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NAHOST/1122: Kampf um Syriens Zukunft spitzt sich zu (SB)


Kampf um Syriens Zukunft spitzt sich zu

Assads Freunde und Feinde bringen sich in Stellung


Scheinbar unaufhaltsam spitzt sich die Syrien-Krise zu. Trotz der sicherlich nicht uneigennützigen Warnungen des syrischen Präsidenten Bashar Al Assad vor einer regionalen Katastrophe - sollte das langjährige Baath-Regierung in Damaskus gestürzt werden - erhöhen die ausländischen Befürworter eines "Regimewechsels" mit jedem Tag den Druck. Statt eine Umsetzung der von der Regierung und gemäßigten syrischen Opposition ausgehandelten Reformpläne samt Parlamentswahlen im kommenden Frühjahr, der Ausarbeitung einer neuen Verfassung und der Abschaffung der bisherigen Sonderposition der Baath-Partei zuzulassen, was eventuell eine allgemeine Beruhigung der innenpolitischen Lage mit sich brächte und dadurch vielen Menschen das Leben retten würde, heizen die USA und ihre Verbündeten den Bürgerkrieg an, indem sie die bewaffneten Oppositionellen zum Weiterkämpfen ermutigen und einen Rücktritt der bisherigen Regierung ohne Wenn und Aber fordern. Auf diese Weise soll verhindert werden, daß die Syrer ihre Probleme selbst lösen, und sichergestellt sein, daß die nächste Regierung in Damaskus von Washingtons Gnaden ist. Die Unerbittlichkeit, mit der Assads Feinde seine Aufgabe zu erzwingen versuchen, hat einen guten Grund. Gelänge der "Regimewechsel" in Damaskus, würde der Iran seinen einzigen Verbündeten, die schiitische Hisb-Allah-Miliz im Libanon ihren wichtigsten Förderer und Rußland in Tartus seinen einzigen Marinestützpunkt am Mittelmeer verlieren.

Daher ist der Ausgang der Krise in Syrien, im internationalen Maßstab betrachtet, von weitaus größerer Bedeutung als der jüngste Krieg in Libyen, wo vor allem die USA, Großbritannien, Frankreich, Katar, Jordanien und Saudi-Arabien den Gegnern Muammar Gaddhafis diplomatisch und militärisch zum Sieg verhalfen. Assad steht lange nicht so isoliert da wie der libysche Revolutionsführer, als die Arabische Liga im vergangenen März den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wegen der Unruhen in Libyen anrief und die NATO unter dem Vorwand des Schutzes der Zivilbevölkerung militärisch eingriff. Zwar hat die Arabische Liga am 12. November die Mitgliedschaft Syriens aufgrund der den Streitkräften unterstellten Gewaltexzesse suspendiert, doch scheuen sich die Kritiker Assads bisher, die Exilgruppierung mit Namen Syrischer Nationalrat als einzige legitime Regierung anzuerkennen. Hierzu haben sich bisher nur die libyschen Putschisten, deren eigene Legitimation zu wünschen übrig läßt, veranlaßt gesehen. Gleichwohl hat sich der britische Außenminister William Hague als erster Vertreter einer westlichen Demokratie am 21. November in London mit Mitgliedern des Syrischen Nationalrates getroffen. Innerhalb Syriens verfügt diese Gruppierung wegen ihrer Forderung nach einer ausländischen Militärintervention über wenig Rückhalt. Vielmehr haben die zivilgesellschaftlichen Gruppen in Syrien, die auf eine Reform des bisherigen Regierungssystems hinarbeiten, sich öffentlich von dieser Forderung distanziert.

Seit Beginn der Proteste in Syrien besteht der Verdacht, daß diese von bewaffneten sunnitischen Salafisten aus der verbotenen Moslembruderschaft und deren Unterstützern im Libanon, in Jordanien, der Türkei und Saudi-Arabien instrumentalisiert wurden, um die staatlichen Ordnungskräfte zu gewaltsamen Unterdrückungsmaßnahmen zu provozieren. Inzwischen haben die Kämpfe dermaßen an Heftigkeit zugenommen, daß man im Westen das Märchen von gewaltbereiten, mordlustigen Schergen Assads auf der einen und friedlichen, unbewaffneten Demokratieanhängern auf der anderen Seite aufgegeben hat. Zwar wird eingeräumt, daß die Regimegegner zum Teil bewaffnet sind, jedoch behauptet, sie verteidigten sich lediglich gegen staatliche Übergriffe. Die zahlreichen Überfälle der letzten Monate auf Armeekonvois sprechen allerdings eine andere Sprache.

Bereits am 14. November hat der russische Außenminister Sergej Lawrow die westlichen Mächte offen bezichtigt, gewaltbereite Teile der syrischen Opposition zu bewaffnen, und zwar über den Landweg aus dem Libanon und Jordanien. In Verbindung mit dem schon erwähnten Treffen Hagues mit Vertretern des Syrischen Nationalrates hieß es am 19. November in der britischen Zeitung Independent, Großbritannien und andere westliche Staaten wie zum Beispiel Frankreich stünden "mit der Opposition seit drei Monaten in informellen Kontakt". Führt man sich die Vorgehensweise der NATO 1999 im Kosovo-Krieg gegen Jugoslawien und in diesem Jahr gegen Libyen vor Augen, so dürfte man mit der Vermutung, westliche Spezialstreitkräfte, unterstützt von Elitesoldaten aus Jordanien, Katar und eventuell der Türkei, seien längst auf Erkundungs- und Sabotagetour in Syrien unterwegs, nicht ganz falsch liegen. Die mehr in kriegspsychologischer als in militärischer Hinsicht bedeutsamen Angriffe, welche die sogenannte Freie Syrische Armee, ein Verbund aus sunnitischen Extremisten und Deserteuren aus den regulären Streitkräften Syriens, am 16. November auf ein Kommunikationszentrum der syrischen Luftwaffe bei Hasarata, am Nordrand von Damaskus, und drei Tage später auf ein Gebäude der Baath-Partei in der Hauptstadt geführt haben soll, nähren diesen Verdacht.

Doch auch die Freunde Assads sind nicht untätig geblieben. Unbestätigten Berichten zufolge werden die syrischen Ordnungskräfte seit Wochen von Offizieren der iranischen Revolutionsgarden beraten. Nachdem im Oktober Rußland und China im UN-Sicherheitsrat eine einseitige Resolution, die die Regierung in Damaskus wegen des Blutvergießens verurteilt hätte, blockiert hatten, meldete am 17. November die staatliche syrische Nachrichtenagentur SANA die Entsendung mehrerer russischer Kriegsschiffe, die bald vor der Küste Syriens auf Station gehen sollten. Mit dieser Maßnahme gibt der Kreml zu erkennen, daß er nicht bereit ist, Rußlands traditionell treuesten Verbündeten in der arabischen Welt widerspruchslos fallen zu lassen. Syrien gehört seit Jahrzehnten zu den wichtigsten Abnehmern sowjetischer bzw. russischer Rüstungsgüter. Die syrischen Streitkräfte verfügen zum Beispiel über das russische Luftabwehrsystem S-300, das im Falle eines Krieges für die High-Tech-Bomber und -Kampfjets der NATO eine ernsthafte Gefahr darstellen würde.

Ebenfalls am 17. November hat sich im Irak laut Nachrichtenagentur Agence France Presse der einflußreiche schiitische Prediger Muktada Al Sadr hinter Assad gestellt und erklärt, es bestehe ein "großer Unterschied" zwischen den Volksprotesten im Jemen, in Ägypten, Bahrain, Libyen, Tunesien und dem, was sich in Syrien abspiele. Al Sadr, an dessen Widerstand die Pläne des Pentagons zur Einrichtung mehrerer dauerhafter US-Militärstützpunkte im Irak gescheitert sind und der jederzeit seine einst mächtige Al-Mahdi-Armee wieder ins Leben rufen könnte, fordert die syrische Opposition dazu auf, ihre berechtigten politischen Ziele mit friedlichen Mitteln und Dialogbereitschaft zu verfolgen. Das Aufkommen eines gewaltsamen Widerstands gegen die Assad-Regierung führte Al-Sadr auf Syriens USA- und Israel-kritische Position und seine Militärallianz mit dem Iran zurück. Er warnte den Westen eindringlich davor, Syrien "in den Abgrund des Terrorismus und der Zersplitterung" zu stürzen.

Am 21. November haben im Libanon die Hisb Allah und die Amal-Bewegung um Nabih Berri ihre Solidarität mit Syrien und dem Iran bekräftigt. In einer am darauffolgenden Tag vom in Beirut erscheinenden Daily Star zitierten Erklärung heißt es, die monatelangen Unruhen in Syrien seien das Ergebnis einer "internationalen Verschwörung", mittels derer Damaskus wegen seiner Unterstützung für die Gegner der amerikanisch-israelischen Hegemonie im Nahen Osten bestraft werden soll. Bereits am 11. November hatte Hisb Allah-Chef Hassan Nasrallah die USA und Israel vor Angriffen auf Syrien und den Iran gewarnt. In einer versteckten Drohung erklärte Nasrallah, daß sich ein Krieg gegen Syrien oder den Iran nicht auf ein einzelnes Land begrenzen ließe, sondern "die ganze Region überrollen" würde. Zweifelsohne findet in und um Syrien ein hochexplosives Kräftemessen statt. Schon ein Funke könnte verheerende Folgen haben.

23. November 2011