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NAHOST/945: Für den Siedlungsbau Israels bedeutet Status quo Expansion (SB)


Siedler als strategisches Instrument und politisches Faustpfand


Die Vereinigten Staaten zahlen Israel jährlich 2,3 Milliarden Dollar an Hilfsgeldern sowie mehrere Milliarden Dollar in ihrer Höhe nicht exakt zu bestimmender Militärhilfe. Die israelische Regierung hat in ihrem Haushalt 250 Millionen Dollar für die Siedlungen ausgewiesen, wovon die Hälfte für den Ausbau vorgesehen ist. Weitere direkte und indirekte Subventionen für die Siedler in beträchtlichem Umfang sind in verschiedenen anderen Etatposten untergebracht. Der Siedlungsbau ist und bleibt ein Projekt des Staates Israel, das dieser mit internationaler Rückendeckung betreibt, und dies obwohl die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse des Landes auf Talfahrt gehen und die internationale Kritik an der ungezügelten Expansion zu Lasten der Palästinenser im Westjordanland derzeit wächst.

Inzwischen leben rund 500.000 jüdische Siedler in Ostjerusalem und dem Westjordanland, die im Dienst des großisraelischen Entwurfs vollendete Tatsachen unablässigen Landraubs und permanenter Fragmentierung und Einschnürung der palästinensischen Enklaven schaffen. Nach Angaben der israelischen Statistikbehörde ist die jährliche Bevölkerungszunahme in den Siedlungen mit 5,9 Prozent etwa dreieinhalbmal höher als der Landesdurchschnitt, was keineswegs allein auf eine höhere Geburtenrate zurückgeführt werden kann. So waren im Jahr 2007 rund 36 Prozent aller neuen Siedler aus Israel oder dem Ausland zugewandert. (Counterpunch 11./12.07.09)

Mehr als ein Drittel des Bevölkerungswachstums in den Siedlungen ist die unmittelbare Folge einer Subventionspolitik der israelischen Regierung, die mit günstigem Wohnraum und einer ausgezeichneten Infrastruktur Lebensverhältnisse gewährleistet, wie sie für wachsende Teile der verarmenden Bevölkerung vielerorts im Land kaum noch vorhanden sind. Bei den rund 120 Siedlungen und schätzungsweise 100 sogenannten Außenposten handelt es sich nicht um das Phänomen eines bestimmten Sektors der Gesellschaft, welcher der staatlichen Kontrolle entzogen wäre oder von dieser allenfalls befristet geduldet würde, sondern ein von allen Regierungen betriebenes Projekt der Expansion.

Dem widerspricht nicht, daß der harte Kern fanatischer Siedler göttliches Recht zur Vertreibung der Palästinenser und Okkupation von "Judäa und Samaria" geltend macht, das er mit der Waffe in der Hand notfalls auch gegen staatliche Sicherheitskräfte zu verteidigen bereit ist. Wenngleich sich diesbezüglich ein Widerspruch auftun kann, der im Falle einer großangelegten Räumung der Siedlungen durchaus in einen Bürgerkrieg zu münden droht, darf man doch nicht übersehen, daß dieser Konflikt bislang vor allem funktionalisiert wird. Weder übersteigt die Brutalität der militanten Siedler jene der israelischen Streitkräfte im Umgang mit den Palästinensern, noch ist eine Konfrontation zwischen diesen beiden Fraktionen zu erkennen, die über eng eingegrenzte und befristete Interessengegensätze hinausginge.

Obgleich das Siedlertum noch heute aus ideologischen Gründen oder naiver Verklärung mit den Anfängen jüdischer Ansiedlung und der Kibbutzbewegung assoziiert wird, handelt es sich doch mitnichten um Vorposten der Zivilisation, die mit ihrer Hände Arbeit ödes Land fruchtbar machen. Von den Gründungsmythen des Staates Israel einmal ganz abgesehen hat man es in der Gegenwart mehr denn je mit einem Raub palästinensischen Kulturlandes und der systematischen Zerstörung palästinensischer Landwirtschaft zu tun. Im wesentlichen aber sind die sogenannten neuen Siedler längst Städter, die schlichtweg subventionierten Wohnraum in einem vorteilhaften Umfeld suchen.

Das Siedlungswesen stützt sich auf ein weitverzweigtes und über die Jahre vervollkommnetes System gesetzgeberischer, administrativer, militärischer, ökonomischer und sozialer Einrichtungen, Regularien und alltäglicher Praktiken, das die physisch vorhandenen okkupierten Landflächen, Sicherheitszonen, Trennmauern, Straßen für die Siedler und Kontrollposten zu einer gesellschaftlichen Realität verknüpft und verdichtet, das fortgesetzt wirkmächtig bleibt, sofern es nicht kraft ausdrücklichen politischen Willens in all seinen Elementen abgebaut wird.

Für israelische Regierungen sind die Siedler ein strategisches Instrument und selbstgeschaffenes Faustpfand, das in allen nationalen und internationalen Debatten um das Schicksal der Palästinenser vorgehalten werden kann. Wenn das rechtsgerichtete Lager des politischen Spektrums in Israel an Einfluß gewinnt, der weit in die Gesellschaft ausstrahlt und den Kurs des Regierungshandelns dominiert, so geschieht das nicht deshalb, weil sich eine radikale Fraktion gegen das Staatsinteresse und Gemeinwohl durchsetzt, sondern weil es als Speerspitze eines von langer Hand konzipierten Entwurfs favorisiert und instrumentalisiert wird.

Dies führt unter anderem dazu, daß die aktuelle Kontroverse um den Siedlungsstopp von gezielt in Stellung gebrachten Mißverständnissen, Mehrdeutigkeiten und Täuschungsmanövern gekennzeichnet ist. Wenngleich Premierminister Benjamin Netanjahu erklärt hat, es würden weder neue Siedlungen gebaut, noch zusätzliche Landflächen dafür enteignet, ist das keineswegs mit dem vielzitierten Einfrieren des Status quo gleichzusetzen. Viele Siedlungen haben so große Flächen für sich vereinnahmt, daß sie die Bebauung in beträchtlichem Umfang vorantreiben können, ohne dadurch im technischen Sinn gegen die Vorgabe Netanjahus zu verstoßen. Auch hat Kriegsminister Ehud Barak den Bau von 300 Wohneinheiten in der Siedlung Talmon freigegeben, um zu demonstrieren, daß man die irreführende Formel des "natürlichen Wachstums" durchzusetzen gedenkt.

Daher täuscht der Eindruck, die israelische Regierung sei de facto bereit, sich mit der Obama-Administration auf einen Siedlungsstopp auf dem erreichten Niveau zu einigen. Was Netanjahu gegenwärtig herauszuschlagen versucht, ist eine mehr oder minder langgezogene Phase der Verhandlungen, unter deren Deckmantel der Ausbau der Siedlungen auf die beschriebene Weise ungehindert voranschreitet. Wie bereits angeführt, handelt es sich keineswegs um Stagnation oder ein Patt im blockierten Friedensprozeß, sondern eine ungebrochene Expansion zu Lasten der Palästinenser, bei der die Zeit der Okkupation in die Hände spielt und die Voraussetzungen eines Palästinenserstaats unterminiert, wenn nicht gar vernichtet.

Im Rahmen des von der US-Regierung angeworfenen sogenannten Friedensprozesses wäre der denkbar schlimmste Fall hinsichtlich der israelischen Siedlungspolitik nach Lage der Dinge sogar der wahrscheinlichste, nämlich eine Garantie Washingtons, den bislang erreichten Stand des Siedlungsbaus als unantastbar und unumkehrbar zu verankern und sich in Scheinverhandlungen um die Frage zu ergehen, was unter einem Einfrieren dieses Niveaus zu verstehen sei, während der Ausbau mehr oder weniger ungehindert vorangetrieben wird.

13. Juli 2009