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NAHOST/1043: Lieberman wütet - Netanjahu mimt den Löwenbändiger (SB)


Pseudostreit im Kabinett läßt äußeren Druck verpuffen


Israels Außenminister Avigdor Lieberman, dessen politische Positionen man in europäischen Ländern vermutlich als faschistisch bezeichnen und angesichts ihrer rassistischen und völkerverhetzenden Inhalte auf eine mögliche Strafbarkeit prüfen würde, hat erneut mit umstrittenen Äußerungen für beträchtliche Turbulenzen gesorgt. Wenn der Außenminister zu Kernfragen wie einem Friedensvertrag mit den Palästinensern oder den aktuellen Beziehungen zur Türkei auf eine Weise Stellung nimmt, von der sich der Ministerpräsident und der Kabinettsminister umgehend distanzieren, stellt sich um so mehr die Frage, mit welcher Art von Regierung und Regierungspolitik man es eigentlich zu tun hat.

Die gängige Formel, Benjamin Netanjahu müsse um seiner Koalition willen auf die reaktionären Bündnispartner Rücksicht nehmen, spiegelt zwar die parteipolitischen Verhältnisse wieder, greift aber in Hinblick auf die Außenwirkung zu kurz. Man kann sich kaum des Eindrucks erwehren, daß die vermeintlich erbittert streitenden Fraktionen einander zugleich solange die Bälle zuspielen, bis jeder von außen einwirkende Druck abgepuffert und jede Konzession Israels kurzerhand für unmöglich erklärt wird. Den Blick auf die Befindlichkeiten der Regierungskoalition und deren unablässige Zerwürfnisse zu fixieren, degradiert die Akteure der internationalen Nahostpolitik zu einer Riege passiver Zuschauer, denen der Vorwand nur allzu gelegen kommt, man dürfe dieses fragile Konstrukt keinesfalls durch Sanktionen erschüttern.

Am Sonntag erklärte Lieberman vor israelischen Botschaftern in Jerusalem, es werde keinen Friedensvertrag mit den Palästinensern geben, selbst wenn man ihnen Tel Aviv als Hauptstadt eines eigenen Staates und mehr Gebiete als in den Grenzen vor dem Sechstagekrieg von 1967 anbieten würde. Israel sollte gar nicht erst versuchen, eine umfassende Friedensregelung binnen eines Jahres zu erzielen, sondern besser einen langfristigen Zwischenvertrag anstreben, in dem Sicherheits- und Wirtschaftsfragen geregelt werden. Israelische Medien zitierten den Außenminister mit den Worten, die Palästinenser erhielten gegenwärtig Applaus von der Welt und Anerkennung für einen palästinensischen Staat ohne Verhandlungen. Dabei hätten sie gar kein echtes Interesse an einer Friedensregelung und wollten Israel nur hintergehen. "Wir haben auch die Möglichkeit einer Politik der Peitsche, nicht nur des Zuckerbrots", drohte Lieberman der Autonomiebehörde von Mahmoud Abbas. [1] "Es ist nicht nur unmöglich, es ist schlicht verboten", erklärte er, da die palästinensische Regierung im Westjordanland angesichts ihrer Verschiebung der Wahlen "nicht legitimiert" sei. [2]

Den Palästinensern vorzuwerfen, sie führten in der UNO einen "diplomatischen Krieg" gegen Israel, stellt die Verhältnisse auf eklatante und provozierende Weise auf den Kopf. Die jüngste Runde direkter Friedensverhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern war im September abgebrochen worden, weil ein israelischer Baustopp für Siedlungen im Westjordanland ablief, ohne daß er verlängert worden wäre. Obgleich die US-Regierung weitreichende politische und militärische Geschenke im Tausch für das Linsengericht eines weiteren und definitiv letzten befristeten Siedlungsstopps in Aussicht gestellt hatte, um den festgefahrenen Friedensprozeß wiederzubeleben, durchkreuzte die israelische Führung mit ihrer Weigerung dieses Vorhaben.

In ihrer Not, wie so oft in Scheinverhandlungen vorgeführt worden zu sein und mit leeren Händen dazustehen, bedienten sich Vertreter der Palästinenser der Vorgehensweise, ihren Anspruch auf Staatlichkeit von Verhandlungsergebnissen zu trennen. Sie riefen dazu auf, einen unabhängigen palästinensischen Staat innerhalb der völkerrechtlichen Grenzen anzuerkennen, die vor der 1967 erfolgten Besetzung des Westjordanlandes und des Gazastreifens durch Israel bestanden haben. Damit stehen sie in Einklang mit diversen Resolutionen des UNO-Sicherheitsrats, die dem palästinensischen Volk das Recht auf einen eigenen Staat zusprechen. In jüngster Zeit haben Brasilien, Argentinien, Bolivien und Ecuador den Staat Palästina offiziell anerkannt. [3]

Ein Sprecher von Mahmoud Abbas wies die Äußerungen Liebermans zurück. Wie Ghassan Chatib erklärte, habe der größte Teil der Welt - einschließlich Israel - die Legitimität der palästinensischen Regierung anerkannt. Die palästinensische Seite werde kein Interimsabkommen akzeptieren: "Es ist jetzt zu spät für alles außer einem Ende der Besatzung und der Genehmigung zweier Staaten in den Grenzen von 1976."

Noch in der Nacht zum Montag distanzierte sich das Büro Benjamin Netanjahus in einer Stellungnahme von den Äußerungen Liebermans mit der Erklärung, diese spiegelten nur dessen eigene Ansichten, nicht jedoch die Regierungslinie wider. Darauf erwiderte Lieberman wiederum postwendend am Montag im israelischen Rundfunk, er und Netanjahu hätten unterschiedliche Weltanschauungen. "Aber im Moment gibt mir die Realität recht", so der Außenminister.

Die tiefe Spaltung innerhalb der israelischen Regierung unterstrich auch eine Stellungnahme von Kabinettsminister Binjamin Ben Elieser, der vor einem Stillstand der Nahost-Friedensverhandlungen warnte, da dieser den Interessen der Regierung in Jerusalem schadete. Sollten die Verhandlungen nicht fortgesetzt werden, könnte die internationale Gemeinschaft binnen eines Jahres einen souveränen palästinensischen Staat anerkennen. In diesem Fall würde sich Israel "in einer Situation wiederfinden, in der die ganze Welt - und ich wäre nicht überrascht, wenn auch die USA (dabei wären) - einen palästinensischen Staat unterstützen würden", erklärte Ben Elieser.

In dieser Äußerung taucht der Staat der Palästinenser keineswegs als deren Recht oder nachvollziehbarer Anspruch, sondern ausschließlich als Risiko für Israel auf, das man unbedingt vermeiden müsse. Auch wenn der Kabinettsminister dies nicht offen ausspricht, legt seine Stoßrichtung doch nahe, daß Friedensverhandlungen ausschließlich dem taktischen Kalkül geschuldet sind, die Palästinenser und insbesondere die internationale Staatengemeinschaft wie schon in der Vergangenheit auf unabsehbare Zeit hinzuhalten. Aus Ben Eliesers Worten spricht das Eingeständnis, wie vorzüglich der massive Schulterschluß zugunsten israelischer Interessen bislang funktioniert hat, aber auch die Befürchtung, daß dieser Pakt unversehens brechen könnte, sofern man den Bogen der Konfrontation maßlos überspannt.

Diese Sorge, die Verbündeten könnten Israel eines nicht allzu fernen Tages in die Parade fahren oder ihm gar die kalte Schulter zeigen, scheint Avigdor Lieberman offenbar keine schlaflosen Nächte zu bereiten. Er hält gezielt zur Schau gestellte Stärke und Überlegenheit, der sich alle Welt zu unterwerfen habe, für das natürliche und beste Mittel, wenn er sich durch wilde Drohgebärden Respekt zu verschaffen glaubt. Das gilt nicht nur für die Palästinenser, die aus seiner Sicht weit unter ihm und seinesgleichen stehen, sondern auch für die Türken. Obgleich die enge Zusammenarbeit mit der türkischen Regierung für Israel in der Vergangenheit einem strategischen Befreiungsschlag im regionalen Umfeld gleichkam und Ankara gerade daran geht, die zwischenzeitlich gestörten Beziehungen wieder zu reparieren, scheut sich Lieberman nicht, wie ein Elefant im Porzellanladen zu wüten.

Die türkischen Forderungen nach einer Entschuldigung Israels für den Angriff auf die Gaza-Hilfsflotte in internationalen Gewässern bezeichnete er als "Unverschämtheit": "Wenn sich jemand entschuldigen muß, dann sind sie es, dafür, daß sie mit Terroraktivisten kooperiert haben." Bekanntlich hatten Angehörige der israelischen Eliteeinheit "Shayetet 13" bei der Kommandoaktion acht türkische Palästina-Solidaritätsaktivisten und einen türkisch-amerikanischen Doppelstaatsbürger an Bord des Schiffes "Mavi Marmara" getötet. Daraufhin hatte die Türkei ihren Botschafter aus Israel abberufen und ihren Luftraum für israelische Militärflüge gesperrt. Damit nicht genug, warf Lieberman seinem türkischen Amtskollegen Ahmet Davutoglu "Lügen" vor. "Der türkische Außenminister hat gesagt: 'Seht, wie wir Israel bei dem Carmel-Feuer geholfen haben, während sie an unserer Stelle gezögert und nicht dasselbe getan hätten'", so Lieberman. "Ich möchte ihm das Erdbeben von 1999 (in der Türkei) in Erinnerung rufen, als wir eine Delegation von 240 Helfern geschickt haben."

Avigdor Lieberman ist gewiß nicht so naiv oder unerfahren, daß er nicht wüßte, wie seine Bezichtigung in Ankara ankommt. Da ihm klar sein muß, daß für Israel funktionierende Beziehungen zur Türkei aus einer ganzen Reihe guter Gründe Gold wert sind, kann ihm nicht daran gelegen sein, sie mutwillig zu ruinieren. Offensichtlich geht er davon aus, daß Beziehungen Israels zu anderen Staaten nur dann gut und mithin anstrebenswert sind, wenn sie auf bedingungsloser Unterstützung israelischer Regierungspolitik seitens des Partnerlands basieren.

Wenngleich sich Ministerpräsident Netanjahu und Kabinettsminister Ben Elieser umgehend von Liebermans Äußerungen distanziert haben, geht diese Abgrenzung nicht so weit, die Zusammenarbeit im Kabinett mit ihm in Frage zu stellen. Die Anwürfe des Außenministers lediglich als dessen private Ansicht zu bezeichnen, die nicht der Regierungslinie entspreche, ohne weitere Konsequenzen daraus zu ziehen, läßt im Grunde nur den Schluß zu, daß die Auffassungen de facto nicht weit auseinander liegen. Lieberman spricht in der ihm eigenen Brutalität viele Dinge in einer von keinerlei Rücksichtnahme gebremsten Offenheit aus, die andere zwar denken, aber mit Blick auf die Reaktionen im Ausland lieber kaschiert und verklausuliert geäußert wissen möchten.

Mag ein Lieberman dem Regierungschef auch alle paar Tage Kopfschmerzen bereiten, so kann Netanjahu den auf dem diplomatischen Parkett tunlichst geschnittenen Außenminister und Koalitionspartner doch gut gebrauchen. Die Rolle des Löwenbändigers im Kabinett, der die nationalkonservative und orthodoxe Rechte im Zaum hält und beständig den Eindruck erweckt, er wolle und könne Schlimmeres verhüten, erlaubt es dem Ministerpräsidenten, alle Forderungen Washingtons, der Europäer und natürlich der Palästinenser abzuschmettern, da ihm leider die Hände gebunden seien.

Diese Farce wäre längst entsorgt, diente sie nicht zugleich den verbündeten Regierungen und elitären Interessen in Europa und den USA, Israel als politische und insbesondere militärische Speerspitze im Nahen Osten nach wie vor rückhaltlos zu unterstützen. Netanjahu, Lieberman und Ben Elieser wissen nur zu gut, daß Israels Stärke gewünscht und gefördert wird. Worin sie sich unterscheiden, ist die Einschätzung, wie strapazierfähig die Einstellung der Bevölkerung in den Unterstützerländern ist. Am Ende könnte ja jemand anfangen, die vielzitierten Menschenrechte der Palästinenser ernstzunehmen und sich verwundert zu fragen, warum diese so viel weniger wert sein sollen als die der Bürger jenes Landes, das von sich behauptet, die einzige Demokratie im Nahen Osten zu sein.

Anmerkungen:

[1] Lieberman greift Palästinenser und Türkei an (27.12.10)
http://www.greenpeace-magazin.de/index.php?id=55&tx_ttnews%5Btt_news%5D=95407&tx_ttnews%5BbackPid%5D=23&cHash=eae9cdc763

[2] Friedensabkommen. Netanyahu geht auf Distanz zu seinem Außenminister (26.12.10)
http://derstandard.at/1293369473916/Friedensabkommen-Netanyahu-geht-auf-Distanz-zu-seinem-Aussenminister

[3] Lieberman droht mit "Politik der Peitsche" (27.12.10)
http://www.tt.com/csp/cms/sites/tt/Nachrichten/1949468-2/lieberman-droht-mit-politik-der-peitsche.csp

27. Dezember 2010