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NAHOST/1337: Islamischer Staat setzt Offensive in Kurdistan fort (SB)


Islamischer Staat setzt Offensive in Kurdistan fort

Peschmergas, PYD und PKK bieten Al Baghdadis IS-Armee die Stirn



Während die Armee des Kalifats Islamischer Staat, die einstige "Terrortruppe" ISIS, die kleineren Städte südlich von Bagdad zu erobern versucht, um die irakische Hauptstadt vollständig zu umzingeln, weitet sie ihren Operationsradius an anderen Stellen weiter aus. Am 2. Juli marschierten islamistische Rebellen aus Syrien erstmals in den Libanon ein und besetzten die Grenzstadt Arsal. Seitdem liefern sich IS-Milizionäre dort mit der libanesischen Armee heftige Kämpfe. Es gibt Dutzende Tote und Verletzte auf beiden Seiten. Viele Zivilisten - darunter nicht wenige syrische Kriegsflüchtlinge - sind geflohen. Diejenigen Zivilpersonen, die Arsal nicht rechtzeitig verlassen konnten, versuchen im Kugel- und Granatenhagel zu überleben.

Ein Blick auf die aktuelle Landkarte [1] genügt, um das gewaltige territoriale Ausmaß des am 29. Juni von ISIS-Chef Abu Bakr Al Baghdadi ausgerufenen Kalifats zu erkennen. Unter IS-Kontrolle stehen der komplette Westen, weite Teile des Nordwestens und die Mitte des Iraks sowie fast die komplette Osthälfte Syriens. Das Territorium des Kalifats ist damit praktisch genauso groß wie dasjenige, das die Zentralregierung in Bagdad, also die komplette Südhälfte des Iraks, kontrolliert. Der Hoheitsbereich der Regierung von Baschar Al Assad erstreckt sich lediglich noch auf die Westhälfte Syriens von Damaskus bis zum Mittelmeer. Etwa genauso groß wie das Rumpfsyrien, wenn auch etwas verteilter, sind die Gebiete unter kurdischer Herrschaft im Norden und im Nordosten des Iraks sowie im Nordosten Syriens. Die kurdische Region verläuft im Norden entlang der Grenze zur Türkei und im Westen zum Iran. Gerade gegen die Kurden gehen die IS-Kämpfer nun verstärkt vor.

Seit Wochen versucht die IS-Armee die Städte Ain Al Arab und Kobani in der Provinz Aleppo, in der Mitte des syrischen Nordens, an der Grenze zur Türkei, zu erobern. Mit Einverständnis Assads unterliegen beide Städte der Kontrolle der kurdischen Partiyaq Yekitiya Demokrata (Partei der demokratischen Union - PYD), der syrischen Schwesterorganisation der PKK Abdullah Öcalans. Vor kurzem hatte die PKK Hunderte ihrer Mitglieder nach Ain Al Arab und Kobani geschickt, um den Volksverteidigungseinheiten (YPG), dem militärischen Arm der PYD, im Kampf gegen die IS-Rebellen unter die Arme zu greifen. Am 4. August berichtete die US-Zeitungsgruppe McClatchy von der Entsendung 6.000 türkischer PKK-Kämpfer in das irakische Kurdistan, wo sie den Peschmergas helfen sollten, sich der neuesten IS-Offensive zu widersetzen.

Anlaß zu der spektakulären PKK-Aktion war die Eroberung der beiden Städte Sindschar und Zumar in der nordwestirakischen Provinz Nineveh Anfang August, deren Hauptstadt Mossul inzwischen Hauptstadt des Islamischen Staates ist. Dort soll es zu schlimmsten Greueltaten gegen die Zivilbevölkerung gekommen sein. In Sindschar lebten größtenteils Jesiden, deren Religion auf den Zoroastrismus zurückgeht und die in den Augen der sunnitischen Fundamentalisten vom IS Ungläubige bzw. Teufelsanbeter sind. Berichten zufolge haben die IS-Milizionäre viele männliche Bewohner von Sindschar abgeschlachtet und die Frauen und Mädchen verschleppt. Letztere mußten zum Islam übertreten und sollen bei passender Gelegenheit mit irgendwelchen Mudschaheddin verkuppelt werden. Zehntausende Jesiden sind nun aus Angst um ihr Leben auf der Flucht vor dem IS. Einige haben sich in die Berge nahe der Grenze zu Syrien begeben, andere sind in das autonome irakische Kurdistan im Osten geflüchtet.

Inzwischen marschiert die IS-Armee weiter Richtung der mehrheitlich von Christen bewohnten Stadt Tel Keppe, die bisher von den Kämpfen in Nineveh verschont geblieben ist. Aus diesem Grund hat Massud Barsani, Präsident der Kurdischen Regionalregierung (Kurdish Regional Government - KRG) mit Sitz in Erbil, am 4. August 10.000 Peschmergas mobilisiert, die zusammen mit den Verbündeten von der PKK den Vormarsch des IS stoppen sollen. Am selben Tag erteilte Premierminister Nuri Al Maliki in Bagdad der irakischen Luftwaffe den Befehl, den kurdischen Peschmergas bei ihrer Gegenoffensive beizustehen. Barsani bat die USA unterdessen um Rüstungshilfe.

Die Hilfe scheint dringend notwendig zu sein, denn bei der Eroberung von Mossul hatten IS-Freiwillige große Mengen schwerer Waffen erbeutet. Im bereits erwähnten McClatchy-Artikel berichtet ein nicht namentlich genannter Peschmerga-Kommandeur, der IS-Einfall in Sindschar und Zumar sei so stürmisch erfolgt, daß man keine andere Option gehabt hätte, als den Rückzug anzutreten. "Sie kamen so schnell aus drei Richtungen, daß wir nicht in der Lage waren, schnell genug Verstärkung in Stellung zu bringen. Sie hatten schwere Maschinengewehre und Mörser, also konnten wir kaum etwas anderes machen, als uns zwecks eines Gegenangriffs umzugruppieren." Inzwischen sollen kurdische PYD-Einheiten aus Syrien die Grenze zum Irak überquert haben, um an der Seite der Peschmergas zu kämpfen, die nun ihrerseits mit Panzern und schwerer Artillerie gegen die IS-Kämpfer in Sindschar vorrücken. In der Sindschar-Region sollen in den letzten beiden Tagen Dutzende Kämpfer auf beiden Seiten gefallen sein.

Währenddessen versucht der IS, der laut einer Schätzung der Carnegie-Stiftung aus dem Verkauf fossiler Brennstoffe aus den ostsyrischen Öl- und Gasfeldern 50 Millionen Dollar monatlich verdienen soll, die beiden wichtigsten Staudämme des Iraks, den Mossul-Damm und den Haditha-Damm, zu besetzen. Sollte den Anhängern von Khalif Ibrahim - so der neue Titel Al Baghdadis - dies gelingen, hätte der Islamische Staat 70 Prozent der Stromproduktion des Iraks und das Trinkwasser von Millionen von Menschen unter seiner Kontrolle. Darum wollen die staatlichen syrischen Streitkräfte, unterstützt von schiitischen Milizionären, eine Verwirklichung des ambitionierten IS-Vorhabens mit aller Macht verhindern. Zu diesem Zweck hat Bagdad Washington und Teheran um Hilfe gebeten. Gut möglich, daß hier die Amerikaner, die gerade das Raketenarsenal Bagdads aufstocken, den Iranern personaltechnisch den Vortritt lassen werden, um der schiitisch-dominierten Islamischen Republik ihr eigenes "Vietnam" im Irak zu bescheren. Der Iran beteiligt sich schon seit längerem mit Militärberatern an den Bürgerkriegen in Syrien und im Irak. Es scheint als würde Teheran nicht um eine Erhöhung seines militärischen Einsatzes im Irak herumkommen, wenn er den Vormarsch des IS aufhalten und seinen Einfluß in Bagdad aufrechterhalten will.


Fußnote:

[1] http://en.wikipedia.org/wiki/File:Syria_and_Iraq_2014-onward_War_map.png

6. August 2014