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ARTIKEL/477: Altersmedizin - Geriatrie ist eine Herkulesaufgabe für Mensch und Gesellschaft (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 5/2010

Altersmedizin
Geriatrie ist eine Herkulesaufgabe für Mensch und Gesellschaft

Von Uwe Groenewold


Mediziner arbeiten mit Hochdruck daran, Selbstständigkeit und Lebensqualität der alten Patienten zu verbessern. Ärzte aus Schleswig-Holstein sind beteiligt.


Der 100. Geburtstag ist längst keine Rarität mehr, in Deutschland feiern ihn jedes Jahr weit mehr als 10.000 Frauen und Männer. Mancherorts gratulieren die Bürgermeister ihren hochbetagten Einwohnern das erste Mal zum 105. Geburtstag, weil sich die Glückwunschtour ansonsten nicht mehr mit dem Terminkalender in Einklang bringen lässt. Auch in Schleswig-Holstein mit seinen über 2,8 Millionen Einwohnern nimmt die Zahl derjenigen, die 100 und älter sind, beständig zu: Waren es 1978 noch 582, sind es nach Angaben des Statistischen Landesamtes inzwischen 3.285 Frauen und Männer, die 1910 oder früher das Licht der Welt erblickt haben.

Der demografische Wandel verändert die Gesellschaft und auch die Medizin. Dabei gibt es den Begriff "Geriatrie" bereits seit 100 Jahren. Der in Österreich geborene und in Amerika lebende Arzt Ignatius Nascher verwendete ihn das erste Mal in einem Artikel, der 1909 im New York Medical Journal erschienen ist. Inspiriert wurde Nascher durch einen Besuch im Wiener Versorgungsheim Lainz, dem heutigen Geriatriezentrum "Am Wienerwald", wo ihm die "niedrige Mortalität und der frische Zustand der Insassen" auffielen. Der behandelnde Arzt hatte ihm erklärt: "Wir verfahren mit den Insassen unseres Heimes ebenso, wie der Pädiater mit seinen Kindern zu verfahren pflegt." Nascher entwickelte daraus die "Grundprinzipien der Geriatrie", die wegweisend für die Zukunft wurden.

Prof. Werner Vogel aus Hofgeismar, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG), bezeichnete Nascher in seiner Eröffnungsrede zum 19. DGG-Kongress Ende September 2009 in Göttingen als "Vater der modernen Geriatrie". Die Geriatrie hat viel erreicht, sagte Vogel und verwies auf die Beispiele Frührehabilitation, Palliativmedizin und einen ganzheitlichen Behandlungsansatz. Trotzdem ist die Geriatrie im Krankenhaus noch zu wenig integriert, bemängelte Vogel, und bei der Nachwuchsförderung besteht erheblicher Verbesserungsbedarf.

"Es nützt nichts, geriatrische Kliniken und Lehrstühle zu fordern, wenn wir niemanden finden können, der diese Stellen besetzen kann. Geriatrisches Wissen muss jedem Medizinstudenten beigebracht werden." Eine Kerbe, in die auch Prof. Hendrik Lehnert vom UK S-H, Campus Lübeck, schlägt (siehe Interview).

Darüber hinaus hat die Altersmedizin bis heute einen eher schlechten Ruf: "Das Alter ist die letzte Lebensphase vor dem Tod und deshalb oft negativ und mit Angst besetzt", erläuterte Vogel. "Patienten wollen nicht in die Geriatrie. Mitarbeiter wollen nicht die Geriatrie. Die Geriatrie steht in der Hierarchie der medizinischen Disziplinen weit unten." Gleichwohl wird die Geriatrie angesichts des demografischen Wandels stetig an Bedeutung gewinnen.

Das Alter ist außerdem längst nicht mehr mit Siechtum gleichzusetzen: Menschen in Deutschland leben heute über 30 Jahre länger als noch vor 100 Jahren. Und die meisten Senioren haben die Chance, die gewonnenen Jahre bei guter Gesundheit aktiv zu gestalten. Die Menschen leben nicht nur länger, sie sind - zumindest körperlich - häufig auch länger gesund. Über 80 Prozent der 65-74-Jährigen sind von Herzinfarkt, Schlaganfall oder Krebs verschont geblieben, bei den über 75-Jährigen sind es im Schnitt immer noch drei Viertel. Dagegen wird der Anteil Demenzkranker mit dem Alter immer größer. Etwa 20 Prozent der über 75-Jährigen haben eine leichte, rund 6 Prozent der 75-79-Jährigen eine manifeste Demenzerkrankung. In Deutschland wird die Zahl der Demenzpatienten derzeit auf 1,2 Millionen geschätzt; bis zum Jahr 2050 rechnen Experten nahezu mit einer Verdopplung.

Mit dem Alter kommt das Vergessen - dass diese Gleichung nicht automatisch stimmen muss, belegen Hochbetagte wie Schauspiellegende Johannes Heesters, der auch jenseits der 100 regelmäßig Theater spielt. Gleichwohl lässt mit dem Alter die Leistungsfähigkeit des Gehirns nach. Ein gesunder Lebensstil und geistige Anregungen bieten aktuellen Untersuchungen zufolge bestmöglichen Schutz vor einer möglichen Demenzerkrankung.

Ergebnisse der Münsteraner Gesundheitsstudie SEARCH-Health (Systematic Evaluation and Alteration of Risk factors for Cognitive Health) zeigen, dass eine gesunde Lebensweise unabhängig von Alter, Geschlecht oder Bildung mit einer besseren Gedächtnisleistung korreliert. "Dagegen beeinträchtigen bereits leicht überhöhte Blutdruck- und Blutzuckerwerte das Erinnerungsvermögen", erklärte Studienleiter Prof. Stefan Knecht von der Neurologischen Universitätsklinik Münster. Knecht ist inzwischen auch Leiter des Neurozentrums der Schön Klinik Hamburg-Eilbek. In der Studie aus Münster befragen und untersuchen die Wissenschaftler geistig gesunde Stadtbewohner zwischen 45 und 85 Jahren unter anderem nach Ernährungsgewohnheiten, Übergewicht, körperlicher Aktivität, Nikotin- und Alkoholkonsum und prüfen mit neuropsychologischen Tests Gedächtnisleistung, Konzentration und Aufmerksamkeit.

"Je höher der Blutdruck, desto schlechter die Kognition", lautete ein Fazit von Knecht. "Selbst bei einem hochnormalen Blutdruck von 140 mmHg haben wir teils deutliche Beeinträchtigungen kognitiver Leistungen festgestellt." Ähnliches gelte für einen dauerhaft erhöhten Blutzuckerspiegel. Liegt der HbA1c-Wert, der den durchschnittlichen Blutzuckerspiegel der vergangenen drei Monate wiedergibt, über sechs Prozent, ist die Gedächtnisleistung ebenfalls vermindert. Mit steigendem HbA1c verschlechterten sich die neuropsychologischen Testleistungen weiter.

Gleichzeitig haben Schichtaufnahmen des Kopfes mittels Magnetresonanztomografie (MRT) gezeigt, dass das Hirnvolumen mit steigendem HbA1c-Wert stetig abnimmt. Insbesondere die "weiße Substanz" - die Teile des Zentralen Nervensystems, die aus den Leitungsbahnen bestehen - wird bei erhöhtem Blutzuckerspiegel kleiner. Dies ist besonders für Typ-2-Diabetiker von Bedeutung: Bei ihnen streben Ärzte in der Regel einen Wert von 6,5 Prozent als Behandlungsziel an - bezogen auf die geistige Leistungsfähigkeit könnte dieser schon zu hoch sein. Schlecht eingestellte Diabetiker haben oftmals Werte über zehn Prozent, bei Nicht-Diabetikern liegt der HbA1c zwischen vier und sechs.

Bekannt ist, dass Diabetiker ein erhöhtes Risiko für Demenzerkrankungen haben und häufiger bereits frühzeitig Defizite in der Lern- und Merkfähigkeit aufweisen. Vermutet wird, dass Diabetes und Bluthochdruck Schäden an den kleinsten Blutgefäßen im Gehirn verursachen und damit dessen Versorgung beeinträchtigen. Auch hat die Insulinresistenz direkten Einfluss auf das Gehirn und begünstigt die Bildung sogenannter Plaques, die typisch für eine Alzheimererkrankung sind. Im weiteren Verlauf der Untersuchungen in Münster soll geprüft werden, ob eine konsequente Blutdruck- und Blutzuckereinstellung zu besseren kognitiven Leistungen führt.

Wer geistig gesund altern will, sollte großen Wert auf körperliche Aktivität und geistige Stimulation legen, rät Dr. Anika Bick-Sander von der Berliner Charité. Sie hat am Mausmodell gezeigt, dass rege körperliche Aktivität die Neubildung von Nervenzellen, die Neurogenese, ankurbelt. "Schon nach dreitägiger Aktivität steigt das Zellwachstum um 50 Prozent. Die Neubildung von Hirnzellen nimmt mit dem Alter zwar ab, aber körperliche Aktivität kann diesen Prozess lange aufhalten." Auch die Plastizität des Gehirns, also die Fähigkeit, sich rasch auf Veränderungen der Umwelt einzustellen, lässt mit den Jahren nach, ist aber günstig beeinflussbar: Viele soziale Kontakte und geistige Stimulationen halten das Gehirn wach und verlangsamen degenerative Prozesse. Negativer Stress und Depressionen dagegen, so Bick-Sander, erhöhen das Risiko für eine Demenz: Sie begünstigen den Zellverlust im Hippocampus, dem sogenannten Tor zum Gedächtnis. Diese Hirnregion ist maßgeblich an der Überführung von Informationen aus dem Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis beteiligt. Gehen hier Nervenzellen zugrunde, beeinträchtigt dies die Gedächtnisleistung.

Ein nachlassendes Gedächtnis im Alter ist vermutlich auch auf die abnehmende Tiefschlafdauer zurückzuführen. Bereits in früheren Studien hatten Forscher der Universität Lübeck (Institut für Neuroendokrinologie, Leitung: Prof. Jan Born) gezeigt, dass Schlaf dazu beiträgt, Wissen langfristig zu verfestigen. In jüngeren Untersuchungen haben sie nachgewiesen, dass sich neu Gelerntes im Schlaf bei älteren Menschen schlechter konsolidiert als bei jüngeren Menschen. Ein Grund sind ganz offensichtlich die verkürzten Tiefschlafphasen im fortgeschrittenen Alter: Während junge Erwachsene zwischen 16 und 25 Jahren noch 19 Prozent ihrer Schlafzeit im Tiefschlaf verbringen, sinkt dieser Anteil bei den 36- bis 50-Jährigen auf gerade mal drei Prozent. Lernen Versuchspersonen unterschiedlichen Alters vor dem Schlafengehen eine Reihe von Wortpaaren, können sich die jüngeren Probanden mit erhöhtem Tiefschlafanteil nach dem Aufwachen an deutlich mehr Wörter erinnern als die älteren.

Schutz vor Demenz bieten intensive Schul- und Berufsausbildungen, wie verschiedene Untersuchungen unter anderem aus München und Frankfurt gezeigt haben. Patienten mit langer Schulzeit hatten bei vergleichbaren Veränderungen im Gehirn bessere kognitive Leistungen als Patienten mit kurzer Schulzeit. Und wer sich beruflich spezialisiert, kann oft noch im hohen Alter auf sein Expertenwissen zurückgreifen und erkrankt insgesamt seltener und wenn, dann später an einer Demenz. Die beteiligten Wissenschaftler ziehen daraus den Schluss, dass gut ausgebildete Menschen krankhafte Prozesse im Gehirn länger ausgleichen können als schlechter ausgebildete. Warum wir überhaupt - sowohl körperlich als auch geistig - altern, ist noch nicht bis ins letzte Detail geklärt. Eine mögliche Erklärung sieht der Bundesverband der Internisten (BDI) darin, dass alle Organismen darauf optimiert sind, sich früh maximal zu vermehren und nicht darauf, möglichst lange zu leben. Das Altern beschleunigt sich etwa ab dem 35. Lebensjahr. Verantwortlich dafür ist ganz offensichtlich eine Kombination aus genetischen Einflüssen, Zellveränderungen und Umweltfaktoren. Mit zunehmendem Alter häufen sich Erkrankungen wie Arteriosklerose, Diabetes, Demenz, Herzinsuffizienz, Infektions- und Gelenkerkrankungen. In der Geriatrie werden Kranke mit dem Ziel behandelt, Selbständigkeit und Lebensqualität zu erhalten, zu verbessern oder zurück zu gewinnen. Angesichts der immer weiter steigenden Zahl älterer Menschen eine Herkulesaufgabe für Medizin und Gesellschaft.

In Schleswig-Holstein gibt es nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG) acht geriatrische Fachkliniken: in Ratzeburg, Lübeck, Süsel, Neumünster, Rendsburg, Flensburg, Itzehoe und Heide. Nächster Präsident der DGG wird übrigens ein Schleswig-Holsteiner: PD. Dr. Werner Hofmann von der Klinik für Geriatrie im Friedrich-Ebert-Krankenhaus Neumünster. Weitere Informationen im Internet: www.dggeriatrie.de.

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In Deutschland leben heute etwa 82 Millionen Menschen, 2060 werden es voraussichtlich nur noch 65 bis 70 Millionen sein. Daneben kommt es zu erheblichen Veränderungen in der Altersstruktur der Bevölkerung. Heute sind 20 Prozent der Bevölkerung 65 Jahre oder älter. Bereits in den kommenden beiden Jahrzehnten wird der Anteil älterer Menschen deutlich steigen. "Im Jahr 2060 wird dann jeder Dritte mindestens 65 Lebensjahre durchlebt haben - jeder Siebente wird sogar 80 Jahre oder älter sein", sagte der Präsident des Statistischen Bundesamtes, Roderich Egeler. Damit wird es fast so viele sehr alte Menschen geben wie unter 20-Jährige. Deren Anzahl wird von heute rund 16 Millionen auf zehn Millionen im Jahr 2060 zurückgehen. Die Bevölkerung geht zurück, weil die Zahl der Geburten bis 2060 stetig sinken und die Zahl der Sterbefälle bis Anfang der 2050er Jahre ansteigen wird. Das jährliche Geburtendefizit, also der Überschuss der Sterbefälle über die Geburten, wird bis 2060 auf mehr als das Dreifache zunehmen; 2060 werden über 500.000 mehr Menschen sterben, als Kinder geboren werden. Der Bevölkerungsrückgang kann weder durch Zuwanderungsüberschüsse aus dem Ausland noch durch eine etwas höhere Kinderzahl je Frau aufgehalten werden, so die Prognose des Statistischen Bundesamtes. Die Bevölkerung im Erwerbsalter von 20 bis 64 Jahren wird von heute 50 Millionen auf 33 bis 36 Millionen im Jahr 2060 zurückgehen. Weitere Informationen auf den Internetseiten des Statistischen Bundesamtes: www.destatis.de (ug)


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 5/2010 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2010/201005/h105034a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Mai 2010
63. Jahrgang, Seite 10 - 13
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juli 2010

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