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NAHOST/1005: USA halten Atomstreit mit dem Iran am Leben (SB)


USA halten Atomstreit mit dem Iran am Leben

Washington torpediert diplomatische Bemühungen Ankaras und Brasilias


Überschattet von der weltweiten Empörung über dem blutigen Überfall der israelischen Marine auf einen Richtung Gaza fahrenden, humanitären Schiffskonvoi am 31. Mai im östlichen Mittelmeer, spitzt sich der Streit um das iranische Atomprogramm gefährlich zu. Am 17. Mai hatten in Teheran Luiz Inacio Lula da Silva, der Präsident Brasiliens, und der Premierminister der Türkei, Recip Tayyip Erdogan, mit dem iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad einen möglichen Ausweg aus dem sogenannten Atomstreit ausgehandelt. Demnach sollte der Iran, wie im letzten Oktober in Genf von den Vertretern Frankreichs, Rußlands, der USA und der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) angeregt, 1200 Kilogramm schwach angereichertes Uran gegen 120 Kilogramm mittelangereichertes Uran eintauschen, um aus letzterem Isotope zur Behandlung von Krebspatienten gewinnen zu können.

Der Durchbruch kam zustande, weil sich Brasilien und die Türkei bereit erklärten, als Garanten für einen sauberen Ablauf zu sorgen. Aus Angst, den mit eigenen Mitteln hergestellten Grundstock an spaltbarem Material aus der Hand zu geben und zu riskieren, im Gegenzug nichts zu bekommen, hatten die Iraner gefordert, daß der Austausch sowohl in ihrem Land als auch zeitgleich stattfinde. Dies hatten die USA, Rußland, das das iranische Material von einen Grad von 3,5 Prozent Uran 235 - genug für die Verarbeitung zu Kernkraftwerksbrennstäben - auf 20 Prozent anreichern sollte, und Frankreich, das anschließend aus jenem Material Brennelemente für den in den siebziger Jahren während der Schah-Ära errichteten Testreaktor in Teheran herstellen sollte, abgelehnt. Als Kompromißlösung vereinbarten Erdogan und Lula mit Ahmadinedschad, daß das schwach angereicherte Uran in die Türkei ausgelagert werden sollte. Innerhalb von zwölf Monaten sollten die Brennelemente von Frankreich hergestellt und an Teheran ausgeliefert werden, ansonsten ginge das iranische Material an den Iran zurück.

Wie ebenfalls vereinbart, hat der Iran am 24. Mai die sogenannte Vienna Group, Frankreich, Rußland, die USA und die IAEA, formell über die Details des Drei-Länder-Abkommens informiert. Seitdem wartet man vergeblich auf eine positive Reaktion. Im Gegenteil deutet alles darauf hin, daß die USA an ihrer für Teheran nicht hinnehmbaren Forderung nach Einstellung aller Uranreicherung im Iran und an ihren Plänen zur Verhängung einer vierten Runde von schwerer Sanktionen gegen die Islamische Republik durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen festhalten. Für die USA ist eine Umsetzung des im letzten Oktober ins Auge gefaßten Arrangements offenbar nicht mehr relevant, weil der Iran seitdem weiter schwachangereichertes Uran produziert hat und inzwischen nicht mehr über 1200 Kilogramm, sondern über 2500 Kilogramm - das heißt theoretisch genug zur Herstellung nicht nur von einer, sondern von zwei Atomsprengköpfen - verfügt.

Letztere Angabe geht aus dem jüngsten Bericht der IAEA hervor, der erst nächste Woche dem Gouverneursrat der UN-Unterorganisation vorgelegt werden sollte, aber bereits in der Nacht vom 30. Mai auf den 31. Mai von Unbekannten ausgesuchten Medien zugespielt wurde. In dem Bericht wird einerseits auf die bessere Zusammenarbeit der Iraner, was die Überwachung ihrer Nuklearanlagen betrifft, hingewiesen und erneut festgestellt, daß kein spaltbares Material zu militärischen Zwecken abgezweigt worden ist, andererseits die Weigerung Teherans, Fragen hinsichtlich Hinweisen auf die Erforschung des Sprengkopfbaus - die ohnehin vom Mossad gekommen, wenn nicht sogar erfunden worden zu sein scheinen - moniert. In einer Stellungnahme hat am 1. Juni Michael Hammer, Pressesprecher des Weißen Hauses, den offiziell noch nicht veröffentlichten IAEA-Bericht dahingehend ausgelegt, daß er "Irans fortgesetzte Weigerung, seinen internationalen Verpflichtungen nachzukommen, und seinen anhaltenden Mangel an Kooperation gegenüber der IAEA klar" beweise und daß er unterstreiche, daß "sich der Iran geweigert" habe, diejenigen Schritte zu unternehmen, ohne die "konstruktive Verhandlungen" zum Thema seines Atomprogramms nicht möglich wären.

Für US-Außenministerin Hillary Clinton, die gleich von Anfang an die Bedeutung des Abkommens von Teheran als irrelevant abgetan hatte, dürfte der jüngste IAEA-Bericht als Beleg für die Notwendigkeit neuer UN-Sanktionen gegen den Iran herhalten. Nur wenige Stunden nach Bekanntwerden des diplomatischen Durchbruchs in der iranischen Hauptstadt trumpfte Clinton bei einem Auftritt vor dem Kongreß in Washington mit der Erklärung auf, bei eigenen Gesprächen mit den Vertretern Chinas und Rußlands habe sie den Weg für neue UN-Sanktionen gegen die Islamische Republik freimachen können. Seit mehr als zwei Wochen liefert sich die ehemalige Senatorin von New York, die als Wortführerin der pro-israelischen Kräfte innerhalb der Regierung Barack Obamas gilt, einen erbitterten Streit mit den Brasilianern und den Türken über die Umsetzbarkeit von deren Vereinbarungen mit den Iranern. In aller Öffentlichkeit hat Clinton Erdogan und Lula sowie ihre Außenminister Ahmet Davutoglu und Celso Amorim als unerfahrene Hochstapler auf dem diplomatischen Parkett hingestellt, die durch ihre unwillkommene Einmischung in den sogenannten Atomstreit Teheran weitere "Zeit verschafft" hätten, in der es "seinen internationalen Verpflichtungen nicht nachkommen" müsse, und somit "die Welt gefährlicher statt wenig gefährlich" gemacht hätten.

Clintons Brüskierung der Brasilianer und Türken wird auch von der regierungnahen US-Presse unterstützt, wenn nicht sogar gefeiert, nach dem Motto, die anmaßenden Dritteweltler sollten sich mit den ihnen zugedachten hinteren Ränge in der "internationalen Gemeinschaft" abfinden. In einem Artikel, der am 24. Mai in der Washington Post unter der Überschrift "Spat over Iran may further strain relations between allies U.S., Turkey" erschienen ist, wurde der Türkei-Experte Henri Barkey vom Carnegie Endowment for International Peace in Washington dahin gehend zitiert, durch ihre diplomatische Schützenhilfe für den Iran seien die Türken gerade dabei "die Beziehungen zu den USA zu vermasseln". Am darauffolgenden Tag wartete die New York Times mit dem Artikel "Iran Deal Seen as Spot on Brazilian Leader's Legacy" auf, in dem es hieß, durch seine Bemühungen um eine friedliche Beilegung des Atomstreits habe Lula sich nicht nur als naiv erwiesen, sondern auch noch dem Ansehen seines Lands geschadet.

Bei einem Staatsbesuch in Brasilien am 29. Mai ließ Erdogan seiner Enttäuschung und Frustration über die Reaktion des Westens im allgemeinen, der USA im besonderen auf den Deal von Teheran freien Lauf. Wie die Nachrichtenagentur Anatolia berichtete, warf Erdogan dem Westen vor, das umfangreiche Atomwaffenarsenal Israels stillschweigend zu dulden, jedoch "in Bezug auf den Iran die Welt in Aufregung zu versetzen". Er erklärte, er empfinde eine solche Ungleichbehandlung "weder als ehrlich noch aufrichtig". Erdogan, der sich in diesem Zusammenhang nochmals ausdrücklich zum Ziel einer atomwaffenfreien Zone in Nahen Osten bekannte, wies die Kritik Clintons energisch zurück: "Der Schritt, den wir unternommen haben, bringt die Welt nicht in Gefahr. Im Gegenteil handelt es sich geradezu um einen Versuch, eine Gefährdung der Welt zu verhindern."

Bei dieser Gelegenheit gab Erdogan eine Information preis, die den Verdacht nahelegt, daß die USA und Frankreich kein Interesse mehr an Verhandlungen mit dem Iran haben. Er warf dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy persönlich vor, die Bedingungen für eine Kompromißlösung nach der Einigung von Teheran geändert zu haben. Nach Angaben von Erdogan hatten Brasilien und die Türkei mit dem Iran ausgehandelt, daß es die 1200 Kilogramm für ein Jahr aus der Hand gibt, weil ihnen vorher zugesichert worden war, daß man Teheran innerhalb von zehn Monaten mit den Elementen aus mittelangereichertem Uran für seinen Testreaktor beliefern könnte. Auf diese Weise hätten er und Lula "einen zusätzlichen Puffer von zwei Monaten herausgeholt"; doch nun sagten die Franzosen, "daß sie zur Herstellung dieser 120 Kilogramm mehr als zwei Jahren bräuchten", so Erdogan. "Dies zu verstehen ist unmöglich", erklärte der türkische Regierungschef.

Diese Enthüllung läßt einen jedoch sehr wohl verstehen, warum man von der Vienna Group nichts gehört hat, obwohl nach dem Deal von Teheran das iranische Spaltmaterial bis Ende Mai in die Türkei hätte transportiert werden sollen, und warum die US-Regierung derzeit zuversichtliche Signale von sich gibt, daß sie die von ihr gewünschte vierte Sanktionsrunde innerhalb der nächsten Tage vom UN-Sicherheitsrat verabschiedet bekommen wird. Dafür müssen nur neun Ratsmitglieder zustimmen und darf kein ständiges Mitglied sein Veto einlegen. Enthalten sich China und Rußland der Stimme und votieren Brasilien, die Türkei und der Libanon wie zu erwarten dagegen, dürften die USA und ihre NATO-Verbündeten Großbritannien und Frankreich in der Lage sein, Bosnien-Herzegowina, Gabun, Japan, Mexiko, Nigeria und Uganda ihren Willen aufzuzwingen und sie zu einem Ja zu bewegen.

Wie man weiß, fallen die im Resolutionsentwurf enthaltenen Wirtschaftssanktionen nicht so schwer, wie ursprünglich geplant, aus. Dafür sollen Schiffsinspektionen mandatiert werden, um die Einfuhr von Nuklear- oder Raketentechnologie in den Iran zu verhindern. Wie leicht und wie schnell sich aus einer ungebetenen Inspektion des Schiffs eines Landes durch Marinestreitkräfte eines anderen eine internationale Krise entwickeln kann, haben die jüngsten Ereignisse um die Free-Gaza-Flottille eindrücklich bewiesen. Vor diesem Hintergrund läßt die Meldung der Londoner Sunday Times vom 31. Mai, die israelische Marine werde in den nächsten Tagen drei ihrer in Deutschland gebauten, mit Atomwaffen nachgerüsteten U-Boote am Persischen Golf vor der Küste des Irans stationieren, das Schlimmste befürchten.

2. Juni 2010