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ENTWICKLUNG/784: Elektrostimulation - Strom lässt die Muskeln spielen (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - I.2011
Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft

Strom lässt die Muskeln spielen

Von Tim Schröder


Selbst Menschen mit einer Querschnittlähmung können heute Rad fahren - dank der funktionellen Elektrostimulation, die Nervensignale des Gehirns ersetzt. Thomas Schauer entwickelt für die Technik am Max-Planck-Institut für Dynamik komplexer technischer Systeme in Magdeburg eine ausgefeilte Regelung, die auch Schlaganfallpatienten hilft, schnell wieder auf die Beine zu kommen.


Es prickelt merkwürdig, wenn der Strom in die Haut fließt, als blubberte Mineralwasser im Unterarm. Es ist ein eigenartiges Gefühl, die flache Elektrode auf der Haut kleben zu sehen und nicht zu wissen, wie stark das Kribbeln noch wird. Doch das erwartete Pieken bleibt aus. Man braucht nicht viel Strom, um Muskeln in Bewegung zu versetzen: Erst heben sich die Finger, dann der Handballen. Dann schwebt die ganze Hand über der Tischplatte. Sie hebt und senkt sich mit dem An- und Abschwellen des Stroms. Ganz von allein, geisterhaft.

Thomas Schauer ist ein Meister darin, Muskeln wohldosiert fernzusteuern. Er bringt Querschnittgelähmte dazu, Fahrrad zu fahren, und hilft Schlaganfallpatienten, das Gehen neu zu lernen. In seinem Labor steht ein Riesendreirad für Erwachsene, im Nachbarraum ein Ergometer, aus dem Kabel heraushängen. Die enden in kleinen grauen Kästen mit Drehreglern und an Elektroden, die man wie Pflaster auf die Haut klebt.

Schauers Spezialität ist die Elektrostimulation. Worum es sich dabei handelt, zeigt er seinen Besuchern für gewöhnlich mit dem Schwebende-Hand-Versuch. Natürlich gibt es die Elektrostimulation schon länger. Schon in den 1960er-Jahren hatten Forscher versucht, Schlaganfallpatienten mit kleinen Stromstößen das Gehen zu erleichtern. Doch bis vor wenigen Jahren blieb es beim simplen "Strom an, Strom aus". Unvorstellbar, die Stromreizung individuell an den Patienten oder ganz flexibel an die Situation anzupassen. Schauer erreicht genau das mit einer Art ausgeklügelter Computer-Regelung.


Der Muskel als Teil technischer Regelkreise

Die Technik des Elektroingenieurs, der sich auf die Regelungstechnik spezialisiert hat, reizt den Muskel nicht stumpf. Sein Computer misst, wie stark der Muskel anspricht, wie kraftvoll das Bein schwingt oder der Fuß auf den Boden drückt. Darauf reagiert wiederum das System: Es passt die nächsten Strompulse an die Muskelarbeit an, sodass eine fließende Bewegung entsteht. Schauer macht den Muskel zum Bestandteil technischer Regelkreise. Zusammen mit seinem Chef Jörg Raisch, dessen Arbeitsgruppe Regelungstechnik sich auf das Magdeburger Max-Planck-Institut für Dynamik komplexer technischer Systeme und die Technische Universität Berlin verteilt, hat er in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht.

Alles begann mit der Idee, Querschnittgelähmten das Radfahren beizubringen. Damals hatte ihn ein Professor für die Promotion an die Universität Glasgow geholt - in eine neue Arbeitsgruppe mit dem Schwerpunkt "Funktionelle Elektrostimulation". Bei Querschnittgelähmten ist die Reizleitung der Nerven zu den Muskeln unterbrochen. Die Muskeln und die sie reizenden Nerven funktionieren noch, aber die Funkverbindung zum Gehirn reißt ab. "Wir hatten uns damals überlegt, dass es möglich sein müsste, durch gezielte Regelung eine harmonische Tretbewegung zu erzeugen", sagt der Forscher.

Schauer und seine Kollegen befestigten die Füße der Patienten mit Spezialschuhen an den Pedalen und klebten ihnen Elektroden auf die Beine - auf die Kniebeuger, die Knie- und die Hüftstrecker. Dann fütterten sie ihr Rechenprogramm mit Informationen über die Stellung der Pedale. Es dauerte Monate, bis die Software so sauber arbeitete, dass alles ideal zusammenspielte. Dann klappte es.


Annäherung an das perfekte biologische Reizsystem

Von einem Laptop auf dem Gepäckträger aus schickte die Software Befehle an die kleine Bordbatterie und den Elektrostimulator, Strompulse abzufeuern. Immer, wenn sich ein Pedal über den höchsten Kurbelpunkt bewegte, wurden die Elektroden am Kniestrecker aktiviert. Der Muskel kontrahierte. Sobald sich das Bein voll streckte, bekam der Kniebeuger den Startbefehl und zog die Pedale wieder an. Tatsächlich, am Ende beschrieb das Bein eine perfekte Drehbewegung. Ganz ohne Motor radelten die querschnittgelähmten Patienten mit dem Spezial-Dreirad dahin. "Für die Leute war es ein tolles Gefühl von Freiheit, aus eigener Kraft Rad zu fahren", sagt Schauer.

Sicher, die Elektrostimulation kann auch heute noch lange nicht mit der natürlichen Nervenreizung mithalten. Nervenbahnen jagen ihre Mikrostromstöße hochpräzise in einzelne Muskelfaserbündel. Auf die Haut geklebte Elektroden von der Größe einer Haftnotiz bringen gleich mehrere Muskeln zum Zucken. Außerdem dosieren sie die Energie längst nicht so fein wie Nervenstränge. So werden gleichzeitig immer wieder dieselben Muskelfasern gereizt, und der Muskel ermüdet schnell.

Schauer will es besser machen. Er hat sich in den vergangenen Jahren dem perfekten biologischen Reizsystem allmählich angenähert. Zunächst entwickelten er und seine Kollegen gemeinsam mit dem Medizingeräte-Hersteller Hasomed eine Art Trainings-Ergometer, das sich seit etwa fünf Jahren auf dem Markt befindet. Querschnittgelähmte oder Schlaganfallpatienten mit gelähmtem Bein treten in die Pedale, während sie im Rollstuhl sitzen. In das Gerät wurde ein Elektromotor eingebaut, der die Patienten beim Treten unterstützt.

Noch weiter dreht Schauer die Elektrostimulation mit einem aktuellen Projekt. Daran beteiligen sich nicht nur der Medizingeräte-Hersteller, sondern auch Neurologen von der Berliner Charité-Klinik. Gemeinsam tüfteln sie an einer Art intelligentem Ergometer. In den Pedalen des Geräts stecken Kraftsensoren, die spüren, wie stark das Bein tritt. Damit kann die Software die Stromstärke und die Intensität der Reizimpulse an den Zustand der Muskeln anpassen.

Die klassische Ergometer-Variante arbeitete noch ohne einen solchen Regelkreis. Je nach Pedalstellung schickte das herkömmliche Gerät Strompulse an Beinbeuger und -strecker. Die Muskulatur wird dabei stets gleichmäßig gereizt. Doch ein Muskel arbeitet nicht wie ein Elektromotor. "Je nach Verfassung des Patienten oder nach der Tageszeit arbeitet ein Muskel unterschiedlich stark", sagt Schauer. Und außerdem ermüden die Muskeln während des Tretens. Dank des Regelkreises, der mit Messwerten aus den Kraftmesspedalen gefüttert wird, kann sich die Elektrostimulation jetzt darauf einstellen. Ermüdet der Muskel, stimuliert das Gerät ihn stärker.

Zu dem neuen Ergometer gehören außerdem Elektroden, die nicht nur reizen, sondern zugleich die elektrische Erregung der Muskeln messen - das sogenannte Elektromyogramm (EMG), eine Art Muskel-EKG. Das EMG liefert dem Regelkreis zusätzliche Informationen über den Zustand der Muskeln. Das hilft vor allem Schlaganfallpatienten, die ihre Beine trainieren sollen und denen die Elektrostimulanz dabei nur eine Unterstützung bietet. Denn mit dem EMG kann das System exakt erkennen, wie fit der Muskel ist, wie gut er auf die Stimulation reagiert und wie stark er zur Tretbewegung beiträgt. So differenziert misst ein Kraftsensor nicht.

Noch etwas ist neu. Früher änderte man bei der Elektrostimulation nur die Stromstärke oder die Dauer eines Strompulses. Wer das natürliche Vorbild der neuronalen Erregung erreichen will, dem genügt das nicht. Denn wie ein Muskel arbeitet, hängt auch davon ab, wie schnell die Erregungspulse aufeinanderfolgen und mit welcher Frequenz die feinen Stromstöße abgefeuert werden. Doch das konnten die ersten Steuergeräte nicht kontrollieren. Schauer und seine Kollegen mussten selbst schrauben und löten, um den ersten Muskel-Taktgeber zu bauen.


Ein wichtiges Training für das Herz-Kreislaufsystem

Im neuen Ergometer haben sie auch diese Technik verbaut. Querschnittgelähmte können damit sehr viel besser trainieren. Vor allem ermüden die Beine weniger schnell. Außerdem gibt es den Hilfsmotor. Der unterstützt vor allem Ungeübte beim Treten. Für andere gehört das Ergometer-Training zum täglichen Fitness-Programm, und je stärker der Muskel wird, desto weniger hilft der Motor. "Querschnittgelähmte können sich nur eingeschränkt bewegen. Die Arbeit am Ergometer ist deshalb für ihr Herz-Kreislauf-System und die Kondition besonders wichtig", sagt Schauer.

Für Schlaganfallpatienten bedeutet die Elektrostimulation noch mehr. Bei ihnen geht es darum, verlorene Fähigkeiten wiederzuerlangen, Lähmungen zu überwinden. Beim Schlaganfall verstopfen Blutgerinnsel Arterien im Hirn. Bei anderen Betroffenen platzt im Hirn eine Arterie. Die Blutzufuhr steht. Ohne frisches Blut und die permanente Sauerstoffzufuhr stirbt das Gewebe innerhalb kurzer Zeit unwiederbringlich ab. Lähmungen sind die Folge. "Time is brain", sagen Mediziner - "Zeit ist Hirn".

Je nachdem, welches Hirnareal betroffen ist, fallen bestimmte Körperfunktionen aus, die zuvor aus diesem Bereich gesteuert wurden. Oftmals lähmt der Schlaganfall ein Bein. Doch das Hirn kann den Schaden kompensieren. Gesunde Gebiete übernehmen die Funktion der alten. Allerdings nur, wenn man die Bewegung dem Hirn durch zehntausendfaches Wiederholen antrainiert.

Heute übernehmen meist Physiotherapeuten diese Arbeit - ein Knochenjob. Der Patient schreitet, von einer Art Bergsteigergurt an der Zimmerdecke gehalten, langsam auf einem Laufband. Im Takt der Schritte hebt der Therapeut das gelähmte Bein an und setzt den Fuß wieder auf das Laufband. Eine Therapie bedeutet tägliches Training, wochenlang, bis der Patient das Gehen wiedererlernt - und das Vertrauen darauf, dass ihn das lange gelähmte Bein wieder trägt.


Schlaganfallpatienten gehen stolperfrei

Die Regelungssysteme von Raisch und Schauer helfen auch hier. Ähnlich wie beim Ergometer: Knie heben, Fuß kippen, aufsetzen. Was bislang meist der Therapeut macht, übernehmen nun die Muskeln selbst - dank der passenden Elektrostimulation. Das klingt kaum schwieriger als das stimulierte Radfahren. Doch ein Schritt vergeht schnell. Je nach Tempo dauert er nur eine knappe Sekunde. Die Regelung muss da mithalten, sogar schneller sein, denn der Muskel reagiert mit Zeitverzögerung auf einen Stromstoß. Entsprechend lang war Schauers Weg zur fließenden Bewegung. Mehrere Jahre haben die Forscher programmiert, optimiert. Inzwischen wird ein Prototyp der Regelungssoftware in einer Klinik beim Laufbandtraining eingesetzt.

Mit der Erfahrung stieg Schauers Anspruch an seine Elektrostimulationsprogramme; zuerst die Versuche am Fahrrad und am Ergometer, bei denen der Patient durch die Drehbewegung der Pedale noch sicher geführt und gehalten wird; dann das Gehen in der Schwebe über dem Laufband; schließlich noch mehr Komplexität: das freie, stolperfreie Spazieren. Etwa jeder fünfte Schlaganfallpatient, der seine Lähmung erfolgreich wegtrainiert hat, behält einen "Fallfuß".

Bei dieser Fehlsteuerung spricht das Hirn den Fußheber nicht richtig an, jenen Muskel, der die Fußspitze nach oben zieht, wenn der Fuß nach vorn schwingt. Anfangs stolpert der Patient, weil die Fußspitze baumelt. Mit der Zeit gewöhnt er sich eine Ausweichbewegung an: Er schleift den Fuß seitlich im Halbkreis nach vorn. Das verhindert zwar das Stolpern. Doch dieser wackelige Gang strengt an. Treppensteigen wird zur schweißtreibenden Herausforderung.

Auch für den Fallfuß gibt es seit einigen Jahren Gehhilfen mit Elektrostimulationsfunktion. Der Patient trägt Schuhe mit druckempfindlichen Sensoren. Löst sich der Fuß vom Boden, schickt der Sensor unter der Schuhsohle einen Befehl an den Stimulator: Nun folgt ein so starker Stromstoß, dass der Fuß weit hochgehoben wird - eine Sicherheitsmaßnahme, damit niemand stolpert. Entsprechend schnell ermüdet der Muskel. Diese üblichen Systeme leisten also nicht mehr als das simple An-Aus. An den Zustand des Muskels oder die Beinarbeit des Patienten passen sich diese Geräte nicht an. Wieder bringt der Regelkreis die Lösung.

Doch wie lässt sich ein Fallfuß muskelfreundlich und positionsgenau regeln? Um sicher zu gehen, muss der Fuß perfekt aufsetzen, abrollen, abheben - auf Sekundenbruchteile genau. Einer von Raischs Doktoranden am Magdeburger Institut hatte die zündende Idee: Ein solches System müsste sich doch exakt regeln lassen, wenn man die Position des Fußes genau bestimmt - am besten mit einem Sensor direkt am Schuh. Der Forscher tüftelte eine ganze Promotion lang und lieferte schließlich einen kleinen Sensor, der sich an einen Schuh klicken lässt. Das flinke Gerät errechnet innerhalb von Millisekunden die Höhe, die Beschleunigung, die Position und den Winkel des Fußes.

Eine schnelle Lagebestimmung allein aber reicht nicht, denn die Muskeln müssen ebenso schnell befeuert werden. Zur schnellen Positionsbestimmung gehört deshalb auch eine flotte Regelung. "Uns wurde schnell klar, dass das ganze System zu langsam arbeitet, wenn wir versuchen, die Position während des Vorwärtsschwingens zu berechnen und gleichzeitig die Stimulationsintensität anzupassen", sagt Schauer. Ein Muskel ist einfach zu träge. Ehe er auf den Strompuls reagiert, hat der Fuß schon wieder aufgesetzt.

Die Software wertet die Daten deshalb nach jedem einzelnen Schritt innerhalb von Millisekunden aus und hat vor dem nächsten Schritt bereits ein angepasstes Stimulationsmuster parat. Das System lernt also permanent aus den vergangenen Schritten und passt die Erregungspulse für jeden folgenden Schritt an. "Iteratives Lernen" nennt Raisch diese Strategie. Sie macht erstmals eine geschmeidige Fallfuß-Korrektur möglich.

Zuvor aber musste das Wissenschaftlerteam noch eine Hürde überwinden. Jeder Sensor, jedes technische System macht winzige Fehler und weicht damit im Laufe der Zeit vom Ideal, vom Sollwert ab, so wie die Armbanduhr nach Wochen Minuten nachgeht. Summiert sich solch ein Fehler auf, wird es brenzlig. Bei der Armbanduhr ist das weniger problematisch. Man stellt sie einfach neu. Ein Lagesensor, der nach 50 Schritten erheblich von der korrekten Position abweicht, aber wird zur Gefahr, denn er lässt den Patienten stolpern. Die Elektroingenieure haben ihre Software deshalb so getunt, dass sie sich permanent selbst eicht. Damit summiert sich der Fehler nicht auf.

Für die breite Anwendung im Alltag von Schlaganfallpatienten ist der Positionssensor allerdings noch zu teuer und zu groß - obwohl er gerade einmal so viel Platz braucht wie eine Streichholzschachtel. Zudem spielt das Ensemble aus Sensor, Stimulator und Regelung bislang nur mit einer aufwendigen Verkabelung zusammen, die sich im Alltag als ziemlich lästig erweisen kann. Schöner wäre es ohne Drähte.

Schauer und seine Mitarbeiter arbeiten deshalb seit einiger Zeit an einem anderen, ungewöhnlichen Lagesensortyp - einem Bioimpedanz-Sensor. Der misst den elektrischen Widerstand zwischen mehreren Punkten am Unterschenkel. Das Faszinierende: Mit der Bewegung des Beins, vor allem der Dehnung der Haut und der Streckung der Muskeln, verändert sich der elektrische Widerstand - die Bioimpedanz. Und damit könnte ein Regelungssystem letztlich auch auf die Stellung des Fußes rückschließen und den Fußheber passgenau aktivieren.


Das Ziel: Strümpfe mit eingearbeiteter Elektronik

Noch steht Schauer mit der Bioimpedanz-Messung am Anfang - aber das Verfahren erscheint vielversprechend, gerade weil es mit wenig Aufwand funktioniert. Ganz ohne Kabel kommt die Bioimpedanz-Messung derzeit aber auch noch nicht aus, denn auch die Elektroden am Unterschenkel brauchen Kontakt zur Steuerelektronik. Doch auch dafür hat Schauer eine Lösung: Patienten sollen sich dereinst Strümpfe mit eingearbeiteten Elektroden und Kontakten überstreifen - die Elektronik des Sensors, mit dem die Forscher bislang die Position des Fußes bestimmen, dürfte sich dagegen kaum in einen Strumpf stricken lassen.

Auch Schauers jüngstes Projekt, das er zusammen mit Medizinern des Unfallkrankenhauses Berlin angeht, setzt auf die Bioimpedanz-Messung. Es geht um die Behandlung von Schluckstörungen. So wie ein Schlaganfall durch das Absterben von Hirnarealen oft die Beinmuskulatur lähmt, kann er auch die Schluckmuskulatur beeinträchtigen. In solchen Fällen wird die Luftröhre beim Schlucken nicht mehr vollständig verschlossen. Speisereste oder Getränke rutschen in die Lunge, was zu schweren Entzündungen führt. Als Lösung bleiben heute oftmals nur ein Luftröhrenschnitt oder die Sondenernährung, ein Schlauch, über den der Pfleger die Nahrung in den Magen spritzt.


Innovationspreis Medizin für die Schluckhilfe

Gelänge es, den Kehlkopfbereich wie ein gelähmtes Bein anzusteuern, ließe sich die Schluckmuskulatur gezielt aktivieren und die Luftröhre schützen. Über die Bioimpedanz-Messung würde das System die Muskelarbeit kontrollieren und beurteilen, ob Nahrung in Richtung Speiseröhre wandert oder unbeabsichtigt in der Luftröhre landet.

Von außen messen, ob man sich verschluckt? Diese Idee erschien Schauer und seinem medizinischen Partner Rainer Seidl vom Unfallkrankenhaus Berlin anfangs selbst etwas abwegig. Sie besorgten sich deshalb einen Rinderkehlkopf und steckten im Labor hauchdünne Nadelelektroden in das Gewebe. "Wir wussten ja noch gar nicht, inwieweit sich Widerstandsänderungen von außen überhaupt messen lassen, wenn Flüssigkeiten durch den Kehlkopf rinnen."

Die ersten Versuche verliefen vielversprechend. Und so klebten sich Schauer und seine Kollegen schließlich selbst Elektroden an den Hals. "Inzwischen können wir aus den Widerstandswerten tatsächlich auf die Aktivität der Muskulatur und den Schluckvorgang schließen." Vor Kurzem haben Schauer und Seidl den Innovationspreis Medizintechnik des Bundesforschungsministeriums gewonnen. Diese Finanzspritze hilft ihnen, das Projekt weiter voranzutreiben. Am Ende soll ein Hightech-Implantat entstehen, von dem wohl die wenigsten je gehört haben. Arm- und Beinprothesen kennt man. Raisch, Schauer und Seidl aber werden, wenn alles glattgeht, etwas anderes schaffen: eine elektronische Schluck-Prothese, die den Kehlkopf in Bewegung bringt. Wenn es beim Schlucken Widerstand gibt: Während Corinna Schultheiss schluckt, misst Holger Nahrstaedt über die Sensoren an ihrem Hals die Bioimpedanz. Mithilfe der Ergebnisse entwickeln die Forscher ein Implantat, das die Kehlkopfbewegung stimuliert.


GLOSSAR

Funktionelle Elektrostimulation
Die Methode kommt zum Einsatz, wenn die Hirnareale, die die Muskelbewegung steuern, geschädigt sind und kein Nervensignal abgeben können. Mit äußeren Strompulsen werden dann die Nerven gereizt, die einen Muskel kontrahieren lassen.

Elektromyografie
gibt Aufschluss über die elektrische Aktivität eines Muskels. Neben der Spontanaktivität des ruhenden Muskels werden dabei die Aktionspotenziale im kontrahierten Muskel gemessen.

Bioimpedanz
Ein Maß für den Widerstand des Körpers beim Anlegen eines äußeren Stroms.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Elektronische Bewegungshilfe: Die funktionelle Elektrostimulation unterstützt Patienten mit Lähmungen nach einer Rückenmarksverletzung oder nach einem Schlaganfall bei vielfältigen Bewegungen. Thomas Schauer, Thomas Brunsch und Jörg Raisch (von links) führen die Systeme vor, die den Fuß und den Arm anheben können.

oben Wie die funktionelle Elektrostimulation beim Radfahren hilft: Aus Daten des Elektromyogramms (EMG) und der Kraftsensoren ermittelt die ausgeklügelte Regelung, wie stark die Muskeln stimuliert werden müssen. Wenn nötig, unterstützt ein Elektromotor den Patienten beim Treten.

rechts An einem Liegedreirad erproben Christian Klauer, Thomas Seel und Thomas Schauer (von links) das System, das aus Sensoren, Stimulatoren und Regelung besteht und Querschnittgelähmten ein Konditionstraining ermöglicht.

oben Nach einem Schlaganfall wieder gehen lernen: Einen Schaden in den Arealen für die Motorik der Beine kann das Gehirn kompensieren, indem der Patient zunächst passiv geht. Während er von einer Art Klettergurt gehalten wird, werden seine Beine zum Gehen auf einem Laufband stimuliert. Die ausgeklügelte Regelung ermöglicht fließende Bewegungen.

rechts Gehen, ohne zu stolpern: Der Sensor am Schuh von Thomas Brunsch misst die Position des Fußes. Die Elektroden am Unterschenkel heben den Fuß, sodass ein Schlaganfallpatient beim Gehen nicht stolpert. Die Regelung in der Bauchtasche ermittelt, wie stark das elektrische Signal sein muss, damit die Muskeln nicht so schnell ermüden. Auf diese Weise lässt sich auch die Bewegung des Arms unterstützen.

Von Robotern an die Hand genommen: Thomas Schauer und Jörg Raisch montieren einen Roboter, an dessen Unterseite Räder und Motoren zu sehen sind (oben). Schlaganfallpatienten können einen Griff auf der nicht zu sehenden Seite fassen. Kombiniert mit der Elektrostimulation, führt der Roboter ihre Hand über einen Tisch, damit das Gehirn die Steuerung des Arms neu erlernt. Der Rehabilitation kann auch das Exoskelett (unten) dienen, das die stimulierte Armbewegung in allen Raumrichtungen unterstützt. Mit diesem kommerziellen System entwickeln die Max-Planck-Forscher zudem die Regelung einer mobilen Prothese für Patienten mit fortschreitender Muskellähmung.


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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin
der Max-Planck-Gesellschaft, I.2011, S. 26-33
Hrsg.: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juli 2011