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NAHOST/1595: Irak - Es kann der Beste nicht in Frieden leben ... (SB)


Irak - Es kann der Beste nicht in Frieden leben ...


Bei den Wahlen zum 329sitzigen Parlament im Irak, die am 12. Mai im gesamten Zweistromland stattfanden, ist es zu einer deutlichen Verschiebung der politischen Landschaft gekommen. Erstmals seit dem Sturz Saddam Husseins 2003 haben sich zahlreiche sunnitische und schiitische Wähler bei einer Parlamentswahl nicht von der konfessionellen Zugehörigkeit leiten lassen und statt dessen für Kandidaten und Gruppierungen votiert, die einen säkularen Staat befürworten. Größter Profiteur dieser Entwicklung ist der einstige "Radikalprediger" Muktada Al Sadr, dessen schiitische Al-Ahrar-Partei mit den irakischen Kommunisten und einigen kleineren säkularen Gruppierungen das Wahlbündnis "Allianz der Revolutionäre für Reform", das auch "Al Sairun" ("Die Marschierer") genannt wird, gegründet hatte. Dieser Block geht nach vorläufigem Ergebnis als stärkste Kraft aus dem Urnengang hervor.

Der 1973 geborene Al Sadr entspringt einer berühmten schiitisch-irakischen Prediger-Familie und gilt als großes Idol der armen schiitischen Massen in Bagdad. In den Nullerjahren hat Al Sadrs "Mahdi-Armee" die amerikanischen und britischen Besatzungstruppen heftigst bekämpft. Um selbst keinem Attentat zum Opfer zu fallen, setzte sich Al Sadr 2008 in den Iran ab und hat dort in der Pilgerstadt Qom seine theologische Ausbildung zum Ajatollah abgeschlossen. Erst als die Amerikaner 2011 den Irak verließen, weil sich die Regierung in Bagdad weigerte, ein Stationierungsabkommen nach den Vorstellungen des Pentagons zu unterzeichnen, kehrte er in die Heimat zurück. Dort tat er sich als Kritiker jener schiitischen Politikerkaste - hier ist vor allem Premierminister Nuri Al Maliki zu nennen - hervor, deren Selbstbedienungsmentalität die wirtschaftliche Erholung des Iraks unmöglich machte.

2011 ließ Al Maliki die Massenproteste der Sunniten, die mehr Mitbestimmung und eine gerechtere Ressourcenverteilung forderten, von Armee und Polizei brutal niederschlagen. Damit trieb er viele junge sunnitische Männer in die Arme der "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS), die im Frühsommer 2014 im Sturm weite Teile des Landes, darunter Mossul, die zweitgrößte Stadt des Iraks und Hauptstadt der Provinz Ninawa, eroberte und die Nationalarmee in die Flucht schlug. Die Einnahme von Bagdad konnte nur dadurch verhindert werden, daß Großajatollah Ali Al Sistani, der höchste schiitische Geistliche des Iraks, alle wehrfähigen Männer an die Waffen rief. Es kam zur Bildung der sogenannten Volksmobilisierungskräfte, die mehrheitlich, aber nicht ausschließlich aus Schiiten bestanden. Der teheran-nahe Al Maliki wurde abgesetzt und als Premierminister durch einen Kollegen aus der eigenen schiitischen Dawa-Partei, den pro-westlichen Haider Al Abadi, ausgetauscht. Gemeinsam starteten Armee und Volksverteidigungskräfte mit Hilfe iranischer Militärberater sowie amerikanischer Spezialstreitkräfte eine Großoffensive gegen den IS, die erst im Juli 2017 mit der Rückeroberung Mossuls ihr Ende fand.

Noch während der Kampf gegen den IS tobte, intrigierte in Bagdad Al Maliki, der sich inzwischen den Posten des Vizepräsidenten verschafft hatte, gegen Abadi und brachte dessen Reformbemühungen zum Scheitern. Aus Frustration über die politische Blockade ließ Al Sadr im Frühjahr 2016 das Regierungsviertel im Herzen Bagdads, die schwerbewachte sogenannte Grüne Zone, von Tausenden seiner Anhänger erstürmen und zwei Wochen lang friedlich besetzen. Schlußendlich hat sich Al Sadr jedoch mit seiner damaligen Forderung nach der Einsetzung einer parteiabhängigen Technokraten-Regierung nicht durchsetzen können.

Seit der Rückeroberung von Mossul macht sich Al Sadr für den Abzug aller ausländischen Streitkräfte - sowohl amerikanischer als auch iranischer - aus dem Irak stark. Um seine Unabhängigkeit vom schiitischen Iran zu demonstrieren, besuchte Al Sadr im August 2017 Saudi-Arabien, traf sich in Dschiddah mit dem mächtigen Kronprinzen Muhammad Bin Salman und sprach mit diesem über einen Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen und ein stärkeres Engagement Riads beim Wiederaufbau des Iraks. Anfang 2018 hat Al Sadr das Wahlbündnis mit der Kommunistischen Partei des Iraks beschlossen. Im Nachbarland Iran kam der Schritt nicht gut an. Noch im April erklärte der ehemalige iranische Außenminister Ali Akbar Velayati, der als enger Vertrauter vom Obersten Führer Ajatollah Ali Khamenei gilt, bei einem Besuch in Bagdad, daß eine Beteiligung der Kommunisten an der irakischen Regierung für Teheran "inakzeptabel" wäre.

Rückendeckung erhielt Al Sadr jedoch von Al Sistani, der seit langem der iranischen Einmischung in die irakische Innenpolitik ablehnend gegenübersteht. In einer Predigt wenige Wochen vor der Wahl empfahl Al Sistani, die irakischen Bürger sollten den Politikern und Parteien, die in den letzten mehr als zehn Jahren durch Korruption und Unfähigkeit das Land ruiniert hätten, keine Stimme geben. Darüber hinaus rief er die Menschen ausdrücklich dazu auf, nicht nach konfessionellen Kriterien, sondern unabhängig davon die ihrer Meinung nach geeignetsten Kandidaten zu wählen. Sistanis Aufforderung, die alten Gesichter abzustrafen und neuen Kräften eine Chance zu geben, scheint auf Gehör gestoßen zu sein. Al Sadrs Reformbewegung hat die meisten Stimmen erhalten, gefolgt von der Koalition Al Fatih (Eroberer), die von einstigen Kommandeuren der Volksmobilisierungskräfte wie Haidi Al Ameri angeführt wird. An dritter Stelle landete Premierminister Al Abadis Wahlbündnis Nasr Al Iraq (Irakischer Sieg), während die schiitische Badr-Partei und Al Malikis Wahlvehikel Rechtsstaat weit abgeschlagen zurücklagen.

Nun haben Iraks Politiker 60 Tage, um eine neue Regierung zu bilden. Ob sich Al Sadr, der selbst für das Parlament nicht kandidierte und deshalb nur aus dem Hintergrund agiert, und Al Ameri auf eine politische Zusammenarbeit einigen können, ist ungewiß. Beide Männer haben sich die Korruptionsbekämpfung und eine Verbesserung der Lebensverhältnisse gerade bei den Minderprivilegierten auf die Fahne geschrieben. Al Ameri, dessen Milizionäre beim Kampf gegen den IS Hilfe von der iranischen Revolutionsgarde erhielt, gilt als iran-freundlich. Hinzu kommt, daß Al Sadr die Auflösung der Volksmobilisierungskräfte bei gleichzeitiger Stärkung der irakischen Streitkräfte befürwortet.

Überschattet wird die politische Lage im Irak von der Konfrontation zwischen dem Iran und den USA, die sich aktuell durch Donald Trumps Abkehr von dem Atomabkommen mit Teheran und den anhaltenden Krieg in Syrien zunehmend verschärft. Auch wenn sich Al Sadr dem seines Erachtens zu starken politischen Einfluß des Irans im Irak widersetzt, so heißt das noch lange nicht, daß er die Einmischung des Westens im Nahen Osten wortlos hinzunehmen bereit ist. Anfang April, als die USA, Frankreich und Großbritannien Ziele der Syrischen Arabischen Armee (SAA) wegen des vermeintlichen Einsatzes von chemischen Waffen mit Raketen attackierten, gingen Al Sadr und seine Anhänger zu Tausenden auf die Straße in Bagdad, Kerbala, Basra und anderen irakischen Städten, um dagegen zu protestieren. Wenn es nach Al Sadr geht, soll der Irak kein Spielball ausländischer Mächte mehr, sondern wieder ein unabhängiger, souveräner Staat sein. Wie Teheran und Washington auf die Neumischung der politischen Karten in Bagdad reagieren, muß sich noch zeigen.

14. Mai 2018


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