Schattenblick → INFOPOOL → MEDIZIN → SOZIALES


STUDIE/534: Schwangerschaftskonfliktberatung - gesetzlicher Anspruch und praktischer Nutzen (pro familia)


pro familia magazin 2/2015
Deutsche Gesellschaft für Familienplanung,
Sexualpädagogik + Sexualberatung e.V.

Schwangerschaftskonfliktberatung
Pflichtberatung: Die große Kluft zwischen gesetzlichem Anspruch und praktischem Nutzen

Von Cornelia Helfferich


Ungewollte Schwangerschaften bilden einen Schwerpunkt der Studie "frauen leben 3. Familienplanung im Lebenslauf"(1), die vom Sozialwissenschaftlichen FrauenForschungsInstitut SoFFI F. im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) 2011 bis 2014 durchgeführt wurde. 4.002 Frauen im Alter von 20 bis 44 Jahren in vier Bundesländern wurden mit einem Fragebogen unter anderem zu zurückliegenden ausgetragenen und abgebrochenen Schwangerschaften befragt (4.772 Schwangerschaften, darunter 367 Schwangerschaftsabbrüche).

In einem zweiten Schritt wurden aus den telefonisch Befragten 97 Frauen ausgewählt, die jemals eine ungewollte Schwangerschaft ausgetragen oder abgebrochen hatten. Sie wurden in einem offenen, qualitativen Interview gebeten, ihre Lebensgeschichte und speziell die Geschichten ihrer Schwangerschaften mit eigenen Worten zu erzählen. Interviews mit 24 Beraterinnen aus Schwangerschafts(konflikt)beratungsstellen aus einem breiten Trägerspektrum zu ihren fachlichen Einschätzungen und Erfahrungen ergänzen das Forschungsdesign.(2)

Ein Befragungsthema in allen drei Erhebungsschritten waren Erfahrungen mit der Schwangerschaftskonfliktberatung. Die Ergebnisse werfen ein Licht auf die Praxis der Beratung vor einem Schwangerschaftsabbruch, die verpflichtend ist, damit der Schwangerschaftsabbruch straffrei bleibt. Die Beratungspflicht ist gesetzlich in § 219 StGB und in dem "Gesetz zur Vermeidung und Bewältigung von Schwangerschaftskonflikten" (SchKG) von 1995 geregelt. Vorgeschrieben wird der Beratungsinhalt einerseits als ein zielorientiertes Bemühen, zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen, andererseits soll ergebnisoffen beraten werden.(3) Es gibt eine breite Diskussion dazu, wie die Pflichtberatung ausgestaltet werden kann oder soll und ob sie überhaupt geeignet ist, um die Ziele der ergebnisoffenen Suche nach der für die Beratene besten Lösung einerseits und des Schutzes des ungeborenen Lebens andererseits zu vereinbaren.

Die Beratung hatte überwiegend keinen Einfluss auf die Entscheidung

Die Studie "frauen leben 3" zeigt, dass zwei Drittel der Befragten der Beratung keinen Einfluss auf die Entscheidung einräumen. Übereinstimmend stellen Beraterinnen und die befragten Frauen fest, dass die Erwartung, Beratung wolle zum Austragen der Schwangerschaft überreden, eher eine negative Abwehrhaltung und eine Fixierung auf das Ausstellen des Beratungsscheins erzeugt und eine ungünstige Ausgangssituation darstellt, um Schwangere zu erreichen. Zu den 367 angegebenen Schwangerschaftsabbrüchen wurden jeweils vier Statements mit Aussagen zur Schwangerschaftskonfliktberatung vorgelegt. Mit 69,1 Prozent stimmten mehr als zwei Drittel der Aussage zu "Das Gespräch hatte keinen Einfluss auf meine Entscheidung". Etwas mehr als die Hälfte verneinte,dass sie ihre Entscheidung noch einmal überdacht hätte (57,6 Prozent); 26,2 Prozent bejahten dies. Und ebenfalls mehr als die Hälfte (60,8 Prozent) gab an, keine neue Information erhalten zu haben; 31,5 Prozent bejahten dies. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die Mehrheit keinen Effekt der Beratung sieht, aber ein Anteil - je nach Item - von einem Fünftel bis zu einem knappen Drittel eine Wirkung angab. Das vierte Item wurde auch von Frauen bejaht, die die anderen Fragen nach Wirkungen verneint hatten: 49,6 Prozent gaben an, dass sie sich nach dem Gespräch in ihrer Entscheidung sicherer fühlten. Bei Schwangerschaftsabbrüchen im Alter von unter 25 Jahren wurde häufiger angegeben, dass die Frau neue Informationen erhalten hatte.

Der Blick der Frauen auf die Beratung

Ein Blick auf die 41 auswertbaren Episoden, die in den qualitativen Interviews berichtet wurden, erhellt Hintergründe. Generell wird der Pflichtcharakter rezipiert als "man/ich musste" und mit der Bezeichnung als "Pflichtberatung". Das Angewiesen-sein auf den "Schein" ist präsent und wird vor allem von denen thematisiert, die ihre Entscheidung vorab getroffen haben. Allgemein werden auch der Zeitdruck und die "vielen Termine", ein "Wohin-geschickt-werden" und die Schwierigkeit, einen zeitnahen Beratungstermin zu organisieren, angesprochen.

Im Einzelnen wurde die Beziehung zwischen Beraterin und Frau in drei unterschiedlichen Weisen dargestellt (mit Überschneidungen).

Beim ersten Muster 'Beratung als Überredungsversuch' wird Beratung mit dem Versuch assoziiert, die Erzählerin zu überzeugen, das Kind zu behalten. Einige berichten eine entsprechende Erfahrung, bei anderen war es eine Erwartung, die dann nicht eintrat. Die "Überredungsversuche" werden mehr oder weniger drastisch benannt von "bekehren" bis "(sie hat) gesagt, dass es natürlich toll wäre, wenn es möglich wäre". Wo ein "natürlich" beigefügt wird ("sie haben natürlich versucht..."), wird deutlich, dass es sich um ein Stereotyp handelt, um eine für selbstverständlich gehaltene Eigenart von Beratung, auf das Austragen der Schwangerschaft hinzuwirken. Es finden sich Schilderungen von Konfrontationen ("Was bringt Ihnen das, mich zu überreden, dieses Kind zu bekommen?") und abwehrenden Haltungen ("dass ich mir da nichts einreden lasse", "dass ich da nicht zu bekehren bin"). "Die Beratungsstelle hatte überhaupt keine Chance und das haben die auch sehr schnell gemerkt (...), ich hab alle Argumente sofort in der Luft zerlegt."

Diese Szenen einer Konfrontation werden negativ belegt ("unfreundlich", "schrecklich", "sinnlos", "unmöglich"). Positiv oder neutral wird vermerkt, wenn die Entscheidung der Frau akzeptiert wurde. "Ich hab dem halt gleich gesagt: Ich will nicht. Und dann war's auch gut (...). Ich habe nicht um Hilfe gebeten, ich wusste ja, was ich wollte." Ihren Part als Gegnerin in einem Konfrontationskurs bestimmen vor allem die Frauen, die betonen, dass sie sich ihrer Entscheidung sicher waren und sie "rigoros durchziehen" wollten. Sie brauchten keine Beratung, lehnten sie ab und fokussierten auf den Beratungsschein.

Das zweite Muster 'Beratung als neutrales Abwägen' beschreibt die Haltung der Beraterin positiv als "annehmend", "verstehend", "eingehend (auf die individuelle Situation)", "(trotzdem) neutral", "abwägend", "Pro und Kontra fragend", "auch die andere Seite sagend". Dies wird teilweise ausdrücklich als Gegenteil von "Überreden wollen" vermerkt und positiv konnotiert.

"Du gehst halt hin und sprichst mit ihr darüber. Ich mein, es ist gut, (...), wenn man von außen jemand dazu holt, der neutral ist, der sich's anhört, der dir Fragen stellt und dadurch erhältst du Klarheit. Und das war gut so, um mir klar zu machen: Genau das ist mein Weg. Und dann kannst du dahinter stehen."

Beratung wird hier eine prüfende Funktion zugeschrieben, zur Klärung einer offenen bzw. Absicherung einer schon getroffenen Entscheidung beizutragen. Das dritte Muster handelt von 'Zu wenig Beratung'. Die Darstellung kritisiert die Schnelligkeit der Beratung ("zack zack zack und fertig", "das war überhaupt nichts mit Beratung") und das zu kurze Eingehen auf Unterstützungsmöglichkeiten mit der Option, dass die eigene Entscheidung vielleicht doch hätte anders ausfallen können.

'Hilfen und Unterstützung benennen' als Funktion der Beratung wird im Zusammenhang mit ,Überredungsversuche' negativ bewertet ("Sie kamen natürlich mit Hilfen und Quark"), verbunden mit einer Kritik an den unzureichenden Hilfen: "Ich sag: Was denn für Hilfen, was denn für Beratung? Ich sag: Ich renne von Pontius zu Pilatus, ich muss überall als Bittsteller hin, ich muss mich erklären, muss mich nackig machen." In dem Muster 'Zu wenig Beratung' und 'neutrales Abwägen' wird die Benennung von Hilfemöglichkeiten positiv bewertet.

Es gibt drei Beispiele von Umgangsweisen mit Beratung, die jeweils auf den Druck zurückzuführen sind, den Beratungsschein zu bekommen: Eine Befragte wollte erst einmal den Schein haben, um dann in Ruhe nachdenken zu können. Eine andere Befragte verhielt sich strategisch, um den Schein zu bekommen. Sie erfand eine Geschichte: "Ich war auf einer Party, ich war besoffen und da waren zwei Männer, ich weiß nicht, wer der Vater ist, ich kenne auch die beiden Männer nicht mehr (...). Gut, ich hab da ein bisschen gelogen, aber ich hatte diesen Wisch in der Hand." Eine Dritte blockte ab, weil die Pflichtberatung auch bei einer Unsicherheit nicht der geeignete Rahmen war, um tiefergehende Konfliktlagen zu bearbeiten.

 Statements zur Schwangerschaftskonfliktberatung (in Prozent) 
Statement



Habe meine Entscheidung
noch nicht überdacht


Habe neu Informationen
über finanzielle Hilfen
und andere Unterstützungs-
möglichkeiten erhalten
Habe mich
in meiner
Entscheidung
sicher gefühlt
Gespräch hatte
keinen Einfluss
auf meine
Entscheidung
Zustimmung
n=340
n=340
n=343
n=340
ja
26,2
31,5
49,6
69,1
nein
57,6
60,8
33,5
19,1
teilweise
16,2
7,7
16,9
11,8
Gesamt
100
100
100
100

Quelle: BZgA, Datensatz "frauen leben 3", 2012, 20- bis 44-jährige Frauen in vier Bundesländern Filter: Frauen mit Schwangerschaftsabbrucherfahrung


Die Perspektive der Beraterinnen

Die Berichte der Beraterinnen spiegeln trägerübergreifend das, was die Frauen über sich selbst gesagt haben, mit großen Übereinstimmungen wider. Alle Beraterinnen beschreiben Klientinnen, die "genervt" sind, sich "gedrängt" und unter "Rechtfertigungsdruck" fühlen, "Angst, verurteilt zu werden" haben. Sie "verteidigen / verweigern sich" und "öffnen sich nicht", "sind verschlossen / reserviert", sehen "keine Notwendigkeit (der Beratung)", sind ihr "abgeneigt" und "haben es eilig", "legen sich etwas zurecht" und "haben Angst, den Schein nicht zu bekommen". Die anderen Klientinnen sind offen für Beratung und in ihrer Entscheidung unsicher.

Nach dem eigenen Beratungsverständnis sollen Frauen eine "tragfähige" und "autonome Entscheidung" in "Selbstverantwortung" treffen können. Dafür ist Voraussetzung, eine Beziehung und "Vertrauen" aufzubauen, "Zugang zu finden", "in Kontakt" zu kommen. Das professionelle Handeln und die professionelle Haltung der Beraterinnen erfordert eine hohe Sensibilität dafür, was in der Pflichtberatung "möglich und angebracht ist und was nicht", um die individuell unterschiedlichen Situationen der Frauen aufzugreifen.

Ein "geschützter" und "sicherer" Raum soll geschaffen werden, "ohne Rechtfertigungsdruck" und "Vorwürfe", in dem die Frau "ernst genommen" wird. Weitere Stichworte sind "Neutralität" und "Wertfreiheit" Bei dieser Praxis werden positive Effekte berichtet. Zu dem Aufgreifen der individuellen Situation gehört nach Ansicht der Beraterinnen auch, bei Frauen, die "jeder Versuch des Kontaktherstellens schon nervt", als "Entlastung" und "Druck rausnehmen" früh mitzuteilen, dass sie den Schein bekommen werden.

Der Pflichtberatung wird einerseits ein problematischer und hinderlicher Zug aufgrund des Rechtfertigungsdrucks zugesprochen. Eine Teilgruppe der Beraterinnen - insbesondere aus konfessionellen Beratungsstellen - bezeichnet die Beratung als Angebot, prinzipielle "Chance" und "Gelegenheit", die insbesondere für die Teilgruppe von Frauen wichtig ist, die wenige Personen haben, um ihre Entscheidung zu besprechen.

Zwei Beratungsstellen weisen darauf hin, dass es unter dem Rechtfertigungsdruck sein kann, dass die eigene Entscheidung als fester dargestellt wird, als dies in Wirklichkeit der Fall ist, und die "andere Seite" und "Ambivalenzen" aus Angst vor den Überzeugungsversuchen nicht gezeigt werden können. Ein "impliziter Beratungswunsch" wird dann aus Angst davor, "sich nicht angreifbar zu zeigen in einer absolut angreifbaren Situation" und den Beratungsschein nicht zu bekommen, nicht geäußert.

Diskussion

Der Pflichtcharakter führt zu einer hartnäckig sich haltenden Wahrnehmung der Beratung als Überredungsversuch auf Seiten der befragten Frauen und erzeugt einige kontraproduktive Effekte der Zwangsberatung, obwohl die Beraterinnen längst eine andere, wenig normativ "bekehrende" Praxis etabliert haben. Das Problem der fehlenden vertrauensvollen Öffnung sehen auch die interviewten Beraterinnen. Eine - bei allen Unterschieden der Träger - übergreifende Gemeinsamkeit im Selbstverständnis der Beraterinnen ist ein professionelles Beratungsverständnis, mit dem sie auf den Widerstand der beratenen Frauen mit einer akzeptierenden und respektierenden Haltung eingehen. Die kontraproduktiven Effekte werden zum Beispiel auch von Koschorke (2007) beschrieben.

In der quantitativen Erhebung wird mehrheitlich der Beratung kein Einfluss eingeräumt. Eine rasch nach Feststellung der Schwangerschaft feststehende Entscheidung wird auch in der internationalen Literatur berichtet.(4) Frauen, die sich in ihrer Entscheidung sicher sind, so zeigen die qualitativen Interviews, haben eine negative Einstellung zur Pflichtberatung. Es gibt eine kleinere Gruppe, die die Entscheidung überdenkt und die für ihre Entscheidung eine Begleitung wünscht. Insgesamt stehen sich fehlende oder sogar dem Beratungsverständnis zuwiderlaufende, negative Effekte bei einer größeren Gruppe, die keine Beratung will, sich aber beraten lassen muss, einem positiven Effekt bei einer kleineren Gruppe gegenüber, wobei nicht gesagt werden kann, ob diese kleinere Gruppe auch ohne Beratungspflicht eine Beratung aufsuchen würde.


Prof. Dr. Cornelia Helfferich ist Professorin für Soziologie an der Evangelischen Fachhochschule (EFH) - Hochschule für Soziale Arbeit, Diakonie und Religionspädagogik in Freiburg. Sie ist zudem Leiterin des Sozialwissenschaftlichen FrauenForschungsInstituts im Forschungs- und Innovationsverbund an der Evangelischen Hochschule Freiburg e. V. (FIVE).


Anmerkungen

(1) Die Zahl "3" ergibt sich aus der Durchnummerierung der Vorläuferstudien "frauen leben" und "frauen leben 2".
(2) Zu Details der Untersuchung:
www.forschung.sexualaufklaerung.de/4831html
(3) Ausführlicher siehe Koschorke 2007: 1112f.
(4) Rowlands 2008: 175

Dieser Artikel basiert auf dem Abschlussbericht des Forschungsprojektes, der im Sommer 2015 erscheinen wird.

*

Quelle:
pro familia magazin Nr. 02/2015, S. 4 - 7
Herausgeber und Redaktion:
pro familia Deutsche Gesellschaft für Familienplanung,
Sexualpädagogik und Sexualberatung e.V., Bundesverband
Stresemannallee 3, 60596 Frankfurt am Main
Telefon: 069 26 95 779-0, Fax: 069 26 95 779-30
E-Mail: info@profamilia.de
Internet: www.profamilia.de
 
Das pro familia magazin erscheint vierteljährlich.
Das Einzelheft kostet 5,10 Euro, ein Jahresabonnement 19,50 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Dezember 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang