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NAHOST/1692: Libyen - Schutzverwerter Türkei ... (SB)


Libyen - Schutzverwerter Türkei ...


Im libyschen Bürgerkrieg verhärten sich die Fronten. Seit April versucht die sogenannte Libysche Nationalarmee (LNA) um "Feldmarschall" Khalifa Hifter, die im Namen des House of Representatives (HoR) im östlichen Tobruk handelt, vergeblich, die Hauptstadt Tripolis einzunehmen und die dort seit 2016 residierende, von den Vereinten Nationen anerkannte Regierung der Nationalen Einheit (Government of National Accord - GNA) um Premierminister Fayiz Al Sarradsch zu stürzen. Vor wenigen Tagen hat Hifter eine deutliche Eskalation der Kämpfe zur Niederwerfung der mit der GNA verbündeten Milizen angekündigt und damit ein baldiges Ende des Ringens um die Macht in Libyen zumindest in Aussicht gestellt. Daraufhin hat jedoch die GNA am 28. November mit der Türkei ein umfassendes Militärabkommen geschlossen, das Ankara die Stationierung und den Einsatz von Truppen, Kampfjets, Kriegsschiffen et cetera erlaubt. Die Chancen, daß Hifters Truppen in den kommenden Tagen und Wochen die personell zweitgrößte Armee der NATO bezwingen, dürfte bei Null liegen.

Nur wenige Stunden danach haben Sarradschs Gegner in Tobruk auf die Bekanntgabe aus dem Amt des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan bezüglich einer Formalisierung der militärischen Zusammenarbeit zwischen Ankara und Tripolis mit Empörung reagiert. In einer Erklärung des außenpolitischen Ausschusses des HoR wurde die Vereinbarung zwischen Erdogan und Al Sarradsch als "Verteidigungspakt" verurteilt, der "nicht nur die nationale Sicherheit Libyens, sondern auch Sicherheit und Frieden im Mittelmeer bedroht". Für die Geldgeber und Rüstungslieferanten Hifters in Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Ägypten und Jordanien stellt die neue Entwicklung einen herben Rückschlag dar. Bereits 2017 ist die Türkei Katar im Streit mit den Saudis und den Emiratern beigesprungen und hat dort eine Invasion durch die rasche Verlegung eigener Soldaten an den Persischen Golf verhindert. Katar konnte zwar seine Unabhängigkeit bewahren, beherbergt aber inzwischen 5000 türkische Soldaten und gilt seitdem quasi als Schlüsselelement bei der Realisierung von Erdogans neo-osmanischen Träumen.

Nach raschen Anfangserfolgen im Süden Libyens im Februar und März geriet die Großoffensive der LNA zur Eroberung des ganzen Landes im April ins Stocken, als sie zur Einnahme von Tripolis ansetzte. Heftige Gegenwehr unter anderem der mächtigen Miliz aus der Stadt Misurata bremste den Sturmangriff der LNA aus. Bereits im Mai trafen im Hafen von Tripolis die ersten Waffenlieferungen aus der Türkei für die GNA ein, darunter gepanzerte Mannschaftswagen und moderne Anti-Panzer-Raketen. Hinzu kommt der Einsatz türkischer Kampfdrohnen seitens der GNA-Verbände, die das Fehlen einer eigenen Luftstreitmacht wettmachen. Während am Südrand von Tripolis nicht so sehr regelrechte Schlachten, als vielmehr Scharmützel und Häuserkämpfe ausgetragen werden, tobt in der Luft über Libyen aus militärgeschichtlicher Sicht der erste Drohnenkrieg, bei dem auf beiden Seiten unbemannte Flugzeuge Späh- und Angriffsmissionen ausführen.

Die Emirater nehmen von den Luftwaffenstützpunkten Dschufra und Al-Khadim im Osten Libyens aus mit Kampfjets vom Typ Mirage sowie mit chinesischen Kampfdrohnen vom Typ Wing Loong, die rund 1,5 Millionen Dollar kosten und damit zehnmal billiger als das US-amerikanische Konkurrenzprodukt Reaper sind, an der Auseinandersetzung um Tripolis teil. In einem Artikel, der am 27. November im Londoner Guardian zum Thema Libyen als Schauplatz einer beängstigenden Revolution in der Militärtechnologie erschienen ist, hieß es, hinter dem Raketenangriff auf eine Bürgerversammlung, der im August in Südlibyen mindestens 45 Menschen das Leben kostete, werde der Einsatz einer emiratischen Drohne vermutet. Möglicherweise gilt dies auch für den aufsehenerregenden Luftangriff auf ein Flüchtlingslager bei Tripolis im Juli, bei dem 44 Insassen getötet und weitere 130 schwer verletzt wurden.

Laut Angaben der Vereinten Nationen sind seit Beginn der LNA-Offensive im Frühjahr mehr als 1000 Menschen gewaltsam ums Leben gekommen und mehr als 120.000 zu Binnenflüchtlingen gemacht worden. In nächster Zeit dürften diese Zahlen weiter steigen. Berichten unter anderem der New York Times zufolge hat Rußland 200 Söldner nach Libyen geschickt, die im Auftrag der Wagner-Gruppe hauptsächlich als Scharfschützen für die Hifter-Armee kämpfen. Laut einem Bericht der Vereinten Nationen, der Anfang November erschienen ist, hat bereits im Juli die Regierung in Khartum 1000 Mitglieder der berüchtigten sudanesischen Miliz Rapid Support Forces (RSF), die sich in der Vergangenheit vor allem durch Greueltaten und Massaker in der Region Darfur hervorgetan hat, zur Stärkung der LNA nach Libyen entsandt.

Am 19. November meldete die New York Times, die CIA habe Ende September mit einer Reihe von Drohnenangriffen, die von einem Militärstützpunkt im Nachbarland Niger aus auf Ziele in Südlibyen durchgeführt wurden, 43 Kämpfer des Islamischen Staats (IS) getötet und damit rund ein Drittel der Mitgliedschaft des libyschen Ablegers der internationalen "Terrormiliz" liquidiert. Im Gegenzug reklamiert der IS für sich, den Absturz zweier Militärhubschrauber in Mali am 25. November herbeigeführt zu haben, der 13 französische Soldaten das Leben kostete. Am 27. November meldete die Nachrichtenagentur Reuters, Hifters LNA habe im Südosten Libyens eindringende Truppen aus dem Tschad, die vorübergehend das Ölfeld El Fil besetzt hätten, vertrieben. Mit dem gewaltsamen Sturz Muammar Gaddhafis 2011 hat die NATO einen Brand entfacht, der die Region zwischen libyscher Mittelmeerküste und Sahelzone inzwischen fest im Griff hat und von dem alle ausländischen Akteure, darunter auch die Türkei, ihren Nutzen in Form der Gewinnung von Kampferfahrung seitens der eigenen Spezialstreitkräfte, der Erprobung neuer Rüstungstechnologie, des Ausweidens von Flüchtlingen für den Organhandel sowie des Absteckens von Claims auf den Öl- und Gasfeldern Libyens zu ziehen trachten.

30. November 2019


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