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NAHOST/1148: Netanjahu und Barak wegen Kriegshetze in der Kritik (SB)


Netanjahu und Barak wegen Kriegshetze in der Kritik

Ex-Shin-Beth-Chef Diskin redet Klartext und sorgt so für Aufregung



Im öffentlichen Diskurs um das iranische Atomprogramm hat in den vergangenen Monaten niemand die Richtung stärker bestimmt als Benjamin Netanjahu und Ehud Barak. Der Premierminister und sein Verteidigungsminister vertreten mit größter Vehemenz den Standpunkt, daß sich hinter den Bemühungen des Irans um die zivile Kernkraft ein heimliches Atomwaffenprogramm verberge, das nur wenige Monate vor dem Durchbruch stehe und deshalb eine "existentielle Bedrohung" des Staates Israel darstelle. Für den Fall, daß die von den USA und ihren NATO-Verbündeten verhängten Wirtschaftssanktionen Teheran nicht zum Einlenken im "Atomstreit" bewegen sollten, drohen die Chefs vom Likud-Block und der israelischen Arbeiterpartei, die sich aus früheren Tagen bei den Spezialstreitkräften der Israeli Defense Forces (IDF) kennen, mit einem Bomben- und Raketenangriff auf die iranischen Nuklearanlagen.

Obwohl es nach Erkenntnissen sowohl der amerikanischen als auch israelischen Geheimdienste keine Hinweise auf die Existenz eines iranischen Atomwaffenprogramms gibt, haben sich die Regierungschefs der militärisch stärksten Staaten des Westens - US-Präsident Barack Obama, Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy und Großbritanniens Premierminister David Cameron - mit Israel solidarisch erklärt. Zwar raten sie Tel Aviv öffentlich stets zu mäßigendem Handeln, lassen aber im selben Atemzug nicht den geringsten Zweifel aufkommen, daß der Schutz Israels vor den Mullahs in Teheran höchste Priorität genieße bzw. zur Staatsräson ihres Landes gehöre. Wie einseitig die Diskussion um dieses Thema im Westen geführt wird, zeigen die jüngste Hysterie in Deutschland um die Israelkritik des Literaturnobelpreisträgers Günter Grass und die Tatsache, daß sich im Januar mehrere bekannte, linksliberale Blogger in den USA den Vorwurf des Antisemitismus ausgesetzt sahen, weil sie die "existentielle Bedrohung" Israels durch eine in ihrer Existenz nicht einmal bewiesene iranische Atombombe nicht anerkennen wollten.

In Israel selbst stehen viele Menschen der These von der iranischen Gefahr skeptisch gegenüber. Während Meir Dagan, der frühere Chef des Auslandsgeheimdienstes Mossad, das Szenario eines Überraschungsangriffs der IDF auf den Iran als "dümmste Idee", die er "jemals gehört" habe, bezeichnete, sorgte eine Gruppe israelischer Friedensaktivisten mit einer Internet-Kampagne, bei der sie ihre Freundschaft zu den Menschen im Iran bekundeten, weltweit für Schlagzeilen. Wenig überraschend stieß die Facebook-Initiative der israelischen Kriegsgegner bei der Online-Gemeinde des Irans auf besonderen Zuspruch. Doch bisher hat niemand Netanjahu und Barak so heftig attackiert wie Yuval Diskin, der frühere Chef des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Beth. Diskins Kritik, die er am 27. April auf dem Majdi Forum in der israelischen Stadt Kfar Saba äußerte, ist aktuell das politische Thema überhaupt in Israel.

Zwei Tage zuvor war in der liberalen israelischen Tageszeitung Ha'aretz ein Interview mit Benny Gantz erschienen, in dem der amtierende IDF-Generalstabschef zwar einen Überraschungsangriff der israelischen Luftwaffe auf den rund 1000 Kilometer entfernten Iran für "praktikabel und möglich" erklärte, jedoch gleichzeitig die Führung in Teheran als "sehr rational" bezeichnete, weswegen er glaube, daß die Iraner den Bau einer eigenen Atomwaffe scheuen würden. Dadurch hatte Gantz das von den Iranophoben konstruierte Bild einer völlig unberechenbaren, weil vom schiitischen Endzeitglauben bestimmten Regierung des Irans schwer beschädigt. Nicht zufällig konterte am 26. April Verteidigungsminister Barak bei einer Rede anläßlich des israelischen Unabhängigkeitstages, in der er erneut seine Gründe für die Notwendigkeit eines militärischen Vorgehens gegen die Islamische Republik erläuterte, mit der Behauptung, das Ajatollah-Regime sei "nicht rational im westlichen Sinne des Wortes".

Nun ist es jedoch die Vernunftzugänglichkeit Baraks und Netanjahus, über die man in Israel nach dem spektakulären Vortrag Diskins debattiert. Der ehemalige Shin-Beth-Chef, der erst vor einem Jahr den Dienst quittierte, warf seinen ehemaligen Vorgesetzten vor, die israelische Öffentlichkeit in der Iran-Frage "in die Irre zu führen". Unter Verweis darauf, daß er beide Männer über Jahre "aus nächster Nähe beobachtet" habe, erklärte er, "kein Vertrauen in die derzeitige Führung" zu haben, die "im Falle eines Kriegs mit dem Iran oder eines Regionalkriegs" in Israel das Kommando hätte. "Ich glaube nicht, daß das die Leute sind, die ich gern am Steuer hätte. ... Ich habe weder zum Premierminister noch zum Verteidigungsminister Vertrauen. Ich glaube nicht an eine Führung, die Entscheidungen auf der Grundlage messianischer Gefühle trifft", so Diskin.

Seit einiger Zeit steht der Verdacht im Raum, Netanjahus konservative Koalitionsregierung, die zum politischen Überleben auf die Unterstützung der jüdischen Siedler-Bewegung in den besetzten palästinensischen Gebieten angewiesen ist, bausche die iranische Bedrohung auf, um von der eigenen Blockadehaltung im Nahost- Friedensprozeß abzulenken. Diskin bestätigte diesen Verdacht in seiner Rede auf ganzer Linie:

Vergessen Sie deren Geschichten, wonach [der palästinensische Präsident Mahmud] Abbas zum Verhandeln nicht gewillt ist. Wir reden nicht mit den Palästinensern, weil diese Regierung an Verhandlungen kein Interesse hat. Ich war bis vor einem Jahr selbst darin involviert und weiß aus nächster Nähe, was los ist. Diese Regierung hat kein Interesse, irgend etwas mit den Palästinensern zu lösen, und ich sage das mit Bestimmtheit. Der Premierminister weiß, daß seine Herrschaft und seine Koalition zusammenstürzen würden, sollte er auch nur den kleinsten Schritt nach vorne unternehmen. ... Deshalb ist niemand an einer Veränderung der Situation interessiert. Abbas hat zwar Fehler gemacht, aber das tut nichts zur Sache. Wir als Volk haben an dieser Sache [dem Friedensprozeß] Interesse, die Regierung dagegen nicht. Mit jedem Tag wird das Problem größer.

Diskin warnte vor einem "Gefühl der Hoffnungslosigkeit", das sich unter den Palästinensern ausbreitet. Auf Grund seiner Kontakte zur Führung der palästinensischen Autonomie-Behörde berichtete er, daß insbesondere im Westjordanland "ein Mangel an Glauben, daß sich irgend etwas verändern wird", herrscht. Der frühere israelische Inlandsgeheimdienstchef meinte, in den palästinensischen Gebieten sei die politische Lage derart desolat, daß ein Funke genügt, um erneut schwere Unruhen ähnlich der beiden Intifadas auszulösen.

Am 13. und am 14. Mai kommen in Wien Vertreter des Irans mit Experten der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) zu technischen Gesprächen zusammen. Für den 23. Mai sind in Bagdad diplomatische Verhandlungen im "Atomstreit" zwischen dem Iran und der P5+1-Gruppe - China, Frankreich, Großbritannien, Rußland, die USA plus Deutschland - geplant. Durch ihre öffentlichen Interventionen haben die israelischen Kritiker gegenüber der Kriegspolemik Netanjahus und Baraks auf jeden Fall den Raum für eine friedliche Lösung des eigentlich überflüssigen Streits erweitert.

30.‍ ‍April 2012