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NAHOST/1127: Nachkriegsirak versinkt wieder im Chaos (SB)


Nachkriegsirak versinkt wieder im Chaos

Ex-Premierminister Ijad Allawi bittet die USA vergeblich um Hilfe


Nach dem Abzug der letzten US-Streitkräfte aus dem Irak, der gemäß dem 2008 von Präsident George W. Bush und Premierminister Nuri Al Maliki unterzeichneten Abkommen rechtzeitig zum 31. Dezember 2011 vollzogen wurde, versinkt das Land immer mehr im Chaos. Die sektiererische Gewalt zwischen Sunniten und Schiiten nimmt wieder drastisch zu. Seit Anfang des Jahres sind rund 200 Menschen bei Überfällen und Anschlägen ums Leben gekommen. Allein am 14. Januar riß in der Nähe der südirakischen Provinzhauptstadt Basra eine Bombe 64 schiitische Pilger in den Tod und verletzte 130 weitere schwer. Gleich am nächsten Tag kam es in Ramadi, der 115 Kilometer westlich von Bagdad liegenden Hauptstadt der mehrheitlich von Sunniten bewohnten, zentralirakischen Provinz Anbar zu der spektakulären Erstürmung des Hauptquartiers der Polizei. Bei den schwersten Kämpfen zwischen sunnitischen Aufständischen und den schiitisch-dominierten, staatlichen Sicherheitskräften seit dem Abzug der Amerikaner starben 21 Menschen, darunter auf Seiten der Angreifer mehrere Selbstmordattentäter. Weitere 21 wurden verletzt. Offenbar sollte bei dem Überfall, bei dem die teilweise als Polizisten verkleideten Angreifer mehrere Autobomben zündeten, ein gefangener Anführer der Gruppe Al Kaida im Zweistromland befreit werden. Lediglich die energische Gegenwehr der Sicherheitskräfte hat dies verhindert.

Ursache für das Aufflammen der Gewalt ist die Uneinigkeit unter den Führern der bei den letzten Parlamentswahlen im März 2010 gewählten Parteien. Damals hat das sunnitisch-säkulare Iraqiya-Parteienbündnis um den ehemaligen Premierminister Ijad Allawi die meisten Sitze erobert, ihm gelang im Anschluß jedoch nicht, eine tragfähige Koalition auf die Beine zu stellen. Als Kompromiß wurde eine interkonfessionelle Regierung gebildet, in der Nuri Al Maliki von der schiitischen Gruppierung State of Law Premierminister blieb und Allawi zum Nationalen Sicherheitsberater ernannt wurde und die Oberhoheit über Armee und Polizei bekommen sollte. Doch der alte und neue Regierungschef hat seinen Teil der Abmachung nicht eingehalten. Allawi erhielt die ihm zugedachten Befugnisse nicht, während Maliki den Posten des Verteidigungsministers unbesetzt ließ, um das Amt kommissarisch selbst zu leiten. Statt auf die Bedürfnisse der sunnitischen Minderheit einzugehen und die Kämpfer von deren Milizen in den Sicherheitsapparat zu integrieren, hat Maliki Rücksicht auf seine schiitischen Glaubensbrüder genommen und deren dominierende Stellung im Irak der Nach-Saddam-Hussein-Ära ausgebaut.

Dramatisch zugespitzt hat sich die innenpolitische Krise am 18. Dezember vergangenen Jahres, als das Justizministerium in Bagdad Anklage gegen Vizepräsident Tariq Al Hashemi von Allawis Iraqiya-Fraktion wegen des Verdachts, sunnitische Todesschwadronen geführt und einen Anschlag auf Maliki geplant zu haben, erhob. Der politische Paukenschlag erfolgte nur wenige Stunden, nachdem die letzten US-Truppen im Irak die Grenze zu Kuwait überquert hatten. Al Hashemi, der alle Vorwürfe als haltlos und politisch motiviert von sich weist, konnte der Verhaftung nur durch Flucht in den autonomen kurdischen Norden entrinnen. Mehrere seiner Leibwächter wurden jedoch festgenommen und sollen in der Zwischenzeit schwer gefoltert worden sein (Letzteres berichtete am 16. Januar Ghaith Abdul-Ahad in einem deprimierenden Beitrag für den Londoner Guardian über die schier unglaubliche Korruption der irakischen Sicherheitsbehörden, die offenbar inzwischen regelmäßig unschuldige Menschen verschleppen, um sie erst gegen Lösegeld wieder freizulassen). Seit der Anklageerhebung gegen Al Hashemi boykottiert Al Iraqiya konsequent alle Sitzungen des Parlaments und des Kabinetts. Am 15. Januar hat ein Gericht in Bagdad Al Hashemis Antrag, den Prozeß gegen ihn in der nördlichen Stadt Kirkuk stattfinden zu lassen, abgewiesen und von dem geschaßten Vizepräsidenten gefordert, daß er sich den Behörden in der Hauptstadt stellt.

In einem Interview mit dem Nachrichtensender Cable News Network (CNN), das am 15. Januar ausgestrahlt wurde, hat Allawi erklärt, der Irak befinde sich in der "gefährlichsten Phase" seiner jüngsten Geschichte, und die Behauptung Barack Obamas vom letzten Dezember, die US-Streitkräfte hätten einen "stabilen und demokratischen" Irak zurückgelassen, als Schönfärberei abgetan. Die Lage im Irak ist laut Allawi "sehr angespannt", die konfessionelle Gewalt kehrt mit voller Härte zurück, der "Terrorismus" macht sich wieder breit. Vor diesem Hintergrund appellierte er an Obama, zwischen den sich streitenden irakischen Parteien zu vermitteln. Nach dem gewaltsamen Sturz der Regierung Saddam Husseins hätten die USA "sowohl eine politische als auch eine moralische Verantwortung", dem Irak zu helfen, so der ehemalige CIA-Kontaktmann.

Wenngleich die USA nach Angaben der New York Times vom 16. Januar mit rund 11.000 Bediensteten und 5000 privaten Sicherheitsdienstleistern die größte Botschaft der Welt in Bagdad unterhalten, ist von der Chefdiplomatin Hillary Clinton und ihren Untergebenen keine erfolgreiche Vermittlungsbemühung im irakischen Bruderzwist zu erwarten. Die Kräfte, welche Amerikaner und Briten durch den Einmarsch 2003 in den Irak freisetzten, haben nicht nur dieses Land ruiniert, sondern greifen in der ganzen Region um sich. Der Irak kann nicht zur Ruhe kommen, solange die Spannungen zwischen dem schiitisch dominierten Iran und dem sunnitisch dominierten Saudi-Arabien anhalten.

Die Regierung in Riad, die sich mit der Entmachtung der sunnitischen Minderheit im Irak bis heute nicht abgefunden hat, unterstützt derzeit die Moslembruderschaft beim Versuch, die pro-iranische Regierung des Alawiten Bashar Al Assad in Damaskus zu stürzen. In Syrien droht ein Bürgerkrieg, der die schlimmsten Tage des sunnitisch-schiitischen Blutvergießens im Irak in den Jahren 2005 und 2006 wird übertreffen können. Gleichzeitig könnte das allmähliche Auseinanderdriften der kurdischen, schiitischen und sunnitischen Teile des Iraks das Nachbarland und NATO-Mitglied Türkei zum Handeln zwingen. Ankara befürchtet das Entstehen eines unabhängigen Kurdistans im Nordirak, weil dies den kurdischen Separatisten in der Türkei enormen Auftrieb verliehe. Solange die USA ihre Konfrontation mit dem Iran fortsetzen und die Umtriebe der Saudis und der Moslembruderschaft in Syrien und anderswo in der arabischen Welt entweder dulden oder gutheißen, wird der Irak nicht nur Ruhe kommen.

17. Januar 2012