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NAHOST/1115: Palästinenser haben Einseitigkeit nicht erfunden (SB)


Scharons Abkopplungsplan fand Zustimmung bei USA und EU


Handelt die Palästinenserführung um Mahmud Abbas auf unverantwortliche Weise einseitig, wenn sie heute bei den Vereinten Nationen einen Antrag auf Vollmitgliedschaft für den Staat Palästina stellt? Nicht einseitig genug, möchte man meinen, hat sich Abbas doch Presseberichten zufolge zu einem Kompromiß drängen lassen. Demnach will er zwar dem massiven Druck der USA, Israels und diverser europäischer Regierungen nicht auf ganzer Linie nachgeben und wie angekündigt den Antrag auf Vollmitgliedschaft stellen, doch soll die Abstimmung über den Antrag zunächst verschoben werden, um Raum für neue Verhandlungen zu lassen. [1]

Die Bezichtigung, Abbas verhindere mit einer einseitigen Proklamation des Palästinenserstaats die notwendigen bilateralen Gespräche und torpediere damit den Friedensprozeß, ist nachgerade absurd und stellt die Verhältnisse propagandistisch auf den Kopf. Israel hat Friedensgespräche jahrzehntelang mit der Doktrin blockiert, es gebe auf palästinensischer Seite keinen Partner. Wo aber doch Verhandlungen geführt und Abkommen geschlossen wurden, ging dies stets zu Lasten der Palästinenser aus. Sie gewannen nichts hinzu, sondern verloren mit jeder neuen Runde fiktiver Friedensgespräche, bei denen man sie zu immer neuen Kompromissen zwang, an Boden.

Zu den führenden Protagonisten der Behauptung, politische Verhandlungen mit der palästinensischen Seite seien unmöglich, gehörte Ariel Scharon. Er entwarf als Ministerpräsident den nach ihm benannten einseitigen Abkopplungsplan (Disengagement), der von seinem Amtsnachfolger Ehud Olmert im sogenannten Konvergenzplan weiterverfolgt wurde. Dieses strategische Manöver sah den Abzug aus einigen der seit dem Sechstagekrieg besetzten Gebiete und den Abbau einiger Siedlungen vor, während andere dauerhaft beibehalten werden sollten. Der damalige US-Präsident George W. Bush befürwortete den Plan mit der Begründung, er entspreche der Forderung nach sicheren Grenzen Israels. Im Lichte der realen Gegebenheiten sei ein kompletter Rückzug auf die Grüne Linie unrealistisch. Javier Solana, der Hohe Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, begrüßte im Juni 2004 ebenfalls die Vorschläge des israelischen Ministerpräsidenten für einen Abzug aus Gaza. Dies eröffne neue Chancen für die Durchführung der Road Map, wie sie vom UN-Sicherheitsrat beschlossen wurde. Der UN-Menschenrechtsbeauftragte für die Palästinensergebiete lobte im März 2005 den Abkopplungsplan mit den Worten, dies sei ein ermutigender Schritt der israelischen Regierung.

Scharon brachte mit diesem Plan eine Antithese zum Oslo-Prozeß auf den Weg, den er als fundamentalen Fehler betrachtete. Verhandlungen mit den Palästinensern schloß er mit der Begründung aus, diese hätten sich noch nie an Vereinbarungen gehalten. Er erklärte unilaterales Handeln Israels für unverzichtbar und schlug dabei zwei Fliegen mit einer Klappe: Die USA erkannten mit ihrer Zustimmung an, daß eine Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge unmöglich sei, und gestanden Israel Siedlungen außerhalb der Grünen Linie zu. Schimon Peres faßte den Abkopplungsplan sogar als Fortsetzung des Oslo-Prozesses auf und behauptete, in Wahrheit sei er gar nicht unilateral ausgeführt worden.

Die Palästinenser rochen natürlich den Braten und wandten sich gegen die Absicht Scharons, die größten jüdischen Siedlungen im Westjordanland dauerhaft an Israel anzugliedern. Sie forderten ebenso vehement wie vergeblich, daß der Plan durch internationale Vereinbarungen legitimiert werden müsse und Israel vollständig aus den umstrittenen Gebieten abziehen solle. Auch nach dem plötzlichen Tod des unter nie überzeugend aufgeklärten Umständen verstorbenen Jassir Arafat war die palästinensische Führung nicht zur Kooperation bei der Abkopplung bereit. Sie begrüßte zwar den Plan als Schritt in die richtige Richtung, forderte aber eine Liste von weiteren Gebieten, aus denen sich Israel zurückziehen solle.

Scharons taktischer Rückzug aus dem Gazastreifen, der einer strategischen Offensive den Weg bereitete, im Westjordanland durch den Siedlungsbau unablässig vollendete Tatsachen zu schaffen, war in Israel heftig umstritten. Während eine Minderheit der Kritiker den unilateralen Schritt ablehnte und Gespräche mit den Palästinensern anmahnte, bezog sich die Mehrzahl der Einwände darauf, daß kein Fußbreit Boden zurückgegeben werden dürfe. So bedurfte es einer Abfolge politischer Winkelzüge Scharons, bis schließlich im Juni 2004 ein geringfügig modifizierter Abkopplungsplan im Kabinett beschlossen wurde.

Sich einseitig und ohne Verhandlungen abzukoppeln, war also eine Strategie der israelischen Regierung, die diese mit ausdrücklicher Zustimmung Washingtons und größtenteils auch der EU bereits 2004 praktizierte. Wenn heute Israel, die USA und erhebliche Teile der Europäer die Palästinenser abmahnen, sich keinesfalls durch einen nicht hinzunehmenden einseitigen Schritt aus dem Gefängnis der von israelischer Seite blockierten Verhandlungen zu bewegen, entspricht dies einem Schulterschluß der Machtpolitik, die in ihren Pseudobegründungen auf historische Amnesie baut.

Die israelische Führung droht den Palästinensern eine Palette von Sanktionen an, die vom Vorenthalt der ihnen zustehenden Gelder bis hin zu einer Annexion beträchtlicher Gebiete reicht. Man hat die Streitkräfte in Bereitschaft versetzt und die Siedler aufgerüstet, um jeden Protest gewaltsam im Keim zu ersticken. Politische Rückendeckung gewährt US-Präsident Barack Obama, der im wesentlichen das wiederholt, was Benjamin Netanjahu seit Beginn seiner Amtszeit predigt und zugleich selbst torpediert - es müsse direkte Verhandlungen zwischen den beiden Parteien des Nahostkonflikts geben: "Die Palästinenser wollen jetzt diese Direktverhandlungen vermeiden, indem sie einen Umweg machen und zu den Vereinten Nationen gehen. Keine dieser Aktionen wird den Frieden fördern, sie werden eher den Frieden um Jahre zurückwerfen. Deshalb rufe ich Präsident Abbas auf, sofort direkte Friedensverhandlungen ohne Vorbedingungen aufzunehmen." [2]

Unterdessen setzt sich Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy als Held in Szene, unter dessen Führerschaft der gordische Knoten der festgefahrenen Situation mit einem Hieb durchtrennt werden könne. Sei es aus Eitelkeit oder in einem Akt gezielter Indiskretion hat der französische Staatschef ausgeplaudert, woran Diplomaten fieberhaft hinter den Kulissen arbeiten. In seiner Rede vor der UN-Generalversammlung sprach er sich für eine Statusaufwertung der Palästinenser aus und nannte zugleich einen ehrgeizigen Zeitplan für Friedensgespräche: Wiederaufnahme der Verhandlungen innerhalb eines Monats, anschließend eine dreimonatige Frist, um eine Einigung über die Grenzen und die Sicherheit herbeizuführen, und ein Jahr, um eine endgültige Lösung zu erreichen. Den direkten Weg zu einer Vollmitgliedschaft über den Sicherheitsrat lehnte auch Sarkozy ab. [3]

Soweit bereits inhaltlich bekannt, enthält der Plan nicht mehr als das, was ohnehin im Gespräch war, aber von israelischer Seite zurückgewiesen wurde. Dort ist man keineswegs bereit, auf Grundlage der Grenzen von 1967 zu verhandeln, die Netanjahu zufolge nicht verteidigt werden können. Hinzu kommen 200.000 jüdische Siedler in Ostjerusalem und weitere im ebenfalls besetzten Westjordanland, die dann auch offiziell auf palästinensischem Gebiet leben würden. Zudem hat die Regierung Netanjahu längst unterstrichen, daß ein Palästinenserstaat nur ohne eigene Grenzsicherung, Lufthoheit, Streitkräfte und diverse weitere Merkmale eines unabhängigen Staatswesens und damit allenfalls als Protektorat akzeptabel wäre. Nicht zuletzt fordert Israel seine Anerkennung als jüdischer Staat, der einem Fünftel seiner Bürger mithin nur einen zweitklassigen Status zuerkennt. Unterdessen werden die Siedlungen weitergebaut, was angeblich belanglos wäre, sollte ein Gebietstausch angestrebt werden. Ohnehin sind fundamentale palästinensische Positionen wie das Rückkehrrecht damit noch gar nicht angesprochen.

Wollte man ernsthaft für Verhandlungen plädieren, die diesen Namen verdienen, müßte man sich Gedanken um das eklatante Mißverhältnis in den beiderseitigen Machtmitteln machen, das bislang die schwächere Seite zum Spielball der Stärkeren macht. Im Nahostkonflikt zu vermitteln, hieße daher zwangsläufig, zumindest insoweit Partei für die Palästinenser zu ergreifen, daß diese Gespräche auf der vielzitierten gleichen Augenhöhe zu führen im Stande sind. Fiktive Zeitpläne ändern nicht das geringste an den unbewältigten Widersprüchen, die aufrechtzuerhalten offensichtlich nicht nur die israelische Regierung größtes Interesse hat.

Fußnoten:

[1] http://www.heise.de/tp/artikel/35/35549/1.html

[2] http://oe1.orf.at/artikel/286769

[3] http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,787700,00.html

23. September 2011