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NAHOST/1009: USA nach Iran-Abstimmung verstimmt über die Türkei (SB)


USA nach Iran-Abstimmung verstimmt auf die Türkei

Washington empfindet Eigenständigkeit Ankaras als Majestätsbeleidigung


Bei den NATO-Verbündeten USA und der Türkei hängt der Haussegen schief. Zum ersten großen Krach kam es 2003, als sich Ankara weigerte, an dem illegalen Überfall auf den Irak teilzunehmen und den USA und Großbritannien den Südosten der Türkei als Truppenaufmarschgebiet zur Verfügung zu stellen. Die Kritik der Regierung von Premierminister Recep Tayyip Erdogan an Israel nach dessen Gaza-Offensive "Vergossenes Blei" im Januar 2009 wurde in Washington als überzogen empfunden. Doch gerade in den letzten Wochen hat die Entfremdung der USA und der Türkei voneinander ein noch niemals dagewesenes Ausmaß erreicht.

Dafür gibt es drei Gründe: erstens die von Brasilien und der Türkei mit dem Iran am 17. Mai ausgehandelte Vereinbarung über die Auslagerung schwachangereicherten iranischen Urans, die eine friedliche Lösung des Atomstreits ermöglichen soll und die US-Außenministerin Hillary Clinton unverzüglich als ungenügend vom Tisch wischte; zweitens, der israelische Überfall auf den humanitären Gaza-Schiffskonvoi am 31. Mai, bei dem acht Bürger der Türkei und ein US-Bürger türkischer Herkunft erschossen wurden und sich die USA zu keiner Verurteilung Israelis durchringen konnten; drittens, die Abstimmung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 9. Juni über eine von den USA forcierte, neue Sanktionsrunde gegen den Iran; als einzige Staaten im Sicherheitsrat haben Brasilien und die Türkei gegen die Resolution votiert.

Seit Unterzeichnung der Vereinbarung von Teheran läuft in tonangebenden US-Medien wie der New York Times und der Washington Post eine regelrechte Hetzkampagne gegen Brasilien und die Türkei. Während man den Brasilianern lediglich unterstellt, diese hätten sich aufgrund ihrer angeblichen außenpolitischen Unerfahrenheit von den Mullahs in Teheran über den Tisch ziehen lassen, wird die Türkei offen als Land dargestellt, das durch die Kritik an Israel und den Einsatz für eine diplomatische Lösung des Atomstreits auf dem besten Weg sei, sich aus dem westlich-säkularen Lager zu verabschieden und sich zum islamischen "Schurkenstaaten" an der Seite des Irans, Syriens und der "Terroristen" von der libanesischen Hisb Allah und der palästinensischen Hamas zu entwickeln.

Nichts drückt die imperialistische Sichtweise Washingtons besser aus als die jüngste Forderung des US-Außenministeriums, Brasilien und die Türkei sollten ihr Verhalten bei der jüngsten Iran-Abstimmung im UN-Sicherheitsrat "erklären". Nach einer entsprechenden Stellungnahme des US-Außenamtssprechers Philip Crowley vom 10. Juni berichtete am folgenden Tag die israelische Tageszeitung Ha'aretz unter Verweis auf "Quellen, die der amerikanischen Administration nahestehen", die Regierung von Barack Obama empfinde das Votum Brasilias und Ankaras gegen die vierte Runde von UN-Sanktionen gegen den Iran als "Schlag ins Gesicht".

Bei einem Treffen des Türkisch-Arabischen Kooperationsforums in Ankara am 10. Juni hatte Erdogan das Verhalten seiner Regierung bei der Iran-Abstimmung wie folgt begründet: "Hätten wir nicht 'nein' zu den Sanktionen gesagt, hätten wir uns selbst verleugnet. Es wäre unehrenhaft gewesen. Wir wollten nicht an einem solchen Akt der Unehre teilnehmen, denn die Geschichte hätte uns das niemals verziehen." Erdogans Verwendung des Ehrbegriffs verweist auf die Tatsache, daß Ankara und Brasilia bei ihren Verhandlungen mit Teheran über eine Beilegung des Atomstreits bis zuletzt mit dem Weißen Haus in Verbindung standen und in dessen Sinne zu handeln glaubten. Dies belegt auch jener auf den 20. April datierte Brief, den Obama an Lula zum Thema des Zwecks der Verhandlungen schrieb und den in voller Länge die Brasilianer am 27. Mai als Antwort auf die abweisende Reaktion Hillary Clintons auf die Einigung von Teheran veröffentlichten.

In einem hochinteressanten Artikel über das derzeit angespannte Verhältnis zwischen Washington und Ankara, der am 9. Juni in der New York Times unter der Überschrift "Turkey Goes From Pliable Ally to Thorn for U.S." ("Türkei wandelt sich für die USA vom fügsamen Alliierten zum Dorn im Auge") erschienen ist, erklärte der Historiker Stephen Kinzer, Autor des preisgekrönten Buchs "All the Shah's Men" über den Sturz der iranischen Regierung Mohammed Mossadeghs 1953 durch die CIA und ein Kritiker der bisherigen Nahostpolitik Washingtons, den Standpunkt der Türkei wie folgt: "Die Türken sagen den USA: 'Der Kalte Krieg ist vorbei. Sie müssen eine kooperativere Herangehensweise an den Tag legen, und wir können Ihnen dabei helfen.' Doch die USA sind nicht bereit, das Angebot anzunehmen." Warum das so ist, erläuterte im selben NYT-Artikel Steven A. Cook von der einflußreichen New Yorker Denkfabrik Council on Foreign Relations (CFR). Laut Cook "laufen" die Türken im Nahen Osten "herum und tun Dinge, die an dem vorbeilaufen, was die Großmächte in der Region wollen". Unter "Großmächten in der Region" versteht Cook offenbar die USA, Israel und vielleicht die EU, aber Rußland, den Iran oder die Türkei offenbar nicht. Laut Cook stellt sich derzeit die außenpolitische Elite der USA folgende Frage: "Wie kriegen wir die Türken dazu, daß sie in ihrer Spur bleiben?"

12. Juni 2010