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NAHOST/1101: Nach den Anschlägen bei Eilat - Israels sicherheitspolitische Offensive (SB)


Palästinensern im Gazastreifen droht erneut Kollektivstrafe


Nach den Anschlägen nahe Eilat, bei denen acht Israelis getötet und 31 verletzt wurden, kündigte die israelische Regierung umgehende Vergeltung an. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sagte in einem Telefongespräch mit dem Bürgermeister von Eilat, Israel werde auf den Anschlag und die Verletzung seiner Souveränität reagieren. Verteidigungsminister Ehud Barak versprach, die Armee werde die Täter finden und zur Verantwortung ziehen. Ein Sprecher Netanjahus erklärte, man habe "keine Zweifel, dass die Angreifer aus Gaza" kamen. Dabei handele es sich nicht um eine vorläufige Einschätzung, sondern um "sehr genaue Informationen". [1] Wenige Stunden später flogen die israelischen Streitkräfte einen Luftangriff im Gazastreifen, worauf Netanjahu in einer kurzen Fernsehansprache verkündete: "Die Auftraggeber der Morde an unseren Bürgern, die sich in Gaza versteckten, befinden sich nicht mehr unter den Lebenden." Militärschläge gegen Palästinenser sind seit Jahrzehnten ein zentraler Bestandteil israelischer Machtpolitik. "Wenn Terrororganisationen denken, dass sie unsere Mitbürger verletzen können, ohne dass wir darauf antworten, dann irren sie sich", sprach der Regierungschef von einem "sehr hohen Preis", den die Feinde Israels zu zahlen hätten. [2]

Die Frage ist müßig, auf welche Weise israelische Geheimdienste unverzögert in Erfahrung gebracht haben sollten, wem die Anschläge bei Eilat zuzuordnen sind, zumal keine Organisation die Verantwortung für den Angriff übernahm. Israel machte kurzerhand das Volkswiderstandskomitee verantwortlich, deren führende Repräsentanten beim Luftangriff der israelischen Armee auf ein Haus in Rafah getötet wurden. Die Hamas wies entschieden jede Beteiligung zurück. Ahmad Jussef, ein hochrangiger Führer der Organisation, sagte dem arabischen Nachrichtensender al-Dschasira, die Hamas "bejubele den Anschlag" aber trotzdem. Da der "politische Prozeß" stagniere, sei eine militärische Eskalation "die logische Entwicklung".

Nach Angaben der Hamas wurden fünf Mitglieder des Volkswiderstandskomitees, darunter der Anführer der Gruppe, sowie zwei Kinder im Alter von drei und dreizehn Jahren getötet und 18 weitere Menschen verletzt. Ein Sprecher der Komitees teilte mit, daß sich unter den Toten auch drei Assistenten des Kommandeurs befänden. Die israelische Luftwaffe griff nach Angaben einer Armeesprecherin im Laufe der Nacht insgesamt sieben Ziele im Gazastreifen an. Bei einem israelischen Angriff wurden in der Nähe des ägyptisch-israelischen Grenzpostens Taba drei ägyptische Polizisten erschossen. [3]

In der Nacht auf Freitag wurden mindestens zehn Raketen aus dem Gazastreifen auf Israel abgefeuert. Eine richtete sich gegen die Stadt Ashkelon und wurde vom israelischen Raketenabwehrsystem abgefangen. Eine Rakete traf eine Synagoge in der Hafenstadt Ashdod. Dabei wurden sechs Israelis verletzt. Die anderen Raketen schlugen offenbar auf freiem Feld ein. Am Freitag flog die Luftwaffe weitere Angriffe auf Ziele im Gazastreifen, bei denen angeblich eine Waffenfabrik sowie Tunnel von Schmugglern im Süden getroffen wurden.

Der palästinensische Spitzenpolitiker Saeb Erekat warnte Israel wie immer vergeblich vor "unverantwortlichen Vergeltungsmaßnahmen". Israel dürfe die Zivilbevölkerung nicht kollektiv bestrafen. Da Erekat aus langjähriger bitterer Erfahrung der Palästinenser mit der militärischen Übermacht Israels sprach, steht nun zu befürchten, daß die Bewohner des Gazastreifens weitere schwere Angriffe der israelischen Streitkräfte zu befürchten haben.

Unterdessen hat der Jüdische Weltkongreß die internationale Gemeinschaft angesichts der Anschläge in Israel dazu aufgerufen, den geplanten Antrag der Palästinenser auf Aufnahme in die Vereinten Nationen nicht zu unterstützen. "Statt den Friedensprozess durch Unterstützung des einseitigen Schritts der palästinensischen Autonomiebehörde zum Entgleisen zu bringen (...) sollten die Vereinten Nationen einen Plan zur Beendigung von Gewalt, Fanatismus und Terrorismus in der Region ausarbeiten", forderte der Generalsekretär des Weltkongresses, Dan Diker. Mahmud Abbas will dennoch im September wie vorgesehen seinen Antrag in New York stellen. Daran hätten auch die Anschläge im Süden Israels nichts geändert, verlautete aus palästinensischen Kreisen in Ramallah. [4]

Für die Sozialproteste in Israel sind die Anschläge im Süden des Landes aller Voraussicht nach mit einem Rückschlag verbunden, da die Regierung nichts unversucht lassen wird, unter Verweis auf die äußere Bedrohung der Sicherheitspolitik absolute Priorität einzuräumen. Erfahrungsgemäß neigt die israelische Gesellschaft in derartigen Situationen in besonderem Maße zum nationalen Schulterschluß. Die für das Wochenende geplanten Massendemonstrationen der Protestgruppen wurden abgesagt, stattdessen soll in Tel Aviv ein Schweigemarsch mit Kerzen zum Gedenken an die Opfer durchgeführt werden.

In Deutschland spielte Charlotte Knobloch, ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden, die islamfeindliche Trumpfkarte aus: "Diese erneute Anschlagsserie ist ein katastrophaler Vorbote für das, was uns erwartet, wenn die islamistischen Terroristen im Nahen Osten weiterhin ihrer Mission einer judenfreien Region nachgehen können."

Der israelische Verteidigungsminister Ehud Barak gab Ägypten eine Mitschuld an den Anschlägen. "Die Angriffe sind ein Beweis für die mangelnde Kontrolle der Ägypter auf der Sinai-Halbinsel und das Erstarken terroristischer Gruppen dort", hieß es in einer Erklärung des Ministeriums. Seit dem Friedensvertrag mit Ägypten 1978 war die Südgrenze Israels weitgehend ruhig und stand unter keiner besonderen Beobachtung. Zwar versicherten ägyptische Behörden, die Urheber des Anschlags hätten nicht aus dem Sinai nach Israel eindringen können, da die Grenze zu stark gesichert sei. Das scheint jedoch nicht der Fall zu sein. Daß die Grenze bislang relativ durchlässig ist, nutzen afrikanische Flüchtlinge für ihre Passage nach Israel. Um sich gegen die Armutsmigration abzuschotten, hatte die Regierung in Jerusalem im Januar 2010 beschlossen, die 230 Grenzkilometer mit einem mehr als 20 Millionen Euro teuren Zaun zu sichern. Von der Anlage, die Ende 2012 fertiggestellt werden soll, sind bislang erst 20 Kilometer abgeschlossen.

Seit dem Sturz von Präsident Husni Mubarak, der als enger Verbündeter Israel den Rücken freigehalten hatte, hat sich die Situation erheblich verändert. So wurden die ägyptischen Sicherheitskräfte im Zuge der Umwälzungen im eigenen Land weitgehend aus dem Sinai abgezogen. Israel hat den Ägyptern daher in den vergangenen Monaten gestattet, ihre Truppenpräsenz im Sinai weit über die im Friedensvertrag von Camp David vereinbarten Kontingente hinaus zu erweitern. Auf diese Weise hofft die israelische Regierung, weitere Anschläge auf die Gaspipeline zu verhindern, den Warenverkehr in den Gazastreifen zu unterbinden und die Region wieder unter Kontrolle zu bringen. Derzeit sind Tausende ägyptische Soldaten mit ihren Panzern in der Gegend von al-Arisch in unmittelbarer Nähe zum Gazastreifen stationiert. Erst am vergangenen Freitag waren weitere Soldaten in die Region entsandt worden.

Wie der frühere israelische Botschafter in Ägypten, Eli Shaked, sagte, sei man davon ausgegangen, daß man "die Anarchie im Nachbarland" nicht verhindern könne. Unglücklicherweise sei man diesmal nicht in der Lage gewesen, den Angriff zu unterbinden und die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. "Wir haben ein großes Problem an der Grenze." [5] Verteidigungsminister Barak bezeichnete die Anschläge als "schweren terroristischen Zwischenfall", der seinen Ursprung in Gaza habe und in Zusammenhang damit stehen könnte, daß Ägypten seit der Revolution seinen Zugriff auf den Sinai verliere. Allerdings enthielt sich Israel einer regelrechten Bezichtigung der ägyptischen Behörden, wohl um das ohnehin angespannte Verhältnis nicht zu belasten. Netanjahu nannte in seiner Fernsehansprache Ägypten nicht beim Namen, und ein Regierungsvertreter verlieh der Hoffnung Ausdruck, "daß diese Tragödie der ägyptischen Seite einen Anstoß" geben werde, die "Souveränität im gesamten Sinai durchzusetzen und das Sicherheitsvakuum zu beenden", das dort in Erscheinung getreten sei. [6]

Die israelische Regierung setzt angesichts der Häufung ihrer aktuellen Problemlagen offensichtlich auf eine militärische und sicherheitspolitische Offensive, bei der die neuen Machthaber Ägyptens eingebunden werden sollen. Leidtragende sind neben den Beduinen im Sinai insbesondere die Palästinenser im Gazastreifen, die zweifellos die volle Wucht uneingeschränkter israelischer Suprematie zu spüren bekommen.

Fußnoten:

[1] http://www.welt.de/print/die_welt/politik/article13553501/Terrorserie-im-Sueden-Israels.html

[2] http://www.sueddeutsche.de/politik/nach-der-terrorserie-warum-der-arabische-fruehling-die-gefahr-fuer-israel-erhoeht-1.1132735

[3] http://www.stern.de/politik/ausland/reaktionen-auf-terroranschlaege-israel-bombt-zurueck-1718259.html

[4] http://www.abendblatt.de/politik/article1997253/Kaempfe-zwischen-Israelis-und-Palaestinensern-gehen-weiter.html

[5] http://www.csmonitor.com/World/Middle-East/2011/0818/Israelis-blame-terrorist-border-attacks-on-Gaza-militants-poor-security

[6] http://www.nytimes.com/2011/08/19/world/middleeast/19israel.html

19. August 2011