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ARTIKEL/447: Gender-Medizin - Werden Frauen anders gesund? (welt der frau)


welt der frau 10/2009 - Die österreichische Frauenzeitschrift

Werden Frauen anders gesund?
Ein Interview mit der Wiener Gender-Medizinerin Anita Rieder

Von Julia Kospach


Die sogenannte Gender-Medizin wird immer moderner. Doch was untersucht sie genau? Brauchen Frauen und Männer unterschiedliche Medikamente und Therapien? Benachteiligt das Gesundheitssystem Frauen?

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WELT DER FRAU: Was genau untersucht die Gender-Medizin?

ANITA RIEDER: Die Unterschiede in der Gesundheit zwischen Mann und Frau. Das beinhaltet biologische Unterschiede bei der Häufigkeit von Krankheiten, beim Ansprechen auf Therapien oder bei Vorsorgemöglichkeiten. Genauso beschäftigt sie sich aber mit sozial- und gesellschaftspolitischen Fragen wie der, ob es aufgrund unserer Geschlechterrollen und der Vorstellung, dass Männer und Frauen andere Erkrankungen haben, eine unterschiedliche Behandlung im Gesundheitssystem gibt. Dazu gehört auch, wie wir selbst über unsere Krankheiten reden.

WELT DER FRAU: Welche Einsichten führten zu ihrer Entwicklung?

ANITA RIEDER: Vieles, was heute unter Gender-Medizin zusammengefasst ist, wurde ja schon länger in verschiedenen Forschungsgebieten gemacht. Inzwischen setzt sie sich immer mehr durch. An der Medizinuniversität Wien haben wir jetzt die erste Professur für Gender-Medizin ausgeschrieben. Die forschungspolitische Ausrichtung hat in den USA begonnen, weil man festgestellt hat, dass in medizinischen Studien sehr wenige Frauen als Patientinnen vorkommen, obwohl sie ja dann die in diesen Studien getesteten Medikamente in der täglichen Praxis genauso einnehmen. Gerade in Zusammenhang mit Herzkrankheiten gab es in den Studien einen maximalen Frauenanteil von 20 oder 30 Prozent.

WELT DER FRAU: Woher kam das?

ANITA RIEDER: Man war in Bezug auf Herzerkrankungen sehr auf Männer fixiert, obwohl wir wissen, dass Frauen genauso davon betroffen sind - nur im Durchschnitt erst zehn Jahre später als Männer. Die Erkenntnis, dass wir sehr viel mehr spezifische Betrachtung von Männern und Frauen benötigen, kam also ursprünglich aus der kardiologischen Forschung.

WELT DER FRAU: Eine der Pionierinnen der Gender-Medizin, die Amerikanerin Marianne Legato, beschreibt in ihrem Buch »Evas Rippe«, dass Frauen körperlich in fast allen Bereichen anders funktionieren als Männer. Umgekehrt würden die meisten Therapien und Medikamente in erster Linie für männliche Körper entwickelt. Teilen Sie diese Ansicht?

ANITA RIEDER: Ich würde das breiter sehen. Die Gender-Medizin muss mit ihren Forschungsfragen darauf ausgerichtet sein, ob körperliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen auch relevant sind. Das ist der entscheidende Punkt. Es gibt Bereiche, in denen Frauen besonders häufig betroffen sind, zum Beispiel bei Krankheiten wie der rheumatoiden Arthritis. Umgekehrt sind Männer und Frauen bei Herzerkrankungen durch einen Großteil der Risikofaktoren gleich gefährdet, auch wenn es doch Unterschiede gibt, die aber keine unterschiedliche Vorgehensweise verlangen. So hat sich herausgestellt, dass zuckerkranke Frauen im Vergleich zu nicht zuckerkranken Frauen ein sehr viel höheres Herzinfarktrisiko haben.

Für Männer ist das nicht so ausgeprägt. Viel hängt natürlich auch an unseren Hormonsystemen. Wir sollten aber sehr aufpassen, dass wir jetzt nicht alles in Männer und Frauen einteilen.

WELT DER FRAU: Trotzdem stellt sich die Frage, ob Frauen derzeit in der Praxis schlechter versorgt werden als Männer, weil zu wenig auf ihre körperlichen Spezifika eingegangen wird.

ANITA RIEDER: Man kann das nicht generalisieren und ich würde auch davor warnen, die Gender-Medizin dafür zu verwenden, ein riesiges Defizit auf Seiten der Frauen zu konstatieren.

WELT DER FRAU: Warum? Ihre Kollegin Marianne Legato tut genau das.

ANITA RIEDER: Das ist für mich nicht das Prinzip der Gender-Medizin. Wir sind inzwischen Gott sei Dank so weit gekommen, dass sie Männer und Frauen gleichermaßen einschließt. Damit sind wir vielleicht auch an einem Punkt, wo wir die Stereotypen verlassen können.

WELT DER FRAU: Sehr oft wird Gender-Medizin aber noch mit Frauenmedizin gleichgesetzt. Ist das falsch?

ANITA RIEDER: Ja, aber es hat natürlich seine Tradition, weil Frauen auch politisch einiges aufzuholen haben. Die gesamte Gender-Forschung stammt aus dem sozialwissenschaftlichen Bereich und ist erst viel später von dort in die Medizin gelangt. Natürlich kommt sie auch aus dem Feminismus. Das ist in Ordnung, führt aber mitunter dazu, dass viele Bereiche extrem emotionalisiert werden.

WELT DER FRAU: Es ist gut vorstellbar, dass falsch verstandene Gender-Medizin hilft, althergebrachte Geschlechterbilder zu zementieren.

ANITA RIEDER: Genau davor möchte ich warnen. Man muss darauf achten, dass die Gender-Medizin eben nicht solchen Stereotypien wie »Männer sind so, Frauen sind so« in die Hände spielt. Es geht darum, echte Wissenschaft zu betreiben und klarzustellen, dass wir ein Puzzle zusammentragen - in dem Maß, in dem das medizinische Wissen zunimmt.

WELT DER FRAU: Wo sind denn Unterschiede so relevant, dass - abseits der Frauenheilkunde - unterschiedliche Behandlungen von Männern und Frauen notwendig sind?

ANITA RIEDER: In der Rheumatologie und Neurologie findet man viele unterschiedliche Ausprägungen von Krankheiten, allerdings noch keine großen unterschiedlichen Therapieempfehlungen. In der Krebsbehandlung, so die Onkologen, hat es den Anschein, dass Frauen einen höheren Bedarf an psychoonkologischer Betreuung haben und diese auch vorwiegend in Anspruch nehmen. Das hängt damit zusammen, dass Frauen häufiger weniger soziale Unterstützung erfahren, wenn sie an Krebs erkranken. Sie haben vielleicht keinen Partner oder der Partner gibt ihnen nicht die Unterstützung, mit der an Krebs erkrankte Männer von ihren Partnerinnen rechnen können. Dadurch nehmen Frauen psychologische Hilfe eher in Anspruch. Auf diese Weise entstehen mehr Frauenhilfsgruppen, zu denen dann Männer weniger leicht Zugang finden. Im Nachhinein stellen sich solche selbst entwickelten Systeme so dar, als ob die einen mehr Bedarf hätten als die anderen. Das ist aber nicht der Fall.

WELT DER FRAU: Verhalten sich Frauen Schmerz gegenüber anders als Männer?

ANITA RIEDER: Aus der physikalischen Medizin weiß man, dass Frauen mit Schmerzen passiver umgehen als Männer. Sie nehmen auch eher passive Therapien in Anspruch. Männer bevorzugen aktivere Therapieformen. Sehr viel wissen wir auch aus dem Übergewichtsbereich. Männer akzeptieren ein höheres Gewicht sehr viel eher als Frauen, ihre Abnehmschwelle liegt viel höher. Frauen wollen oft bereits im Normalgewichtsbereich ihr Gewicht regulieren.

WELT DER FRAU: Was Sie hier beschreiben, sind soziokulturelle Unterschiede.

ANITA RIEDER: Ja, aber die Frage, wie ich mit meinem Gewicht umgehe, hat in weiterer Folge sehr viel damit zu tun, ob ich einmal Diabetiker werde oder nicht.

WELT DER FRAU: Versucht die Gender-Medizin, körperliche und soziokulturell bedingte Unterschiede zwischen Männern und Frauen getrennt zu betrachten?

ANITA RIEDER: Das ist sehr schwierig. Wie man Behandlungen annimmt, ob man sich informiert oder nicht, ob es relevant ist, ob man zu einem Arzt oder einer Ärztin geht: Solche Fragen sind sehr schwer von den biologischen zu trennen, aber sie spielen eine wesentliche Rolle.

WELT DER FRAU: Auf welchen medizinischen Gebieten sollten Frauen in Zukunft anders behandelt werden als Männer?

ANITA RIEDER: In jedem Bereich gibt es viele Beispiele, wo Männer und Frauen sich unterscheiden, aber die Umsetzung in praktische Therapien hat vielfach noch nicht stattgefunden. Das sind erst die nächsten und übernächsten Schritte. Die Kardiologie ist da einmal mehr das klassische Beispiel, fast schon eine Tradition der Gender-Medizin. Da weiß man wahrscheinlich am meisten. Zum Beispiel ist man daraufgekommen, dass Frauen bei Herzuntersuchungen möglicherweise andere Instrumente brauchen würden, weil zum Beispiel ihre Herzkranzgefäße einen geringeren Durchmesser haben als die von Männern.

WELT DER FRAU: Wird es sich bei Medikamenten irgendwann einmal so stark ausdifferenzieren, dass ein Aspirin für Männer und eins für Frauen auf den Markt kommt?

ANITA RIEDER: Ich kann mir gut vorstellen, dass man im medikamentösen Bereich noch sehr viel mehr auf den Lebenszyklus von Männern und Frauen und damit auf die hormonelle Situation eingeht, als das derzeit der Fall ist, wie auch das Alter noch stärker in Therapiekonzepten (nicht nur medikamentöse Therapien betreffend) zu berücksichtigen ist. Aber ich würde meinen, dass in der klinischen Medizin immer auch der einzelne Patient, die einzelne Patientin und die individuellen Bedürfnisse eine wesentliche Rolle spielen werden, auch wenn geschlechtergerechte Leitlinien der Behandlung zugrunde liegen.

WELT DER FRAU: Was bedeutet all das Besprochene für den Laien, der zum Arzt geht?

ANITA RIEDER: Es ist wichtig, sich ein bisschen Wissen anzueignen, um die richtigen Fragen zu stellen und sich selbst besser hinterfragen zu können. Frauen bekommen zum Beispiel viel weniger Ernährungs- und Bewegungsberatung als Männer, weil sie von vornherein automatisch als gesundheitsbewusster deklariert werden. Und das, obwohl sie mit den gleichen Risikofaktoren vor ihren Ärzten sitzen. Dazu gibt es Untersuchungen. Wenn man sich dessen als Frau bewusst ist, kann man besser nachfragen und zusätzliche Informationen und Beratung aktiver einfordern und einholen.


Die Sozialmedizinerin und Gesundheitspsychologin Anita Rieder, 46, lehrt und forscht seit 1989 am Institut für Sozialmedizin der Universität Wien, wo sie 2000 zur Professorin berufen wurde. Sie ist außerdem wissenschaftliche Leiterin des Master of Public Health Lehrganges und Curriculumsdirektorin der Medizinischen Universität Wien.

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Was ist:

Gender Medizin:
Medizin nach geschlechtsspezifischen Gesichtspunkten wie sozialen, psychologischen, aber auch biologischen Unterschieden zwischen Männern und Frauen in der Diagnose, Vorsorge und Behandlung

rheumatoide Arthritis:
häufige entzündliche Erkrankung der Gelenke

psychoonkologische Betreuung:
psychotherapeutische und psychologische Betreuung von Krebserkrankten

Sozialmedizin:
untersucht die Wechselwirkung zwischen Krankheit und sozialer und gesellschaftlicher Umwelt

Kardiologie:
befasst sich mit Struktur, Funktion und Erkrankungen des Herzens

Public Health:
zu Deutsch Gesundheitswissenschaften, beschäftigen sich mit den körperlichen, psychischen und sozialen Bedingungen von Gesundheit und Krankheit in einer Gesellschaft

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Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift,
Ausgabe 10/2009, Seite 56-58
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
Herausgeberin: Katholische Frauenbewegung Österreichs
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Oktober 2009

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