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NAHOST/1287: Im Irak tobt wieder der Bürgerkrieg (SB)


Im Irak tobt wieder der Bürgerkrieg

Geistlicher Muktada Al Sadr tritt überraschend von der Politik ab



Elf Jahre nach dem gewaltsamen Sturz Saddam Husseins und zwei Jahre nach dem Abzug der letzten US-Kampftruppen bietet der Irak ein trostloses Bild. Der autonome kurdische Norden schließt Ölexportverträge mit den größten Energiekonzernen des Auslands ab und bewegt sich in Richtung Unabhängigkeit. Im restlichen Land ist der Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten wieder voll ausgebrochen. Die Unterdrückung der friedlichen Protestbewegung der Sunniten gegen ihre Diskriminierung durch die schiitisch-dominierte Regierung von Premierminister Nuri Al Maliki hat vor allem die Hauptstadt Bagdad und die Mitte des Landes in eine regelrechte Kriegszone verwandelt.

Im vergangenen Jahr sind im Irak rund 10.000 Zivilisten bei Bombenanschlägen und Überfällen von Aufständischen und Operationen der staatlichen Sicherheitskräfte ums Leben gekommen. Die Zahl der Menschen, die aus Angst um ihr Leben in den mehrheitlich von Sunniten bewohnten Provinzen Anbar und Nineveh auf der Flucht sind, geht laut den Vereinten Nationen in die Hunderttausende. Nach Angaben von Amnesty International wurden 2013 Tausende Menschen, die meisten von ihnen Sunniten, unter fadenscheinigen Gründen festgenommen; viele von ihnen sind im Gefängnis gefoltert, zum Tode oder zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Den Ernst der Lage läßt der Titel einer am 3. Februar auf der Website des renommierten Londoner Royal United Services Institute (RUSI) veröffentlichten Analyse aus der Feder des britischen Nahost-Experten Prof. Gareth Stansfield, "Iraq on the Edge of the Abyss" ("Der Irak am Rande des Abgrunds"), erahnen.

Zweifelsohne hat der seit Frühjahr 2011 in Syrien tobende Bürgerkrieg den Irak zusätzlich destabilisiert. Die rund 600 Kilometer lange Grenze zwischen Syrien und dem Irak verläuft zum größten Teil entlang der beiden bereits erwähnten, sunnitisch dominierten Provinzen Anbar und Nineveh. Die Grenzregion dort, die größtenteils aus Wüste bzw. Steppe besteht und sich, wenn überhaupt, nur schwer kontrollieren läßt, ist zum El Dorado für Waffenschmuggler geworden. Von hier aus reisen zahlreiche junge Sunniten und Schiiten des Iraks nach Syrien, um dort als Freiwillige für die Rebellen respektive an der Seite der libanesischen Hisb-Allah-Miliz für die staatlichen Streitkräfte zu kämpfen. Al Kaida im Irak (Al Qaeda in Iraq - AQI) hat sich mit dem Islamischem Staat im Irak und der Levante (ISIL) einen kompromißlosen Ableger in Syrien geschaffen. Die spektakuläre Brutalität der ISIL gegenüber gefangengenommenen Soldaten und Assad-Anhängern und ihre Weigerung, sich mit den anderen aufständischen Gruppen wie der Freien Syrischen Armee (FSA), Al Nusra oder der Islamischen Front zu arrangieren, hat vor wenigen Wochen sogar Aiman Al Zawahiri, Osama Bin Ladens Nachfolger als weltweit gesuchter "Topterrorist", dazu veranlaßt, sie offiziell aus der Al Kaida zu werfen.

Mit dem Argument, die AQI in Anbar und Nineveh ausrotten zu wollen, geht Premierminister Al Maliki dort mit großer Härte gegen alle vor, welche die Legitimität seiner Regierung in Frage stellen. Gleichzeitig ist es genau die Rücksichtslosigkeit Malikis im Umgang mit politischen Gegnern, die zur Entfremdung unter den irakischen Sunniten geführt hat. Die Unfähigkeit der Regierung in Bagdad, auf die friedliche Protestbewegung zuzugehen, hat die konfessionelle Konfrontation verschärft. Als Reaktion auf die Kriminalisierungspolitik der Behörden haben sich in den letzten zwei Jahren viele junge Sunniten den Aufständischen angeschlossen. Die wenigsten kämpfen für die AQI; die meisten sind irgendwelchen lokalen Milizen beigetreten. Solche Gruppen sind es, die Ende letzten Jahres die Kontrolle über die Städte Falludscha und Ramadi übernommen haben. Drei Monate nach Beginn des neuen Aufstands in Anbar reiste Al Maliki am 15. Februar zum ersten Mal in die Krisenprovinz. In der Nähe von Ramadi, die regierungsloyale sunnitische Milizen zusammen mit der irakischen Armee derzeit zurückzuerobern versuchen, stellte er 83 Millionen Dollar Wiederaufbauhilfe sowie militärische Ausbildung und Aufnahme in den regulären Sicherheitsapparat für die örtlichen Hilfssoldaten in Aussicht. Bis zu den bevorstehenden Parlamentswahlen im April, aus denen er zum dritten Mal als Premierminister hervorzugehen hofft, will Al Maliki die Lage in Anbar beruhigt haben.

In einem ebenfalls am 15. Februar erschienenen Interview mit der BBC erhob Tarik Al Haschemi schwere Vorwürfe gegen Al Maliki. Der ehemalige irakische Vizepräsident und damit ranghöchste sunnitische Politiker des Landes mußte Ende 2011 Bagdad fluchtartig verlassen. Gleich am Tag nach dem Abzug der letzten amerikanischen Streitkräfte war - vermutlich auf Betreiben Al Malikis - gegen ihn wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung und Anstiftung zu mehreren Attentaten Anklage erhoben und ein Haftbefehl ausgestellt worden. Über das autonome Kurdistan ist der Generalsekretär der Irakischen Islamischen Partei in die Türkei gelangt, wo er seit Mitte 2012 im Exil lebt. Gegenüber der BBC nannte Al Haschemi als "Hauptgrund" für die "Gewalteskalation" in Anbar und anderswo die "Ungerechtigkeit", mit der der Premierminister die sunnitische Bevölkerung im Irak seit Jahren behandele. Er warf Al Maliki vor, die sunnitische Jugend in den Aufstand "gezwungen", und mit der falschen Behauptung, den Kampf gegen Al Kaida aufzunehmen, die Unterstützung der "internationalen Gemeinschaft" erschwindelt zu haben.

Ein schnelles Ende des erbitterten Streits zwischen Al Maliki und Al Haschemi bzw. eine baldige Versöhnung zwischen den politischen Vertretern der Sunniten und Schiiten im Irak ist leider nicht in Sicht. Ob dies den einst als "Radikalprediger" verschrienen Muktada Al Sadr veranlaßt hat, am 15. Februar seinen Rückzug aus der Politik und die Auflösung seiner Partei, des schiitischen Ahrar-Blocks, zu verkünden, weiß niemand. Über das Motiv für die plötzliche Entscheidung herrscht im Irak Rätselraten. Al Sadr entstammt einer einflußreichen Dynastie schiitischer Geistlicher. Nach dem Einmarsch angloamerikanischer Streitkräfte 2003 gehörte er zu den wortgewaltigsten Gegnern der ausländischen Besatzung. Als irakischer Nationalist trat er anfangs für eine Zusammenarbeit zwischen sunnitischen Aufständischen und seiner eigenen Mahdi-Armee ein. Diese Position ließ sich nicht mehr halten, als sich Sunniten und Schiiten 2006 und 2007 einen heftigen Bürgerkrieg lieferten. Nach verlustreichen Kämpfen in der südirakischen Hafenstadt Basra 2008 gegen die Truppen Al Malikis verkündete Al Sadr die Auflösung der Mahdi-Armee. Seitdem konzentriert sich der angehende Großajatollah, der sich von 2007 bis 2011 zu Studienzwecken in der iranischen Pilgerstadt Ghom aufhielt, auf die Politik.

Es gibt Vermutungen, wonach Al Sadr durch den Rückzug aus der Parteienpolitik Al Maliki zu einer dritten Amtszeit als Premierminister verhelfen möchte. Wahrscheinlicher ist, daß er Vorkehrungen für die Zeit nach dem Ableben von Ali Al Sistani trifft. Der höchste schiitische Geistliche des Iraks, der zurückgezogen in der Pilgerstadt Nadschaf lebt, ist inzwischen 83 Jahre alt. Der erst 40jährige Al Sadr dürfte aufgrund seiner Herkunft und seines Lebenswandels gute Chancen haben, nach Al Sistanis Tod zum geistlichen Oberhaupt der irakischen Schiiten aufzusteigen. In jener Position wird er vermutlich mehr Macht als Premierminister und Präsident zusammen haben. Indem er sich nun vom politischen Schlachtfeld distanziert, kann er vielleicht später, nach dem Ende des aktuellen Blutvergießens, umso besser zwischen Sunniten und Schiiten vermitteln.

18. Februar 2014