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DISKURS/120: Bruchlinien - Kosmopolitismus, Kommunitarismus und die Demokratie (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 154/Dezember 2016
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Bruchlinien

Kosmopolitismus, Kommunitarismus und die Demokratie

von Wolfgang Merkel


Kurz gefasst: Die neue Konfliktlinie zwischen Kommunitaristen und Kosmopoliten läuft durch die Parteien und Parteiensysteme dies- und jenseits des Atlantiks. Sie führt zu einer Polarisierung der politischen Auseinandersetzung. Nicht alles daran ist negativ zu werten. Das Politische verschwindet nicht mehr in der behaupteten Alternativlosigkeit der Politik. Die repräsentativen Institutionen können diesen Konflikt demokratisch verarbeiten. Sie werden die Kosmopoliten zwingen, vom hohen moralischen Ross zu steigen. Der arrogante Ausschluss der Rechtspopulisten aus dem demokratischen Diskurs hilft nur diesen selbst.


Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst des Rechtspopulismus. Es hat sich erhoben gegen die etablierten Parteien und Eliten. Es verlangt Gehör, Mitsprache und Teilhabe in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Ein wachsender Teil der Bürger dies- und jenseits des Atlantiks fühlt sich durch die repräsentativen Institutionen und Verfahren der Demokratie nicht mehr vertreten. Die entwickelten Demokratien des Westens, aber auch jene des weniger entwickelten Ostens, haben ein Repräsentationsproblem. "Die da unten" wollen nicht mehr von "denen da oben" und "weiter so" regiert werden. Ein brisantes Gemisch von Globalisierungsverlierern, verunsicherten Kleinbürgern, abstiegsverängstigten Mittelschichten, Erzkonservativen, Chauvinisten, Nationalisten und Rassisten hat sich im Protest gegen die sie "ausgrenzende etablierte Politik" zusammengebraut.

Um in Demokratien nachhaltig gegen bestehende Strukturen und Politiken rebellieren zu können, bedarf es starker Mobilisierung oder nachhaltiger Organisation. Ersteres ist bisher ausgeblieben. Das gilt auch für die regional beschränkte, zudem immer kläglicher werdende Pegida in Dresden und anderswo. Der Rechtspopulismus hat längst wirkungsvollere politische Ausdrucksformen gefunden. Politisch-populistische Unternehmer haben die Repräsentationslücke erkannt und sich der effektivsten Organisationsform in etablierten Demokratien bemächtigt, indem sie neue Parteien gegründet oder bestehende Parteien transformiert haben. Die politisch verwaiste Nachfrage hat sich selbst das Angebot kreiert, das nun die Nachfrage weitertreibt. Tabufreie und verschwörungsaffine Zonen im Internet stimulieren diesen Zirkel von Angebot-Nachfrage-Angebot nachhaltig.

Damit politische Parteien sich aber längerfristig etablieren können, bedarf es tiefer liegender Konfliktlinien in der Gesellschaft, an denen entlang die Parteien ihre Anhänger mobilisieren können. Gibt es eine solche Konfliktlinie in den entwickelten Demokratien?

In Westeuropa geraten dadurch besonders die Volksparteien unter Druck. Die kosmopolitisch-kommunitaristische Konfliktlinie geht mitten durch ihre Programme, ihre Politik, ihre Mitglieder- und Wählerschaft. Der Konflikt droht den schon länger anhaltenden Niedergang dieses Parteientyps weiter zu beschleunigen. Profitieren werden davon vor allem die rechtspopulistischen, aber auch die kosmopolitisch-postmaterialistischen Parteien, die sich auf Kosten der traditionellen Mitte-links-Parteien schon länger etabliert haben. Die populistische Rechte hat wesentliche Teile des frei gewordenen politischen Raums jenseits der traditionellen konservativen Parteien in Westeuropa besetzt. In Osteuropa, vornehmlich in Ungarn und Polen, aber auch in der Schweiz (Schweizerische Volkspartei) steigen sie selbst zu neuen Volksparteien auf.

Die westlichen Gesellschaften haben in den vergangenen vier Jahrzehnten einen tief greifenden Kulturwandel erlebt. Neue Lebensformen, gleichgeschlechtliche Ehen, Chancengerechtigkeit der Geschlechter, Multikulturalismus und ökologische Fragen dominieren die Diskurse. In sozialdemokratischen Parteien drängten sie die Verteilungsfrage an den Rand. Progressivität wird zunehmend kulturell buchstabiert. Kosmopolitische Eliten besetzen die Spitzenpositionen in Wirtschaft, Staat, Parteien und Medien. Der kosmopolitische Diskurs der Herrschenden wurde zum herrschenden Diskurs. Kritik an ihm wurde in der öffentlichen Sphäre häufig moralisch delegitimiert. Diese Diskursverweigerung hat den Rechtspopulisten fahrlässig den Kampfbegriff der politischen Korrektheit geliefert.

Zugleich wurden traditionell konservative Werte wie Nation, nationale Identität, Leitkultur oder die Ausschließlichkeit der Mann-Frau-Ehe anachronistisch. Die nostalgische Schließung gegenüber der kulturellen Modernisierung war dann die fast folgerichtige - und hilflose - Reaktion einer weniger gebildeten, vor allem männlichen Unter- und (unteren) Mittelschicht. Diese sieht sich als Verlierer der kulturellen Moderne. Die populistische Revolte kann aus dieser Perspektive vor allem als eine Reaktion auf den überschießenden Kosmopolitismus und Moralismus des Mainstreams und der Bessergestellten gedeutet werden. Schadet dieser Konflikt der Demokratie?


Die Folgen für die Demokratie

Konflikte sind nicht neu für die Demokratie. Im Gegenteil: Einer der großen Vorzüge der Demokratie gegenüber anderen politischen Regimeformen besteht darin, dass sie Konflikte friedlich nach vorher kodifizierten und legitimierten Verfahren zu lösen vermag. Worin könnten dann die besonderen Herausforderungen für unsere Demokratien liegen, wenn sich die neue Konfliktlinie etabliert? Drei dieser Herausforderungen sollen hier diskutiert werden.

Die Positionen von Kosmopoliten und chauvinistischen Kommunitaristen besetzen normativ entgegengesetzte Pole. Das gilt für die Theorie wie für die praktische Politik. In der Parteienlandschaft findet diese Polarisierung ihre konfrontative Form in der Gegenüberstellung der etablierten Parteien des demokratischen Verfassungsbogens und den rechtspopulistischen Parias in der Grauzone von Demokratie und Autoritarismus. Der demokratische Mainstream von Habermas bis Lijphart, von der Deliberation bis zur Konkordanz, von CDU bis SPD findet Polarisierung in der Demokratie nicht wünschenswert. Die Vernunft, der Ausgleich, die macht- und interessenentlastete Deliberation oder zumindest die konfliktarme Aushandlung eines Interessenausgleichs gelten als Essenz einer postideologischen Politik des 21. Jahrhunderts. Die großen Mitte-rechts- und Mitte-links-Parteien, die partnerschaftlichen Interessenverbände und die Technokraten waren die Champions solcher Politik. Sie wurden normativ hofiert oder - hofierten sich meist selbst. Die Erfolge dieser Politik sind nicht zu vernachlässigen, die Schattenseiten sind jedoch unübersehbar: Der Reichtum der Reichen wurde größer, die Armut der Armen verhärtete sich, das neoliberale Paradigma prägte Märkte wie wirtschaftswissenschaftliche Fakultäten; konservative und reaktionäre Traditionalisten wurden mit moralischen Argumenten aus dem offiziellen Diskurs ausgegrenzt. Sie und die unteren Schichten konnten zunehmend der ökonomischen Rationalität und kosmopolitischen Vernunft wenig abgewinnen. Lange reagierten sie mit dem resignierten Rückzug aus der politischen Teilhabe.

Diesen Sachverhalt greifen Postmarxisten und Links-Schmittianer wie Chantal Mouffe und Ernesto Laclau auf, indem sie das Hohe Lied auf eine polarisierte Auseinandersetzung in einer Gesellschaft singen, die selbst von antagonistischen (Klassen-)Gegensätzen geprägt ist. Polarisierung, so ihr ernst zu nehmendes Argument, führe zu einer ehrlicheren politischen Auseinandersetzung. Sie fördere zudem die politische Partizipation und bringe Teile der ausgegrenzten, weniger privilegierten und weniger gebildeten Schichten zurück in die politische Auseinandersetzung. Polarisierung wird als Therapeutikum gegen die Politikverdrossenheit gepriesen.

Programmatische Alternativen, die in konsensdemokratischen Konstellationen und behaupteter "alternativloser Politik" unter den großen Parteien kaum mehr erkennbar waren, werden wieder sichtbar. Allerdings vollzieht sich unter den harten ökonomischen Restriktionen global entfesselter Märkte die Polarisierung weniger in der ökonomischen als in der kulturell-identitären Sphäre. Nicht die kommunitäre Einhegung der Ungleichheit erzeugenden Märkte steht oben auf der populistischen Agenda, sondern der Kampf gegen das Fremde oder gar die Fremden. Die Entfremdung der wenig kosmopolitischen unteren Schichten wird in Fremdenfeindlichkeit umgemünzt. Das pluralistisch-legitime Anliegen, nicht vom politischen Diskurs ausgegrenzt zu werden, droht an den rechten Rändern mit undemokratischen Inhalten ausgetragen zu werden. Rechtspopulistische Inhalte sind keineswegs per se undemokratisch. Sie werden es aber dann, wenn entlang rassischer, ethnischer, religiöser oder geschlechtlicher Unterschiede die beiden grundlegenden demokratischen Prinzipien der freien Gleichheit und gleichen Freiheit eingeschränkt werden.

Stärkt der Rechtspopulismus die Demokratie? Ja, würden Links-Schmittianer behaupten. Die politische Beteiligung nimmt zu, und den unteren wie entfremdeten Schichten wird wieder eine politische Stimme verliehen. Ja, müssten auch pluralistische Theoretiker der demokratischen Repräsentation antworten. Die Institutionen und Verfahren der rechtsstaatlichen Demokratie zeigen nämlich einmal mehr ihre Adaptions- und Reproduktionsfähigkeit. Nun liegt es an den etablierten Parteien, diese politischen Räume im pluralistischen Wettbewerb mit guten Argumenten und einer responsiven Politik zurückzuerobern. Dies ist das Spiel der liberalen Demokratie, die den Pluralismus ernst nimmt und nicht in einer paradoxen Intervention mit undemokratischen Verboten oder moralischen Ausgrenzungen die Demokratie zu retten versucht.

Allerdings darf demokratische Politik nicht einfach rechtspopulistische Politik kopieren, um rechtspopulistischen Parteien das Wasser abzugraben. Eine solche demokratisch fahrlässige Strategie verfolgt in Deutschland die CSU. Aber auch Kosmopoliten sollten nicht mit der kognitiven und moralischen Arroganz der Bessergebildeten kommunitaristische Positionen, selbst wenn sie einen nationalistischen Subtext aufweisen, als moralisch unzulässig aus dem Diskurs ausgrenzen. Dies provoziert eher, was es verhindern will, nämlich jene anwachsenden Teile der Bevölkerung, die nach Repräsentation suchen, den Rechtspopulisten in die Arme zu treiben.

Kosmopoliten reklamieren nicht zu Unrecht eine moralische Überlegenheit ihrer Sensibilität in Menschenrechts- und Flüchtlingsfragen. Haben sie aber auch das bessere Demokratiekonzept? Daran ist zu zweifeln. Kosmopoliten optieren, wenn sie nicht realitätsentrückt für eine demokratische Weltregierung, Weltparlamente und eine Weltzivilgesellschaft votieren, für eine bereitwillige Abgabe nationalstaatlicher Souveränitätsrechte an internationale Organisationen und supranationale Regime. Dies gilt von den Vereinten Nationen bis zur Europäischen Union, von Freihandelsabkommen bis zum Internationalen Währungsfonds, von Weltklimakonferenzen bis zu den fiskalpolitischen Direktiven gegenüber den Hochschuldnerländern in der Eurozone. Die kosmopolitische Argumentation basiert auf zwei Säulen: einer funktionalistischen und einer normativen Linie. Die Welt sei mittlerweile so stark vernetzt, dass transnationale Probleme zunähmen und nur wirkungsvoll nationalstaatsübergreifend bekämpft werden könnten. Der Nationalstaat müsse sich abfinden, in ein Mehrebenensystem effizienten Regierens eingebunden zu werden. Effizienz und Effektivität überstaatlichen Handelns werden zum legitimatorischen Fluchtpunkt der Souveränitätsteilung.

Neben diesem funktionalistischen Argument bemühen Kosmopoliten wie Thomas Pogge oder David Held auch das normative Argument, dass jene, die von politischen Entscheidungen betroffen sind, auch eine Mitsprache haben sollten. Dieses Argument geht auf das alte Römische Privatrecht zurück, wurde im Codex Justinianus festgehalten und vom Verfassungstheoretiker Hans Kelsen im Völkerrecht prominent gemacht (1925). Kelsen benutzt dieses Argument explizit dazu, um nationalstaatliche Demokratien von Diktaturen abzugrenzen. Im Extremfall würde das Betroffenheitsargument in der vernetzten Welt des 21. Jahrhunderts dazu führen, dass der ganze Rest der Welt stets auch bei den Entscheidungen der USA mit zu reden hat, da diese meist auch den Rest der Welt betreffen. Die Forderung mag normativ begründbar sein, politisch ist sie ebenso sinnlos wie naiv.

Die supranationale Ausdehnung der Demokratie hat Kosten. Je größer und komplexer politische Räume sind, umso weniger lassen sie sich demokratisch regieren, wie der Doyen der Demokratieforschung, Robert Dahl, überzeugend darlegte. Zentrale normative Güter der Demokratie wie die gleichberechtigte Partizipation der Bürger, die Transparenz und Zurechenbarkeit politischer Entscheidungen, der Parlamentsvorbehalt oder die vertikale und horizontale Herrschaftskontrolle lassen sich in der Tat weit weniger überzeugend jenseits des Nationalstaats als in seinen Grenzen realisieren. Auch Kosmopoliten würden dies wohl nicht abstreiten. Der funktionalistische Trumpf der Unausweichlichkeit von Mehrebenenentscheidungen sticht aber meist die kommunitaristischen Bedenken des Demokratieverlusts. Der Nachweis, dass die Mehrheit der Entscheidungen der UN, des IMF oder auch nur der EU als besonders effizient oder gar weise klassifiziert werden können, steht allerdings noch aus. Die partielle Blockade oder Implementationsverweigerung von Entscheidungen der EU ist gerade seit den vergangenen Erweiterungs- und Vertiefungsrunden ganz offenbar. Sie sendet ein Warnsignal an die Befürworter des Regierens jenseits des Nationalstaats.

Die nationalistische Verweigerung von supranationaler Koordination dürfte aber ebenso wenig demokratie- wie zukunftstauglich sein. Es muss ein dritter Weg gefunden werden zwischen der kosmopolitischen Großzügigkeit bei der Aufgabe nationalstaatlicher Souveränitätsrechte und dem Rückzug in die kommunitaristische Fluchtburg des Nationalstaats. Dani Rodrik, Ökonom an der Harvard University, hat jüngst zumindest die Richtung angedeutet. "Dünne supranationale Regeln", schreibt der Ökonom, müssen mit den "dicken Regeln des demokratischen Nationalstaats" verbunden werden. Es sollen durchaus supranationale Rahmenregulierungen etabliert werden, die dann aber nationalstaatlich von jedem Land spezifiziert werden können. Auch Austrittsoptionen müssen erleichtert werden. Das verhindert die Überformung demokratisch festgelegter Güter durch globalisierte Märkte und vermachtete Exekutivkoalitionen. "Demokratien", so Rodrik, "haben das Recht, ihre soziale Ordnung zu schützen; und wenn dieses Recht mit den Erfordernissen der globalen Wirtschaft kollidiert, ist es die letztere, die zurückstehen sollte". Dieser dritte Weg ist als keineswegs äquidistant zwischen der globalen Scylla und der nationalstaatlichen Charybdis. Dies gibt der nationalstaatlichen Demokratie einen Vorrang, solange diese politische Entscheidungen demokratischer organisieren kann als internationale Verträge und supranationale Regime. Es ist nicht nur das normative Primat der Demokratie, das hier trägt. Es ist auch ein Akt der politischen Klugheit, dem grassierenden Rechtspopulismus die Argumentationsgrundlagen demokratisch zu entwinden.


Wolfgang Merkel ist Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am WZB und Professor für Vergleichende Politikwissenschaft und Demokratieforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zudem ist er Koleiter des Center for Global Constitutionalism.
wolfgang.merkel@wzb.eu


Literatur

Merkel, Wolfgang (Hg.): Demokratie und Krise. Zum schwierigen Verhältnis von Theorie und Empirie. Wiesbaden: Springer VS 2015.

Rodrik, Dani: The Globalization Paradox: Democracy and the Future of the World Economy. New York: W.W. Norton 2011.

Zürn, Michael: Regieren jenseits des Nationalstaates. Globalisierung und Denationalisierung als Chance. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 154, Dezember 2016, Seite 11-14
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Januar 2017

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