gespräch mit B. Portocarrero und G. Braun - © 2009 by Schattenblick

SB-Redakteur im Gespräch mit B. Portocarrero und G. Braun
© 2009 by Schattenblick


SB: Inwieweit hat der Fall des Ölpreises und der Rückgang der Einnahmen des Staatshaushaltes zu einer Kürzung der Sozialausgaben oder zu einer Änderung des Zeitplans hinsichtlich der Umsetzung der Revolution geführt?

BP: Während der Jahre, in denen der Ölpreis so hoch war, wurde dieses Geld auch benutzt, um verschiedene Fonds einzurichten, die ganz gezielt gefüllt wurden. Daher existiert jetzt eine große Anzahl von verschiedenen Fonds, die dafür benutzt werden, um diese Programme auch weiterhin zu finanzieren. Natürlich hat man in diesen zehn Jahren auch daran gearbeitet, eine Infrastruktur zu schaffen, die eine andere Art von Ökonomie ermöglicht und vor allen Dingen unabhängig macht vom Erdöl. Daher sagt man zu recht, daß Venezuela gegenwärtig im Grunde das krisenresistenteste Land ganz Südamerikas ist.

SB: Das bringt uns zu der nächsten Frage: Linke Kritiker des Chavismus sagen, daß die sogenannte Kogestion auf nichts anderes als eine formelle Mitbestimmung der Betriebe nach dem Primat des Kapitalismus wie hier in Deutschland hinausläuft, während von rechter Seite Chávez Klientelismus vorgeworfen wird. Wie würden Sie die Wirtschaftspolitik Ihrer Regierung beschreiben?

BP: Wir haben eine soziale Wirtschaft, während vor dem Prozeß eine hegemoniale Wirtschaftspolitik der großen Transnationalen, des großen Kapitals vorherrschte. Das gibt es heute nicht mehr. Gegenwärtig entwickeln wir eine gemischte Wirtschaftsform, in der das Kapital wieder in Gestalt sozialer Dienste in die Gesellschaft fließt. Das zum ersten. Zum zweiten arbeiten wir daran, ein produktives Netzwerk zu schaffen, das auf horizontaler Ebene greift: In Kooperativen, Genossenschaften, mittleren und kleinen Unternehmen und familiären Produktionseinheiten. Es ist jedoch nicht so, daß dabei die traditionellen großen Unternehmen wie die Erdölkonzerne vernächlässigt werden. Vielmehr wird beiden Raum zugestanden. Die kleinen Unternehmen werden gefördert, während auf der anderen Seite auch die großen Konzerne gehalten werden, jetzt aber unter ganz anderen Bedingungen als früher. In der Vergangenheit kam es zu Interventionen durch ausländische Firmen. Inzwischen hat sich die ganze Struktur geändert.

Wir glauben, wie Einstein gesagt hat, daß wir alle relativ wichtig sind. Wir haben alle eine räumliche Legitimität. Es existiert ein Raum der Legitimität in Gestalt des Austausches zwischen Genossenschaften, Kooperativen, mittleren und kleinen Unternehmen wie auch einen Rückfluß der Gewinne großer Firmen wie zum Beispiel der PDVSA im Ölsektor oder der großen Stahl- und Aluminiumgesellschaften in die soziale Struktur, so daß diese gefördert und ausgebaut wird. Es geht darum, eine Wirtschaftsstruktur zu schaffen, die in sich tragfähig ist und in der es keinen politischen Klientelismus gibt.

Als die erste Verfassungsreform 2007 zur Abstimmung anstand, haben sich vier Millionen Venezolaner der Stimme enthalten und dieselben vier Millionen haben bei den letzten Wahlen Chávez und der PSUV ihre Stimme gegeben. Von einem Sieg der Opposition kann daher nicht die Rede sein. Es findet ein Wachstumsprozeß des kollektiven Bewußtseins statt, und wenn sich die Menschen nicht klar über die Alternativen sind, halten sie sich erstmal zurück. Das ist die Natur dieses Prozesses, der im Moment stattfindet. Der Vorwurf des Klientelismus ist haltlos.

SB: Eine letzte Frage: Seitens Israels und der USA wird in den letzten Jahren immer wieder behauptet, an der gemeinsamen Grenze von Argentinien, Paraguay und Brasilien existiere ein islamistisches Terrornetzwerk. Des weiteren behaupten Washington und Tel Aviv, in Venezuela gebe es Netzwerke von Hamas und Hizbollah. Könnten Sie bitte diese Verschwörungstheorien kommentieren?

BP: Das ist absoluter Humbug! In Venezuela gibt es keine terroristischen Zellen. Venezuela ist ein sehr friedliches Land, es ist ein solidarisches Land, es herrscht das Gefühl der Brüderlichkeit und des Kollektiven vor. Das Volk akzeptiert die Gewalt nicht, es lehnt sie ab.

SB: Aber vielleicht gibt es palästinensische oder libanesische Einwanderer, die Gelder an ihre Verwandten oder an karitative Einrichtungen im Nahen Osten schicken, was dann zur angeblichen Terrorunterstützung aufgebauscht wird?

BP: Es gibt nicht so viele Palästinenser, es gibt mehr Libanesen, aber wenn wir das mit anderen Einwanderern aus Spanien oder Italien vergleichen, ist es eine sehr kleine Gruppe. Diese Gemeinde hat sich sehr mit den Venzolanern verbunden, sie hat sich weitgehend integriert. Die Familien dieser verschiedenen Einwanderer sind fast alle herübergekommen, zunächst der Vater und dann kamen alle anderen nach. Es gibt eine große Gemeinde von Einwanderern, die jedoch im Grunde fast schon Venezolaner sind. Da sie schon längere Zeit im Land leben, sind sie bereits so weitgehend integriert, daß sie ein Teil des venezolanischen Volkes sind.

SB: Wir möchten uns herzlich bedanken, daß Sie sich die Zeit zu diesem Gespräch genommen haben.

Simón Bolívar - © 2009 by Schattenblick

Simón Bolívar
© 2009 by Schattenblick


9. Februar 2009