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NAHOST/1346: Ruft Abbas den Internationalen Strafgerichtshof an? (SB)


Ruft Abbas den Internationalen Strafgerichtshof an?

Versöhnung zwischen Fatah und Hamas muß sich noch beweisen



Mehr als eine Woche nach dem Ende der israelischen Militäroperation Protective Edge, die mehr als 2.000 Gazabewohnern, rund 80 Prozent von ihnen Zivilisten, darunter viele Frauen und Kinder, das Leben kostete, sieht die Lage für die Palästinenser desolat aus. In Gaza herrscht eine humanitäre Notlage. Dort wurden neben weiten Teilen der Infrastruktur auch rund 25.000 Wohnungen zerstört. Hunderttausende Menschen sind obdachlos geworden und leben derzeit in Zelten, Schulen oder in den Trümmern ihrer früheren Behausungen. Die medizinische Versorgung Zehntausender Verletzter, von denen viele durch Explosionen und Einschlägen zu Krüppeln gemacht wurden, ist katastrophal. Erschwerend kommt hinzu, daß mit dem Wiederaufbau noch nicht begonnen werden konnte, weil Israel und Ägypten die Grenzübergänge weiterhin geschlossen halten. Die Verhandlungen, die auf die Vereinbarung einer unbefristeten Waffenruhe am 26. August erfolgen sollten, fanden bisher nicht statt.

Experten gehen davon aus, daß es zwanzig Jahre dauern und mindestens sechs Milliarden Dollar kosten wird, Gaza bautechnisch in den Stand von vor dem 8. Juli 2014 zu setzen; so groß ist die Zerstörung, die 50.000 Tonnen israelischer Bomben, Raketen und Artilleriegeschosse angerichtet haben. Nach dem Motto, wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen, verlangt nun Israels Regierung, daß die eigene Bauindustrie am großen Wiederaufbauprojekt in Gaza beteiligt wird. Schließlich hat die Aggression der israelischen Wirtschaft schwer geschadet. Die Kosten der Militäroperation werden mit neun Milliarden Dollar angegeben. Das sind 64 Prozent des jährlichen israelischen Wehretats von 14 Milliarden Dollar bzw. das Dreifache der jährlichen Subventionen aus den USA. Vermutlich um sich vor dem Vorwurf zu schützen, die Gaza-Offensive habe zuviel gekostet und zu wenig erreicht - bis zum Schluß feuerte die Hamas Raketen Richtung Israel ab -, hat Premierminister Benjamin Netanjahu am 1. September die Beschlagnahmung von 480 Hektar Land im besetzten Westjordanland - südlich von Jerusalem, nahe Bethlehem - zum Zwecke der Errichtung weiterer jüdischer Siedlungen bekanntgegeben.

Die selbstherrliche Entscheidung Netanjahus ist ein weiterer schwerer Affront gegenüber Mahmud Abbas. Bereits im Frühjahr hatte sich der palästinensische Präsident wegen des fortgesetzten israelischen Siedlungsbaus veranlaßt gesehen, die Nahost-Verhandlungen unter der Schirmherrschaft John Kerrys aufzukündigen und der Versöhnung zwischen seiner Fatah-Bewegung und der Hamas einschließlich der Bildung einer Einheitsregierung für das Westjordanland und den Gazastreifen zuzustimmen. Daraufhin hatte Netanjahu Abbas vorgeworfen, mit "Terroristen" zu paktieren. Man geht davon aus, daß sich hinter der großangelegten Suche nach drei entführten Thora-Studenten im Westjordanland im Juni, die mit der Verhaftung Hunderter Hamas-Mitglieder einherging, die Absicht Israels verbarg, die palästinensische Einheitsfront zu zerschlagen. (Nur wenige Tage nach der Entdeckung der Leichen der drei Vermißten begann die Militäroperation gegen Gaza.)

Sollte das der Fall gewesen sein, dann ist die Rechnung Israels nicht aufgegangen. Trotz allen Leids hat Hamas wegen ihrer Inanspruchnahme des legitimen Widerstandsrechts der Palästinenser in den vergangenen Wochen deutlich an Popularität gewonnen - und zwar nicht nur in Gaza, sondern auch auf der Westbank. Laut einer Umfrage, deren Ergebnis am 2. September von der Nachrichtenagentur Associated Press veröffentlicht wurde, würde Ismail Haniyeh, der Chef der Hamas in Gaza, heute bei einer Präsidentenwahl in Palästina 61 Prozent der Stimmen erhalten, Abbas dagegen nur 32 Prozent. Noch im Juni lag Abbas in den Popularitätswerten bei 53 Prozentpunkten, Haniyeh bei 41 Prozent. Aus der Umfrage geht zudem hervor, daß eine deutliche Mehrheit von 72 Prozent der Palästinenser auch die Ergreifung militärischer Maßnahmen gegen Israel im Westjordanland befürwortet - und damit den Verhandlungsweg von Abbas und der PLO für gescheitert hält. 79 Prozent der Befragten waren der Meinung, daß Hamas aus dem jüngsten Konflikt mit Israel als Sieger hervorgegangen sei, während 86 Prozent die Wiederaufnahme von Raketenangriffen gutheißen würde, sollte Israel nicht bald die Blockade des Gazastreifens aufheben.

Angesichts der veränderten politischen Lage ist Abbas seitens der eigenen Landsleute unter enormen Druck geraten, den Beitrittsantrag Palästinas zum Internationalen Strafgerichtshof zu unterzeichnen. Doch er zögert, weil er weiß, daß Israel mit drakonischen Maßnahmen reagieren wird, die auch für ihn persönlich negative Konsequenzen wie die Einschränkung der Reisefreiheit und die Sperrung von ausländischen Hilfsgeldern, aus denen die Gehälter aller Bediensteten der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) bezahlt werden, haben könnten. Nichtsdestotrotz will Abbas bei der bevorstehenden Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York den Sicherheitsrat förmlich darum bitten, für eine Freigabe der besetzten Gebiete und einen Rückzug Israels hinter den Grenzen von 1967 innerhalb von drei Jahren zu sorgen. In dem Zusammenhang will er auch den Beitritt Palästinas zum Internationalen Strafgerichtshof beantragen. Darüber hat Hanan Ashrawi vom PLO-Vorstand die amerikanische UN-Botschafterin Samantha Power bei einem Besuch in New York am 2. September in Kenntnis gesetzt.

Über die Pläne von Abbas, die für Mitglieder des Netanjahu-Kabinetts und israelische Offiziere zu höchst peinlichen Anklagen wegen Kriegsverbrechen führen könnten, ist in Washington und Tel Aviv niemand glücklich. Doch gleichzeitig weiß offenbar weder in der amerikanischen noch in der israelischen Regierung jemand, wie sich die Umsetzung jener Pläne noch verhindern ließe. Von den ständigen Drohungen Netanjahus, Abbas müsse sich zwischen der Zusammenarbeit mit Israel oder den "Terroristen" von der Hamas entscheiden, zeigt sich der palästinensische Präsident bislang unbeeindruckt. Dennoch werden die USA und Israel in den nächsten Wochen vermutlich alle Hebel in Bewegung setzen, um Fatah und Hamas auseinanderzudividieren und Abbas und die Führungsriege in Ramallah wieder auf Beschwichtigungskurs zu bringen.

Auch wenn die Militäroffensive in Gaza, die von brutalen Repressionsmaßnahmen der Israelis im Westjordanland begleitet wurde, die Palästinenser zusammengeschweißt hat, so stehen sich Fatah und Hamas immer noch höchst mißtrauisch gegenüber. Dies zeigt der explosive Streit, zu dem es beim Treffen im August in Doha zwischen Abbas und Hamas-Chef Chalid Meschal gekommen sein soll. Wie die linksgerichtete panarabische Zeitung Al Akhbar am 1. September berichtete, soll Abbas im Beisein des Emirs von Katar, Tamim bin Hamad bin Khalifa Al Thani, die Vertreter der Hamas bezichtigt haben, einen Putsch gegen die PA im Westjordanland vorbereitet und zudem trotz aller Dementis die Entführung der drei Jugendlichen aus einer jüdischen Siedlung bei Hebron durchgeführt zu haben. Meschal soll alles abgestritten und seinerseits Abbas bezichtigt haben, den Desinformationen des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Beth auf den Leim gegangen zu sein. Mit einem Aufruf zur Einheit seitens Saeb Erekat, seit Jahren palästinensischer Chefunterhändler bei den Verhandlungen mit Israel, soll die bissig geführte Diskussion zu Ende gegangen sein.

4. September 2014