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INITIATIVE/057: Ärzte gegen den Krieg - Ein Blick in die Geschichte, Teil 1 (IPPNWforum)


IPPNWforum | 121 | 10
Mitteilungen der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

Ärzte gegen den Krieg

- Ein Rückblick von Christian Jenssen, (Teil 1) -


Im Dezember dieses Jahres können wir gleich zwei Jubiläen feiern: 30 Jahre IPPNW und 25 Jahre Friedensnobelpreis. Aus diesem Anlass möchten wir einmal einen Blick zurückwerfen und uns fragen: in welcher Geschichte stehen wir eigentlich?


Zwischen 1792 und 1815 erschütterte eine nahezu ununterbrochene Abfolge von Kriegen Europa und Nordamerika. Die Sanitätsdienste der Armeen waren den mit der rasanten Entwicklung von Waffentechnologie und Kriegsführung einhergehenden sanitären Verlusten nicht gewachsen, zumal die Versorgung der Verwundeten nicht durch Völkerrecht, sondern lediglich durch bilaterale Abkommen oder temporäre Übereinkünfte der Kriegsparteien geregelt war. So waren an der dreitägigen Schlacht um Leipzig (1813) 180.000 Soldaten beteiligt, 100.000 fielen oder wurden verwundet. Von den 34.000 Verwundeten, die nach Leipzig gebracht wurden, starben 11.000 aufgrund der schlechten sanitären und medizinischen Bedingungen.


Humanisierung oder Abschaffung des Krieges

Dieses katastrophale Missverhältnis der Effizienz von moderner Kriegsführung und sanitärer Hilfe hatte zwei unterschiedliche Entwicklungen zu Folge. Einerseits wurde der Weg der "Humanisierung" des Krieges beschritten. Die Gründung freiwilliger Hilfsvereine für die Verwundeten ist vor allem mit dem Namen Florence Nightingale verbunden, die Entwicklung des "humanitären Völkerrechts" und internationaler Hilfsorganisationen mit dem des Schweizer Bankiers Henry Dunant. Parallel dazu wurde das Militärsanitätswesen entwickelt und - vor allem in Deutschland - das zivile Gesundheitswesen militarisiert. Damit führte die "Humanisierung des Krieges" in letzter Konsequenz zur militärischen Instrumentalisierung der Heilkunde, wenngleich die überwiegende Zahl der Ärzte es als "schöne Aufgabe" reflektierte, "inmitten der barbarischen Gräuel des Krieges die edle Gesittung der modernen Welt zu vertreten".

Auf der anderen Seite stand die Idee einer Prävention des Krieges. Die frühen pazifistischen Utopien von der Überwindung des Krieges, einer freien Konföderation freier Nationen und eines "goldenen Zeitalters" friedlicher zwischenstaatlicher Beziehungen fanden in den liberalen und republikanischen Bewegungen erstmals in der Geschichte eine soziale Basis. Zwischen 1814 und 1815 wurden die ersten Friedensgesellschaften in Nordamerika gegründet, 1816 die London Peace Society und 1830 die Genfer Friedensgesellschaft.

Die ersten medizinischen Stellungnahmen über Krieg und Frieden reichen bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts zurück. 1805 forderte der Leibarzt des Grafen von Schaumburg-Lippe eine Konvention zum Schutz der Verwundeten, verurteilte aber gleichzeitig den Krieg als ein "Übel der Menschheit". Die Geschichte ärztlichen Eintretens gegen den Krieg ist nur zu verstehen im Lichte dieses ethischen Dilemmas zwischen der grundsätzlichen Ablehnung des Krieges als Ursache vermeidbaren menschlichen Leidens einerseits und der von vielen Ärzten empfundenen Verpflichtung, auch im Kriege ihrer hippokratischen Aufgabe gerecht zu werden.


Ärzte als Pioniere der Europäischen Friedensbewegung

Die vier Internationalen Friedenskongresse von 1848 bis 1851 brachten die Ideen des Friedens und der Völkerverständigung einer breiteren Öffentlichkeit nahe und stimulierten die Gründung von Friedensgesellschaften in zahlreichen Ländern. Auch einige Ärzte standen an der Wiege der Europäischen Friedensbewegung. Robert Motherby nahm als Delegierter der Freien Protestantischen Kirche Königsberg am Frankfurter Internationalen Friedenskongress 1850 teil. Im gleichen Jahr gründete er den Königsberger Friedensverein, der allerdings bereits im Mai 1851 polizeilich aufgelöst wurde. Ein anderer friedensbewegter Arzt aus Königsberg war der linksliberale Johann Jacoby. Er war 1867 deutsches Gründungsmitglied der Ligue Internationale de la Paix et de la Liberté (Genf). Als einer der wenigen standhaften Gegner der Kriege zwischen Preußen und Österreich (1867) und zwischen dem Norddeutschem Bund und Frankreich (1870/71) stand er im Mittelpunkt internationaler Kontakte von Kriegsgegnern. Zwei der Begründer der Sozialmedizin in Deutschland, Georg Varrentrapp und Gustav-Adolf Spiess, waren Mitglieder des lokalen Organisationskomitees des Frankfurter Friedenskongresses 1850. Varrentrapp war Mitglied in zahlreichen internationalen Gesellschaften, z.B. auch im Exekutivausschuss der Ligue Internationale et Permanente de la Paix. Aber er nutzte seine Kontakte nicht, um die Idee des Friedens in Deutschland durch eine spezifisch medizinische oder sozialwissenschaftliche Argumentation zu befördern. Aus jener frühen Zeit ist nur ein Beispiel für eine medizinische Argumentation gegen den Krieg überliefert: Als dritter 3. Band der von der Ligue Internationale et Permanente de la Paix herausgegebenen Bibliotheque de la Paix erschien 1868 eine Geschichte der Seuchen, die Metz in Folge von Kriegen heimgesucht hatten.


Rudolf Virchow: "Abrüsten oder Untergehen"

Der herausragendste Arzt, der sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der zunehmenden Militarisierung des öffentlichen Lebens in Deutschland entgegenstellte, war zweifelsohne Rudolf Virchow3. In den Auseinandersetzungen der Revolution von 1848 war sein Konzept entstanden, dass Medizin Teil des politischen und sozialen Lebens werden und umgekehrt Politik sich als eine "Medizin im Großen" verstehen müsse. Schon damals hatte er sich die zentralen Forderungen des ersten Internationalen Friedenskongresses zu eigen gemacht und den "bewaffneten Frieden" als eine "Missgeburt der Gleichgewichtspolitik" bezeichnet. Erst 20 Jahre später griff Virchow diese Ideen wieder auf und versuchte ihnen nun als international anerkannter Mediziner wie auch als Politiker der Demokratischen Volkspartei Geltung zu verschaffen. Den Ärzten wies er 1869 auf der Innsbrucker Naturforscherversammlung die Aufgabe zu, als "Apostel des Friedens und der Versöhnung" Einfluss auf die Politik zu nehmen und deren Einsatz für eine öffentliche Gesundheitspflege zu fordern. In den Jahren von 1867 bis 1869 nahm Virchow an parlamentarischen Initiativen zugunsten einer Europäischen Abrüstung teil. Hervorzuheben ist sein am 20. Oktober 1869 im Preußischen Landtag eingebrachter Antrag auf Verminderung des Militäretats des Norddeutschen Bundes. Durch eine einseitige Vorleistung Preußens hoffte er, Vertrauen zu schaffen und den Weg zu bereiten für eine Umwidmung von Rüstungsmitteln zugunsten der "zivilisatorischen Aufgaben Europas". Virchows Antrag erhielt nicht die Unterstützung der Nationalliberalen Partei und scheiterte aufgrund der Spaltung des deutschen Liberalismus am 5. November 1869 mit 99:215 Stimmen.

Nur acht Monate später begann der Deutsch-Französische Krieg. Virchow sprach sich nunmehr für eine realistische Aufzeichnung der medizinischen Geschichte des Krieges aus, damit deren Leser "energische Verteidiger der Lehre von der Notwendigkeit des Friedens für das Gedeihen der Völker" würden. Kaum war jedoch der Krieg mit Frankreich entfesselt, vermochte sich Virchow nicht nationalpatriotischen Emotionen zu entziehen. Er engagierte sich nicht nur für den Berliner Hilfsverein für die Armeen im Felde, sondern rechtfertigte sogar Bismarcks Politik und die Annexion Elsaß-Lothringens. Dennoch hielt Virchow bis zu seinem Lebensende daran fest, dass Medizin nicht national, sondern kosmopolitisch sein müsse und die internationalen Begegnungen und Kooperationen von Medizinern "starke Bürgschaften des Friedens" seien.

Als Reichstagsmitglied und in öffentlichen Verlautbarungen engagierte sich Virchow weiter für Abrüstung, Abschaffung der stehenden Heere, internationale Schiedsgerichtsbarkeit und die Idee der "Vereinigten Staaten von Europa". Er gründete das Deutsche Komitee der International Arbitration and Peace Association (1880) und unterstützte die Gründung der Deutschen Friedensgesellschaft (DFG) im Jahr 1891. Abrüstung blieb für ihn "zwingend wie ein unerbittliches Schicksal. Abrüsten oder untergehen: das ist das schreckliche Dilemma für die Völker Europas". Die "Vereinigten Staaten von Europa" sah er als Garant für die Abschaffung der Kriege und die Lösung der großen sozialen Fragen. Im Reichtagswahlkampf 1893 trat er vehement gegen die Hochrüstungspolitik der Reichsregierung auf und wurde Ehrenvorsitzender der Freisinnigen Volkspartei, die sich für die Unterstützung der internationalen Friedensbewegung und eine internationale Schiedsgerichtsbarkeit aussprach. In den Reichstag wurde er jedoch nach heftigen Angriffen der nationalliberalen und konservativen Presse nicht mehr gewählt.

In seiner letzten Lebensphase vertraute Virchow nicht mehr darauf, dass Parlamente und Regierungen die Grundlagen eines dauerhaften Friedens schaffen würden, sondern setzte ganz auf die Durchsetzungskraft einer gut informierten öffentlichen Meinung: "Organisieren wir ... dem Krieg einen furchtbaren Krieg. Fordern wir mit lauter Stimme die Abrüstung! Appellieren wir an alle Menschen. Sprechen wir mit einer Sprache, die Herz und Seele einnimmt. Klären wir die Öffentlichkeit auf über ihre Rechte und Pflichten. Wenn sie will, wird sie es verstehen, die Regierungen in ihrem Sinne zu lenken".


Christian Jenssen ist Chefarzt am Krankenhaus Märkisch Oderland und Mitglied der IPPNW seit 1982
c.jenssen@khmol.de


Weitere Informationen

Zitate und weiterführende Informationen im Internet unter www.ippnw.de/presse/ippnw-forum und bei Jenssen, C.: Medicine against war - a historical review of the anti-war activities of physicians, in: I. Taippale (Ed.): War or health? A reader (2001) sowie bei Ruprecht, T.M.; Jenssen, C. (Hg.): Äskulap oder Mars? Ärzte gegen den Krieg (1991).


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Florence Nightingale (1820-1910),
Henry Dunant (1828-1910
Rudolf Virchow (1821-1902)


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Quelle:
IPPNWforum | 121 | 10, März 2010, S. 30 - 31
Herausgeber:
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
Anschrift der Redaktion: IPPNWforum
Körtestr. 10, 10967 Berlin
Tel. 030/69 80 74-0, Fax: 030/69 38 166
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Dezember 2010