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ZOOLOGIE/775: Im virtuellen Reich der Myrmekologen (DFG)


forschung 1/2009 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Im virtuellen Reich der Myrmekologen

Von Martin Pfeiffer


Die staunenswerte Vielfalt der Ameisenfauna Südostasiens zeigt ein neues wissenschaftliches Internetportal. Auf den hochaufgelösten Automontagefotos sind selbst winzigste Körperdetails zu erkennen - eine wertvolle Hilfe für Artenforscher in aller Welt.


Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Tier- und Pflanzenwelt in vielen Regionen der Erde in ihrer ganzen Breite und Vielfalt bedroht. Das gilt auch und gerade für tropische Lebensräume. Schließlich gehen dort alljährlich über sieben Millionen Hektar Regenwald durch Abholzung verloren. Mit dem Verschwinden der Tropenwälder geht ein massenhaftes Artensterben einher. Dabei sind viele dieser Arten bislang noch namenlos und von der Wissenschaft nicht einmal beschrieben.

Ein Großteil der unbekannten Spezies sind Insekten, deren Artenzahl auf bis zu fünf Millionen geschätzt wird. Ihre genaue Bestimmung und Klassifikation - Biologen nennen das "taxonomische Beschreibung" - ist ebenso schwierig wie langwierig. Erschwert werden die Identifikation und Dokumentation der tropischen Artenfülle durch die schlechte Verfügbarkeit des taxonomischen Vergleichsmaterials, das in den großen naturwissenschaftlichen Museen der Welt lagert und dort von Experten archiviert und verwaltet wird. Da von seltenen Insektenarten, die den Großteil der tropischen Funde ausmachen, oft nur wenige Tiere gesammelt werden, war bislang der Kreis der Experten schon durch die kleine Zahl der Vergleichspräparate eng umgrenzt.

Dies galt bis vor kurzem auch für die Ameisen der Tropen, die in allen Lebensräumen der Regenwälder anzutreffen sind. Sie haben in den sich wandelnden tropischen Ökosystemen Schlüsselfunktionen inne, sind taxonomisch gut bearbeitet, leicht zu fangen und - bis zur Gattung - relativ einfach zu bestimmen und daher prädestiniert für vergleichende Studien zur Biodiversität.

Um die Ameisenfauna zu erfassen, wurden früher die präparierten Insekten zu taxonomischen Spezialisten geschickt oder über den Leihverkehr der naturwissenschaftlichen Museen als Vergleichsmaterial angefordert. Heute vergleichen die Insektenforscher, auch Entomologen genannt, ihre aufgefundenen Ameisen immer öfter selbst mit qualitativ hochwertigem Bildmaterial aus dem Internet.

Taxonomische Bilddatenbanken wie das von der DFG geförderte www.antbase.net-Portal bieten hochauflösende Fotografien charakteristischer Arten, die genadelte Tiere in gestochen scharfen Bildern und in starker Vergrößerung zeigen. Diese "Automontage"- Fotografien werden am Computer aus bis zu 80 Einzelbildern errechnet und besitzen eine "endlose" Tiefenschärfe. Alle Details des Objektes sind scharf abgebildet, nirgendwo verschwimmen die Konturen. Solche Ergebnisse konnten bislang nur mit einem Elektronenmikroskop nach aufwendiger Goldbeschichtung der Objekte erzielt werden. Bei der Automontage-Fotografie, einer lichtmikroskopischen Technik, bleiben die genadelten Insekten im Ursprungszustand erhalten, auch die Farben der Präparate werden originalgetreu wiedergegeben.

"Der technologische Fortschritt in der Digitalisierung von Bilddaten erleichtert die taxonomische Bestimmung des gesammelten Materials sehr", bilanziert Dirk Mezger, Doktorand am Institut für Experimentelle Ökologie der Universität Ulm. Er erforscht das Nahrungsnetz im Boden malaysischer Regenwälder und vergleicht dabei die Ameisenfauna unterschiedlicher Waldtypen Borneos. Die langwierige Identifikation des Materials mithilfe von taxonomischen Schlüsseln bleibt dem Entomologen nicht erspart, aber von der Untersuchung von Vergleichspräparaten kann er zumeist absehen.


Neben dem Stereomikroskop, Binokular genannt, mit dem er seine Proben bestimmt, arbeitet er mit den Ameisenfotos am Computerbildschirm. "Für die Insektenbestimmung hat die Arbeit mit den Automontage-Bildern wesentliche Vorteile gegenüber dem direkten Vergleich mit Sammlungsobjekten", erläutert Dirk Mezger, "so erspart man sich das umständliche Wechseln des Untersuchungsobjektes und das Fokussieren des Binokulars auf morphologische Details. Alle wichtigen Merkmale sind mit einem Blick auf dem Computerschirm erkennbar, und es können Fundobjekt und Bestimmungsmerkmale in Ruhe verglichen werden."

Dies ist besonders wichtig bei tropischen Insekten, bei denen die Anzahl unbekannter Arten die der bereits beschriebenen übertrifft. Hier helfen die Automontage-Fotografien Fehlbestimmungen zu vermeiden. Während früher nur taxonomische Spezialisten sofortigen Zugang zum Vergleichsmaterial hatten, um die Bestimmungen rasch und genau durchführen zu können, ermöglicht das Online-Bildmaterial in vielen Fällen eine hinreichend genaue Artbestimmung durch ein weit breiteres Fachpublikum, zum Beispiel durch den Ulmer Doktoranden. Die Internetdatenbank, die die Fotografien liefert, wird auch am Ulmer Institut erstellt. Hans Peter Katzmann, der Projektmanager des Portals, ist für die Fotografie der Ameisen und die Zusammenstellung der Internetseite verantwortlich, die seit 2003 an der Universität Ulm am Lehrstuhl Professor Elisabeth Kalko erarbeitet und seit 2006 von der DFG gefördert wird. Über 500 Ameisenarten aus 94 Gattungen wurden im Rahmen dieses Projektes bereits digitalisiert, davon zwei Drittel mit der neuen Technik.

Die Grundlage der Fotodatenbank ist die zoologische Sammlung der Universität Würzburg, die eine der größten Ameisensammlungen Europas darstellt. Seit über 15 Jahren haben Tropenökologen am Lehrstuhl von Professor K. Eduard Linsenmair intensiv die Diversität tropischer Lebewesen erforscht und vor allem in den Regenwäldern Borneos nach Ameisen gesucht. Diese Kollektion wird nun durch die Ulmer Forschungen fortgeführt und substanziell erweitert. Durch den regen Kontakt und Leihverkehr mit führenden Taxonomen der Welt wird das Material beständig durchgesehen und bestimmt. Oft werden neu gefundene Arten gleich nach der Bestimmung online gestellt. Die Resonanz der Fachwelt ist groß, im Schnitt werden pro Monat über 38 000 Seiten besucht und etwa 1800 MB Daten heruntergeladen.

Doch das Ziel der Internetdatenbank geht darüber hinaus. "Unser wissenschaftliches Internetportal soll nicht nur Vergleichsmaterial, Bestimmungsliteratur und -schlüssel für Ameisen bereitstellen, wir arbeiten an einer umfassenden Vernetzung der Myrmekologen (Ameisenforscher) Asiens", unterstreicht Katzmann. Soeben hat er Homepages für 30 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ins Internet gestellt. "Gerade in Asien haben viele kleinere Institute noch keine Internetseiten in englischer Sprache. Diese Wissenschaftler können ihre Daten bei uns einstellen, um sich so einem breiteren Publikum zu präsentieren und in Kontakt miteinander zu kommen." Mit diesen und anderen Serviceangeboten unterstützt das Internetportal auch die internationale Vereinigung der Ameisenforscher in Asien "ANeT". Stück für Stück wird eine umfassende Forschungsdatenbank aufgebaut und der Austausch der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler untereinander gefördert.

Neben der Vernetzung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und der Unterstützung ihrer Forschung ist die Dokumentation des tropischen Artenreichtums eines der wesentlichen Anliegen des Internetportals. Beim Surfen durch die Bilddatenbank kann auch der interessierte Laie die morphologische Formenvielfalt der präsentierten Gattungen und Arten umfassend bestaunen. Und manch einer ist überrascht von der Fülle der Arten, die die Evolution hervorgebracht hat und die bei www.antbase.net den Bildschirm bevölkert: Polyrhachis-Ameisen etwa, die zum Schutz gegen Vögel mit riesigen Widerhaken ausgestattet sind, blinde Armeeameisen der Gattung Aenictus, langbeinige Anoplolepis gracilipes, die wespenartigen Tetraponera, dichtbehaarte Meranoplus-Arten oder Myrmoteras-Arbeiterinnen mit riesigen Augen und säbelförmigen Mundwerkzeugen.

"Die meisten Menschen kennen nur wenige Ameisenarten und können sich die Artenfülle eines Regenwaldes kaum vorstellen", meint Hans Peter Katzmann, "für sie öffnet ein Besuch in unserem virtuellen Museum eine völlig neue Welt." Der Glaube, dass die Menschheit nur schützt, was sie auch kennt, ist eine der vielen Motivationen der Datenbankmacher. Daher gibt es bei dieser Informationsplattform auch Texte über die Ökologie der Ameisen, eine virtuelle Ausstellung wissenschaftlicher Poster sowie eine Sammlung von Ameisenvideos. Und damit sich möglichst viele Menschen über Ameisen informieren können, erscheinen die Seiten mit den erläuternden Texten gleich dreisprachig - auf Englisch, Deutsch und Malaysisch.

Denn ein Großteil der im Web vorgestellten Arten stammt aus Malaysia, einem der tropischen Länder mit einer besonders vielfältigen Fauna. In einem kleinen Gebiet am Fuß des Mount Kinabalu, des höchsten Berges Südostasiens, wurde ein "Hotspot" der Ameisendiversität entdeckt: 640 Ameisenarten sind dort innerhalb weniger Quadratkilometer aufgespürt worden; in ganz Deutschland gibt es gerade einmal 114 Arten. Viele Arten dieses Hotspots sind bereits in der Internetdatenbank dokumentiert.


Da in jeder Automontage-Fotografie ein hoher Zeitaufwand steckt (teilweise mehr als drei Stunden), wird es jedoch noch einige Zeit dauern, bis alle im Kinabalu Nationalpark gefundenen Arten mit der neuen Technik fotografiert sind. Denn der Algorithmus des Programms arbeitet nicht fehlerfrei und die neu kombinierten Bilder müssen an vielen Stellen mühsam nachbearbeitet werden. In dem perfekten Endprodukt steckt letztlich eine Menge solider Handarbeit und fotografischer Kunstfertigkeit. Dennoch plant das Datenbankteam, mit Ende des Projekts einen großen Teil der über 1000 Ameisenarten Borneos abzubilden. Durch die Zusammenarbeit mit Forscherinnen und Forschern aus anderen asiatischen Ländern werden dann auch Arten aus Thailand, Indien, dem Iran und den Philippinen zu sehen sein. Die Ameisenfauna der Mongolei ist in wesentlichen Teilen bereits heute in der Datenbank zu finden. Auch die "Ameisen Deutschlands" sollen später einmal im Internet vertreten sein - im Interesse der Forschung und der zu dokumentierenden Artenvielfalt weltweit.


PD Dr. Martin Pfeiffer forscht und lehrt an der Universität Ulm und ist Projektleiter des www.antbase.net-Vorhabens.

Adresse: Institut für Experimentelle Ökologie,
Universität Ulm, Albert-Einstein-Allee 11, 89069 Ulm, Germany

Das Projekt wird im Förderverfahren zu Wissenschaftlichen Literaturversorgungs- und Informationssystemen von der DFG unterstützt.

www.antbase.net


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Quelle:
forschung 1/2009 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, S. 4-9
mit freundlicher Genehmigung des Autors
Herausgeber: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
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"forschung" erscheint vierteljährlich.
Jahresbezugspreis 2007: 59,92 Euro (print),
66,64 Euro (online), 70,06 Euro für (print und online)
jeweils inklusive Versandkosten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Mai 2009