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ARTIKEL/450: Symposium Alter(n) gestalten - Was kann die Wissenschaft beitragen? (idw)


Universität Stuttgart - 04.11.2009

Symposium Alter(n) gestalten - Was kann die Wissenschaft beitragen?

100 Jahre Heidelberger Akademie der Wissenschaften


Nach einer Prognose des Statistischen Bundesamtes wird es im Jahr 2050 in Deutschland doppelt so viele 60-Jährige wie Neugeborene geben. Die Zahl der 80-Jährigen und Älteren wird sich von heute nicht ganz vier Millionen auf zehn Millionen nahezu verdreifachen. Das hat Folgen für jeden Einzelnen, der aktiv dazu beitragen kann, bis ins hohe Alter körperlich und geistig fit zu bleiben. Gefragt sind aber auch Gesellschaft und Politik, die Antworten auf den demographischen Wandel suchen, Forschung und Industrie, die die Leistungsfähigkeit Älterer beispielsweise bei der Fahrzeugentwicklung einplanen müssen, Architekten, Stadtplaner und die Wohnungswirtschaft und nicht zuletzt die Medizin und der pflegerische Bereich. Diese Problemfelder diskutieren Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen am 4. und 5. November 2009 in Stuttgart bei einem gemeinsamen Symposium der Universität Stuttgart und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften "Alter(n) gestalten - Medizin, Technik, Umwelt". Die Veranstaltung wird von der Robert Bosch Stiftung gefördert.

"Anlass für das Symposium ist das 100-jährige Jubiläum der Heidelberger Akademie der Wissenschaften", erklärte deren Präsident Prof. Hermann H. Hahn am 4. November vor Medienvertretern in Stuttgart. "Ansatz war es, das Thema Altern und Alter aus der umfassenden Sicht einer Akademie, ergänzt um das fachliche Know-how der Universität Stuttgart zu behandeln." "Wir sind dem Wunsch der Akademie, dieses Symposium gemeinsam zu veranstalten, sehr gerne gefolgt", sagte Uni-Rektor Prof. Wolfram Ressel. "Schließlich haben unsere Wissenschaftler, darunter Sportwissenschaftler, Ingenieure und Städtebauer, zu dieser Thematik sehr viel beizutragen. Auch in der Weiterbildung ist die Universität Stuttgart auf diesem Feld aktiv. "Im Wintersemester 2010 startet der berufsbegleitende Online-Studiengang Integrierte Gerontologie, der Querschnittskompetenzen für den Umgang mit der älter werdenden Gesellschaft vermittelt", betonte Prof. Wolfgang Schlicht, Direktor des Instituts für Sport- und Bewegungswissenschaft der Uni Stuttgart und Leiter des Studiengangs. "Im Zentrum des Studiengangs und des Symposiums steht die Annahme, dass der Einzelne zum Gelingen seines Alterns beitragen kann und Wissenschaft die Voraussetzungen dazu schafft", ergänzte er.

Für die Rente mit 67

Die bereits gesetzlich verankerte Verlängerung der Lebensarbeitszeit unterstützt Prof. Axel Börsch-Supan (Direktor des Mannheimer Forschungsinstituts Ökonomie und Demographischer Wandel). Ältere Arbeitnehmer - so Börsch-Supan in seinem Festvortrag am Abend des 4. November zum Thema "Müssen, dürfen, sollen, wollen, können ältere Menschen noch arbeiten?" - seien anders, aber nicht weniger produktiv als jüngere. Die nachlassende körperliche Leistungsfähigkeit werde meist durch Erfahrung ausgeglichen. Es bestehe also kein Anlass für Arbeitgeber, ältere Arbeitnehmer vorrangig zu entlassen. "Ältere Arbeitnehmer gehen im Normalfall gesund und voll belastungsfähig in die Rente", widersprach der Mannheimer Forscher Befürchtungen, dass die Rente mit 67 sich aus körperlichen Gründen nicht realisieren ließe. Gleichzeitig wies er darauf hin, dass die verlängerte Lebensarbeitszeit erst ab dem Jahr 2029 für heute 45-Jährige oder Jüngere in vollem Umfang gilt. Auch aus volkswirtschaftlicher Sicht spreche nichts gegen eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit. "So nehmen ältere Arbeitnehmer jüngeren nicht die Arbeitsplätze weg", betonte er. Vielmehr müssten die Kosten der Frührente von den Jüngeren getragen werden, was deren Lohnkosten erhöhe und die Einstellungsbereitschaft der Arbeitgeber verringere. Auch international zeige sich, dass in Ländern mit großzügigen Frühverrentungsregeln die Arbeitslosigkeit unter Jüngeren besonders hoch sei.

Prävention und Regeneration

Das Symposium am 5. November nähert sich dem Thema "Alter(n) gestalten" in Themenblöcken. Im ersten Teil geht es um Prävention und Regeneration. Die Funktionstüchtigkeit schwindet altersbedingt umso schneller, je weniger die Motorik geübt, Ausdauer und Kraft trainiert werden. "Körperliche Aktivität im Alltag ist ein Schlüsselverhalten, mit dem Altern körperlich und psychisch gelingt. Dazu braucht es nicht viel an Zeit und vor allem kein sportliches Talent", sagt der Stuttgarter Sportwissenschaftler Prof. Wolfgang Schlicht. Beim Alterungsprozess verändert sich unser Gehirn, und diese Veränderungen äußern sich in normalen bis teilweise pathologischen Abbauprozessen. Über die Veränderung der Plastizität im Gehirn spricht Prof. Hannah Monyer (Heidelberg). Die Mediziner Dr. Iris-Tatjana Kolassa (Konstanz) und Dr. Carsten Diener (Mannheim) stellen die Grundlagen dieses geistigen Abbaus und Ansätze zu seiner Verhinderung vor: Wie bleiben wir bis ins hohe Alter geistig fit?

Biologische und technische Assistenzsysteme

Über Möglichkeiten und Perspektiven der Stammzelltherapie berichtet Prof. Anthony D. Ho (Heidelberg) im Themenblock "Biologische und technische Assistenzsysteme". Stammzellen sind wie alle Zellen des Körpers am Alterungsprozess beteiligt. Da sie sowohl bei der Organentwicklung als auch bei der Aufrechterhaltung der Organfunktionen eine entscheidende Rolle spielen, können Veränderungen der Stammzellen wichtige Hinweise für ein Verständnis des Alterungsvorgangs liefern. Durch innovative Strategien, die eine Reaktivierung alternder Stammzellen ermöglichen, eröffnen sich zahlreiche Therapiemöglichkeiten für die regenerative Medizin. Um die moderne Stammzelltechnologie voll auszuschöpfen, ist eine präzise Aufklärung der molekularen Steuerungsmechanismen von adulten Stammzellen grundlegend. Um elektronische Systeme zum Ersatz nicht ausreichender Hörleistung geht es in einem Beitrag von Prof. Peter Plinkert (Heidelberg). Endoprothetik und Alter - Schließt ein höheres Lebensalter die Versorgung mit Kunstgelenken aus, wie dies angesichts der Kostenexplosion im Gesundheitswesen gelegentlich gefordert wird? "Mobilität ist Lebensqualität und Instrument für anhaltende Selbständigkeit", sagt dazu Prof. Kuno Weise (Tübingen).

Von der Fahrzeugentwicklung bis zur Pflege

Die Anzahl älterer Autofahrer nimmt kontinuierlich zu. Die Automobilindustrie reagiert auf die demographische Entwicklung und bietet Assistenzsysteme und Fahrzeugzusatzausstattungen an. Diese unterstützen die Fahrer meist unabhängig von ihren individuellen Bedürfnissen. Prof. Jochen Wiedemann (Stuttgart) stellt einen ganzheitlichen Ansatz zur bedarfsgerechten Unterstützung von Autofahren vor, der deren individuelle Leistungsfähigkeit berücksichtigt und eine situationsabhängige Hilfestellung. Alterung ist für die Architektur und Stadtplanung zu einem "Megathema" geworden. Nicht nur im Neubau, sondern auch in der schwierigen, altersgerechten Anpassung des Wohnungsbestandes sowie der Sicherung der Versorgungs- und Pflegeleistungen auf Quartiersebene", betont Prof. Tilman Harlander (Stuttgart). Darüber hinaus spielen neue Wohnformen im Alter eine immer größere Rolle, also die verschiedenen Modelle des Betreuten Wohnens, Stifte und Seniorenresidenzen, Mehrgenerationenwohnprojekte, Haus- und Wohngemeinschaften älterer Menschen oder auch Demenz-WGs.

Altersgewandelten Gesellschaften fehlt es an einem Konsens darüber, was Gesundheit und selbständiges Leben im hohen Alter ist, ist die Ausgangsthese von Prof. Adelheid Kuhlmey (Berlin). Neben den Erfolgen des Alterns diskutiert sie mit einem langen Leben verbundene Risiken am Beispiel der Pflegebedürftigkeit. Von einer relativierenden Perspektive auf die Gesundheit im Alter ausgehend benennt sie pflegerische Entwicklungsherausforderungen, die dazu beitragen können, Selbständigkeit im Alter trotz Verlust an Selbstversorgung zu erhalten.

Lebensqualität im Alter

Angesichts des demographischen Wandels stellt die gesellschaftliche und wirtschaftliche Integration Älterer eine große gesellschaftspolitische Herausforderung dar, betont Johannes Siegrist (Düsseldorf) in seinem Beitrag über Chancen gesunden Alterns aus soziologischer Sicht. Er fordert, die Qualität der Arbeit und die Beschäftigungsverhältnisse so zu gestalten, dass mehr Ältere bis zur Rente beruflich aktiv sein können und den Menschen für die nachberufliche Phase befriedigende und wirkungsvolle Optionen zivilgesellschaftlichen Engagements eröffnen. "Ohne soziale Kontakte können wir nicht überleben und glücklich leben. Wahrscheinlich war die Komplexität der sozialen Bindungen eine der Hauptgründe, warum Menschenaffen in der Evolution eine so rasante Hirnentwicklung bis hin zum Menschen durchgemacht haben", stellt Prof. Andreas Meyer-Lindenberg (Mannheim) in seinem Vortrag über genetische und Gehirnmechanismen menschlichen Sozialverhaltens fest. "Es gibt Gene, die das menschliche Sozialverhalten mitbedingen", betont er. Die Entschlüsselung der zugrundeliegenden Mechanismen liefere wichtige Beiträge zum Verständnis psychischer Erkrankungen und neue therapeutische Ansatzpunkte über die gesamte Lebensspanne. "Wer sich Gedanken über die wachsende Bedeutung des Alters macht, wirft klugerweise einen Blick in die Geschichte", meint Prof. Otfried Höffe (Tübingen) in seinem Beitrag über drei Bilder vom Alter, "in die Antike (Cicero), in die Neuzeit (Jakob Grimm) und in die Fast-Gegenwart (Ernst Bloch)."

Die Tagungsbeiträge erscheinen Anfang 2010 bei Springer in Heidelberg.
Herausgeber sind Heinz Häfner, Wolfgang Schlicht und Konrad Beyreuther.

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution80

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Universität Stuttgart, Ursula Zitzler, 04.11.2009
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. November 2009

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