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NAHOST/1203: Netanjahus Gazakrieg ist noch in der Eröffnungsphase (SB)


Netanjahus Gazakrieg ist noch in der Eröffnungsphase

Palästinenser scheinen besser bewaffnet zu sein als vor vier Jahren



Auch am dritten Tag tobt der jüngste Gazakrieg zwischen den israelischen Streitkräften und palästinensischen Militanten heftig. Derzeit feuern die Palästinenser Raketen auf Israel, während die israelische Luftwaffe Ziele im Gazastreifen - angeblich nur militärische - mit Raketen und Bomben beschießt. Seit dem Auftakt der israelischen Militäroperation "Verteidigungssäule", die am 14. November mit dem tödlichen Raketenangriff auf den Militärchef der in Gaza regierenden Hamas-Bewegung, Ahmad Jabari, begann, hat die israelische Luftwaffe nach eigenen Angaben 466 Angriffe auf Ziele in dem palästinensischen Küstenstreifen geflogen. In der gleichen Zeit sollen palästinensische Milizionäre von der Hamas, dem Islamischen Dschihad und der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PLFP) 280 Raketen Richtung Israel abgefeuert haben, von denen die Israelis mit ihrem Raketenabwehrsystem Iron Dome 131 abgefangen haben wollen. Bisher sind 20 Palästinenser und drei Israelis - allesamt Zivilisten - infolge der Kämpfe ums Leben gekommen.

Bei der letzten großen israelischen Militäroperation namens Gegossenes Blei zur Jahreswende 2008/2009, dauerten die Luftangriffe in Gaza rund eine Woche an, bevor die Bodenoffensive, die dann rund zwei Wochen ging, begann. Die Nachricht, daß das israelische Militär kurz davor steht, 30.000 Reservisten einzuberufen, läßt darauf schließen, daß es diesmal zu einem ähnlichen Verlauf wie damals kommen wird. Ob die Israelis und die Palästinenser nach einer begrenzten Bodenoffensive in Gaza einfach zum Status quo ante zurückkehren und sich auf eine erneute Waffenruhe einigen, ist fraglich. Momentan sieht es jedenfalls so aus, als könnte das kleine Militärabenteuer, das offenbar vom israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu als Wahlkampfhilfe für sein konservatives Parteienbündnis Likud-Beiteinu gedacht war, zu einem erbitterten Kleinkrieg ausarten, der noch am 22. Januar laufen wird, wenn Israels Bürger an die Wahlurne gehen.

Die Netanjahu-Regierung muß bereits im Vorfeld einkalkuliert haben, daß die Tötung des als gemäßigt geltenden Jabari, den die Israelis in den letzten Jahren häufiger als Verhandlungspartner kennengelernt haben, eine energische Reaktion bei er Hamas und anderen palästinensischen Gruppen auslösen würde. Ob sie auch damit rechnete, daß die Palästinenser in Gaza das 75 Kilometer entfernte Tel Aviv mit iranischen Fajr-5-Raketen beschießen würden, wie es der islamische Dschihad am Abend des 15. November getan hat? Wer weiß. Durch den erstmaligen Raketenangriff auf die israelische Handelsmetropole seit dem Golfkrieg 1991, als die Truppen Saddam Husseins Israel mit irakische Scuds beschossen, haben die Palästinenser in Gaza jedenfalls einen ersten kleinen Etappensieg für sich verbuchen können, der wiederum eine ungeheure Erwiderung nach sich ziehen wird, will das Netanjahu-Kabinett sein erklärtes Ziel, der israelischen Militärabschreckung wieder Geltung zu verschaffen, erreichen.

Die erste Fajr-5-Raketen schlug auf ein Stück offenes Gelände in Tel Aviv auf, die zweite überflog die Stadt und stürzte ins Mittelmeer. Es kam niemand dabei zu Schaden. Doch die psychologische Wirkung der Erkenntnis, daß sich inzwischen auch Tel Aviv, wo 40 Prozent der israelischen Bevölkerung lebt, innerhalb der Reichweite von Raketen aus dem Gazastreifen befindet, dürfte enorm gewesen sein. Dies erklärt auch die schnelle Reaktion des israelischen Verteidigungsministers Ehud Barak. Gleich nach dem Angriff gab der General a. D. und Ex-Premierminister im israelischen Fernsehen folgendes, martialisches Versprechen ab: "Für die Eskalation werde die andere Seite einen hohen Preis entrichten müssen." Von Baraks Drohungen vollkommen unbeeindruckt haben Hamas-Milizionäre in Gaza am 16. November erstmals das ebenfalls rund 75 Kilometer entfernte Jerusalem beschossen. Die Qassam-Rakete schlug auf offenem Gelände nahe der Ortschaft Gush Ezion auf, die im Südosten des besetzten Ostjerusalems liegt und mehrere arabische Dörfer und jüdische Siedlungen umschließt.

Am Vormittag des 16. November reiste der ägyptische Premierminister Hescham Kandil in den Gazastreifen und sprach dort drei Stunden mit Hamas-Chef Ismail Hanijeh. Der ehemalige Ingenieur, der nicht, wie Präsident Mohammed Morsi, aus der Moslem-Bruderschaft stammt, verurteilte das israelische Vorgehen aufs Schärfste und erklärte sich solidarisch mit den Gaza-Bewohnern. Wie weit Ägypten die Hamas, eine Schwesterorganisation der Moslembruderschaft, hier unterstützen kann, ist unklar. Die finanzielle Hilfe der USA - 1,3 Milliarden Dollar im Jahr -, das Friedensabkommen mit Israel von 1979 und der Widerstand seitens der alten Garde innerhalb des Sicherheitsapparats sprechen gegen ein Eingreifen der ägyptischen Streitkräfte in den Konflikt.

Vor vier Jahren riegelten die ägyptischen Truppen auf Befehl des Diktators Hosni Mubarak die Südgrenze des Gazastreifens ab und halfen damit den Israelis. Zu einer solchen Maßnahme, die seinerzeit für eine Welle der Empörung bei den einfachen Ägyptern sorgte, wird es diesmal mit Sicherheit nicht kommen. Wenn die Ägypter die Grenze offen hielten, humanitäre Hilfe leisteten und in die andere Richtung schauten, wenn Waffen in den Gazastreifen transportiert werden, wäre den palästinensischen Kämpfern schon sehr geholfen. Daß diese sich in letzter Zeit ordentlich um Nachschub bemühten, darauf deutet nicht nur der Einsatz von Fajr-5-Raketen hin. Medienberichten zufolge sollen die palästinensischen Milizen im Gazastreifen über eine unbekannte Anzahl von Ein-Mann-Boden-Luft-Raketen und eine nicht geringe Menge an Anti-Panzer-Munition verfügen. Die kommende Bodenoffensive der israelischen Streitkräfte verspricht blutig zu werden. Die Israelis müssen mit höheren Verlusten als vor vier Jahren rechnen, was natürlich ernsthafte Fragen bezüglich des Zwecks des ganzen Unternehmens aufwirft.

16. November 2012