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GEWALT/194: Psychosoziale und medizinische Probleme von Flüchtlingen (IPPNWforum)


IPPNWforum | 114 | 08

Mitteilungen der Internationalen Ärzte für die Verhütung des
Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

Gewalt und Trauma
Psychosoziale und medizinische Probleme von Flüchtlingen    

Von Helen Bamber


Der 60. Jahrestag der Konferenz von Evian ist für mich ein wichtiger Anlass, einen Blick zurück zu werfen auf das Scheitern dieser Konferenz und das anhaltende Versagen beim Schutz der verletzlichsten, unser Mitgefühl und Schutz verdienenden Menschen. Ich habe 1938 bereits bewusst erlebt, als Jüdin, deren Eltern und Großeltern vor den Pogromen der ersten Jahre des 20. Jahrhunderts aus Polen und Russland geflohen waren. Sie gingen nach England. Ich war mir des zunehmenden Antisemitismus in England bewusst. Selbst als Kind erfuhr ich Anfeindungen und Vorurteile und war entsetzt über die öffentlich geäußerte Verärgerung gegenüber den jungen verwirrten Kindern der Kindertransporte. Ich hörte mir zusammen mit meinem Vater die Berichterstattung der Medien an, deren Sprache sich heute in Bezug auf Asylsuchende und Flüchtlinge nur wenig geändert hat.


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Es gibt den Mythos in meinem Land, dass wir immer extrem großzügig zu Flüchtlingen waren. Tatsächlich stimmt dies nicht. Als ich gegen Ende des Zweiten Weltkrieges in Bergen-Belsen gearbeitet habe, lernte ich zwei Lektionen. Die eine war die Bedeutung der Überlebenden als Zeugen. Für Fachleute sind überlebende Zeitzeugen, denen es möglich ist ihre Geschichte zu erzählen, noch ebenso wichtig wie 1945. Die andere Lektion, die ich erfuhr, war wie schnell Mitgefühl angesichts scheinbar unlösbarer Probleme stirbt. Viele Überlebende wurden gezwungen, bis Anfang der 1950er-Jahre in Bergen-Belsen zu bleiben. Niemand wollte sie; sie hatten keinen Ort, an den sie gehen konnten und die Türen waren für die Mehrheit verschlossen. Die gleichen Überlebenden, die solch eine Welle von Mitgefühl bei ihren Befreiern ausgelöst hatten, wurden später als Problem erachtet.

Das Entstehen der Evian-Konferenz und das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge wurden von denen willkommen geheißen, die es als bedeutenden Schritt zur Aufrechterhaltung einer humanen Gesellschaft verstanden. Aber heute ist die Genfer Flüchtlingskonvention, die dafür gesorgt hat, dass Millionen von Menschenleben gerettet wurden, in Gefahr. Politiker und die britischen Medien bezeichnen sie als überholt und fordern Veränderungen. Und wo, frage ich, war die Genfer Flüchtlingskonvention, als Guantánamo Bay errichtet wurde?

Im Zusammenhang mit den vielen rechtlichen und politischen Veränderungen im Vereinigten Königreich und europaweit sind die Bemühungen von Einrichtungen um eine Versorgung und Behandlung für Asylsuchende und Flüchtlinge, die Folter und andere Formen von Menschenrechtsverletzungen erlebt oder sehr viele Familienmitglieder verloren haben, zu sehen. Wir behandeln unsere Leute nicht in einem Vakuum. Der Einfluss früherer, schlechter Entscheidungen in Asylfällen; die zunehmend strafenden Rechtsmaßnahmen, die die Menschen an der Einreise bzw. einem würdevollen Aufenthalt in unseren Ländern hindern; wo das Wort Flüchtling an sich als Anachronismus gesehen wird und wo die Aufrichtigkeit der Behauptung eines Asylsuchenden, verfolgt zu werden, angezweifelt wird wie nie zuvor. All dies hat Einfluss auf die Gesundheit und das Wohlergehen der Überlebenden und verschlimmert das Ausgangstrauma.

1985 etablierte ich zusammen mit andern Kollegen eine medizinische Stiftung für die Versorgung von Folteropfern, in der wir Tausende von Überlebenden gesehen haben. In dieser Zeit wurde mir die Notwendigkeit der Zusammenarbeit von Experten aufgezeigt, um Erfahrungen in der Arbeit mit solchen Fällen auszutauschen.

Vor vier Jahren trat ich als Direktorin der medizinischen Stiftung zurück, um erwartungsgemäß in den Ruhestand zu gehen. Aufgrund der über die Jahre gewachsenen Sorge über die Vielzahl von Überlebenden, die - trotz ebenfalls gravierender physischer und psychischer Verletzungen - durch das Kriteriennetz der Stiftungen und Organisationen rutschen, gründeten wir vor dreieinhalb Jahren die Helen-Bamber-Stiftung. Eine unabhängige Wohltätigkeitsorganisation, die medizinische, psychologische und soziale Versorgung für Überlebende von Genozid, Folter, ethnischer Säuberung, Vergewaltigung, Frauenhandel und sexuellem Kindesmissbrauch sowie häuslicher Gewalt - wo Frauen von ihren Männern geschlagen, getreten und vergewaltigt werden - gewährleistet. Wir behandeln ebenfalls eine kleine Gruppe von Rückkehrern aus Guantánamo Bay, die, obwohl niemals einer Straftat schuldig gesprochen, unauslöschlich stigmatisiert sind.

In der Helen Bamber Stiftung wird eine Basis klinischen Wissens geschaffen. Eine politische Aktivistin aus dem Iran, die für ihre Handlungen gefoltert worden ist, muss anders behandelt werden als ein Opfer des Frauenhandels, das geschlagen, getreten und zur Prostitution gezwungen wurde. Ebenso wie die Rückkehrer aus Guantánamo Bay eine andere Behandlung benötigen. Wenn ich nach einem Modell gefragt würde, bliebe mir nichts anderes übrig als einen ganzheitlichen Ansatz zu beschreiben, der darauf abzielt, die Bedürfnisse des Individuums oder der Familie zu bedenken.

Eines meiner Hauptanliegen gilt dem, was wir unsere Schutzfunktion nennen, dem Einreichen medizinischer, psychiatrischer, psychologischer Berichte zur gerichtlichen Unterstützung von Asylanträgen. Und ich muss sagen, in den dreieinhalb Jahren, in denen die Helen-Bamber-Stiftung besteht, kann ich die Zahl der nach dem ersten Gespräch mit den Behörden genehmigten Asylanträge an einer Hand abzählen. Dabei haben wir knapp 2000 Überlebende behandelt. Der Inhalt eines solchen Berichts muss, soweit wie möglich - in einer therapeutischen Umgebung gewonnen werden. Unsere Doktoren, Therapeuten und ich selbst nehmen an den Gerichtsverhandlungen teil, um dem anwesenden Behördenvertreter und dem Richter die Lage der traumatisierten, gefolterten oder möglicherweise vergewaltigten Person zu erklären.

Der Allgemeinarzt verschreibt oft einen Cocktail aus Antidepressiva, Schlaf- und Schmerztabletten, übersieht aber, dass der Patient Anfälle hat, die von massiven Schlägen herrühren. Dies ist nicht als Kritik gedacht. Es ist einfach ein Zusammenprall zwischen einem Überlebenden, der nicht sprechen kann und einem äußerst ausgelasteten Arzt. Unsere Krankenhausärzte sind flexibler und multifunktional. Wie ich erwähnt habe, nehmen sie an den Verhandlungen teil, um die Komplexität der Lage eines Überlebenden zu schildern und kümmern sich um die sozialen Belange der Patienten. Dies ist schwierig und beunruhigt einige Ärzte insofern, dass sie um ihre Neutralität fürchten. Wir respektieren das und glauben, dass eine würdige und maßvolle Fürsprache einen enormen Vorteil für die Asylsuchenden und Flüchtlinge darstellt, die oftmals nicht nur unter multiplen Traumata leiden, sondern auch unter Mangelerscheinungen und Marginalisierung. Wir haben so viele so genannte "gescheiterte Asylsuchende", die auf der Straße leben, denen es nicht erlaubt ist, zu arbeiten. Keiner der Asylsuchenden kann in Großbritannien ohne Aufenthaltsgenehmigung arbeiten.

Zu uns kommen Menschen, die keine Unterstützung erhalten, ohne Obdach und ohne alles sind. Das lange Asylverfahren, in dem es dem Asylsuchenden nicht erlaubt ist, zu arbeiten - wir sprechen hier von sechs bis sieben Jahren - untergräbt natürlich jegliche Lösung physischer oder psychischer Schäden. So haben wir in die Gemeindekultur investiert, indem wir den Leuten in jedem Fall eine Hilfe geben, diese Zeit zu überstehen. Freiwillige der englischsprachigen Union gehen mit den Leuten aus, zeigen ihnen das englische Leben, indem sie nicht einfach an einem Tisch sitzen, sondern sich zum Gespräch in einem Café oder Museum treffen. Andere Freiwillige haben eine Musikgruppe mit Mitgliedern verschiedener Nationen gegründet, in denen sich afrikanische Trommeln und türkische Lauten mischen. Außerdem haben wir eine Foto-Gruppe mit Freiwilligen, eine Filmemacher-Gruppe, eine Malerei bzw. Zeichen-AG sowie einen Schreibzirkel. Wir haben auch ein Gartenprojekt, in dem wir einen Garten der Erinnerung haben. Wir müssen uns erinnern, wie schwierig es für Leute ist, ihre Toten zu begraben, insbesondere wenn diese unter grotesken Umständen gestorben sind. Die Garten-AG kann Gemüse anbauen und damit die Familien ernähren. Einige Frauengruppen stellen ein Kochbuch mit traditionellen Rezepten aus ihrer Heimat zusammen, während andere Perlenschmuck herstellen.

Ich hatte über sieben Jahre eine äthiopische Klientin. Ich konnte sie kaum von ihrem Wunsch abbringen, sich selbst zu verletzen und zu töten. Ihre Eltern, aus Eritrea und Äthiopien stammend, waren getötet worden, ihre Schwester galt als vermisst und ein Freund der Familie hatte ihr eine Stelle als Dienstmädchen bei einer saudi-arabischen Familie beschafft, in der sie missbraucht, gefoltert und vergewaltigt wurde sowie beinahe verhungerte. Die Familie kam nach Großbritannien, wo sie - ohne ins Detail zu gehen - zu fliehen vermochte und zu uns kam. Aber sie war krank, sie litt aufgrund der Schläge auf den Kopf unter Temporallappenepilepsie und es war schwierig mit ihr zu arbeiten. Ich überzeugte sie in einigen der Gruppen mitzumachen. Eines Tages kam sie von der Zeichen-AG, in der einer unserer türkisch-kurdischen Klienten ein professioneller Maler und Lautenspieler ist und zwölf Jahre im Gefängnis war. Sie kam zu mir und sagte: Ich habe Farbe gesehen. Ich habe niemals zuvor in meinem Leben Farbe gesehen. Und als ich sie ansah, bemerkte ich, dass sie komplett in grau gekleidet war. Von diesem Tag an begann sie, Farbiges zu tragen und zu einem aktiven Mitglied zahlreicher Gruppen zu werden.

Wir haben auch eine Psycho-Therapeutin, die Yogaübungen gibt. Dies hat sich als sehr nützlich für Frauen erwiesen, die ihren geschundenen, bis dato verleugneten Körper für sich neu entdecken mussten. Selbstverständlich haben diese kreativen Aktivitäten die intensive Traumabehandlung (die Behandlung von Albträumen, 'flashbacks' oder Panikattacken; das Entgegenwirken von Selbstverletzungs- und Selbstmordabsichten; die Auseinandersetzung mit unterdrücktem Ärger und der schwierigen familiären Lage) nicht ersetzt. Aber wir stehen zu unserer Überzeugung, dass eine klinische Atmosphäre und Herangehensweise in Bezug auf eine "Gemeinschaftskultur" nicht soviel erreicht. Wir haben beobachtet, dass diese Gruppen ein Gemeinschaftsgefühl fördern, indem einige Mitglieder die Schwächsten in Zeiten der Bedrängnis unterstützen.

Als praktische Ärzte haben wir hier eine besondere Verantwortung. Wir kennen die Geschichte hinter der Angst und Verfolgung, die eine Person zu Flucht und dem Zurücklassen alles Liebgewonnenen veranlasst hat. Die Medien und die Öffentlichkeit sehen oft nur den Flüchtling, der auf dem Boden ihres Landes steht, ein Bittsteller, um Hilfe bittend. Sie kennen sie nicht so, wie wir sie kennen, als manchmal würdevolle, freimütige Menschen mit einem Glauben, einigem Stolz oder einfache Menschen, Mütter, Brüder, Schwestern, Kinder, die unglaubliche Dinge erlebt haben. Wie wir unser Wissen einsetzen, bleibt einem jeden selbst überlassen.


Übersetzung: Ina Uhlich

Zur Person:
Helen Bamber ist Psychotherapeutin, Mitbegründerin und Direktorin der Helen Bamber Stiftung für die Hilfe von Überlebenden schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen. Bamber gehörte zu einem der ersten Ärzteteams, die das KL Bergen-Belsen unmittelbar nach der Befreiung besuchten. Seit über 60 Jahren setzt sie sich in unterschiedlichen Funktionen für Überlebende der NS-Verbrechen, Folteropfer und traumatisierte Flüchtlinge ein.
www.helenbamber.org


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Quelle:
IPPNWforum | 114 | 08, Dezember 2008, S. 18-19
Herausgeber:
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
Anschrift der Redaktion:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. April 2009