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INITIATIVE/135: Emanzipatorisches Verhütungskollektiv Leipzig - "Die thermische Verhütungsmethode hat viele Vorteile" (pro familia)


pro familia magazin 4/2021
pro familia Deutsche Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung e.V.

VERHÜTUNG:
"Die thermische Verhütungsmethode hat viele Vorteile"

Interview mit Nisse Falter von Regine Wlassitschau


Nisse Falter lebt in Leipzig und ist Mitglied des Emanzipatorischen Verhütungskollektivs Leipzig. Das Kollektiv will bewirken, dass cis*-Männer mehr Verantwortung übernehmen und die Verhütung geschlechtergerecht wird. Das Kollektiv berät zu Verhütungsmethoden für alle Spermienproduzierenden mit einem Schwerpunkt auf der sanften thermischen Methode, die auch einige Mitglieder des Kollektivs anwenden.
Weitere Informationen: https://unverhuetbar.noblogs.org


pro familia magazin: Wie funktioniert die thermische Verhütungsmethode ganz praktisch?

Nisse Falter: Wir umgehen die wärmeregulierende Funktion des Hodensacks, indem wir die Hoden in den Leistenkanal drapieren, für bis zu 15 Stunden am Tag. Dadurch sind die Hoden der Körpertemperatur, ausgesetzt, ungefähr zwei Grad wärmer als der Hodensack, und die Spermatogenese, also der Prozess der Spermienreifung, wird gehemmt. Wenn das über drei Monate angewendet und danach fortwährend 15 Stunden durchgeführt wird, reduziert sich die Anzahl der Spermien auf bis zu 0 und dadurch wird eine temporäre Unfruchtbarkeit hergestellt.


pro familia magazin: Was benötigen Sie dazu?

Nisse Falter: Es gibt verschiedene Hilfsmittel. Gruppen in Frankreich haben den sogenannten Slip Contraceptif entwickelt, den es in unterschiedlichen Modellen gibt. Das ist im Grunde ein verstärkter handelsüblicher eng anliegender Slip, der einen lochförmigen Einsatz hat, in dem sich ein Ring befindet. Durch diesen wird der Penis und danach sachte der Hodensack mit nach außen gezogen, der Ring fungiert hierbei als Barriere. Der verhindert, dass die Hoden mit nach außen gezogen werden, und dadurch, dass sie keinen Platz mehr haben, nach vorne mit durchzuschlüpfen, steigen sie hoch ins Körperinnere, in die dort befindlichen Leistenkanäle. Danach wird dieser Ring noch mal fixiert mit einem kleinen Riemen. Dasselbe machen wir auch nur mit dem Hilfsmittel Silikonring. Denn das Essenzielle ist einfach dieser Ring, die Unterhose hat lediglich die Funktion, ihn in der Position fixiert zu halten. Die Hilfsmittel kommen für die jeweiligen Personen unterschiedlich gut in Betracht, sie müssen herausfinden, was bei ihnen besser funktioniert oder wer was präferiert.


pro familia magazin: Gibt es die Hilfsmittel auch in Deutschland, und sind sie nicht sehr unbequem?

Nisse Falter: Die Unterhosen gibt es nicht zu kaufen, aber es gibt Anleitungen und Tutorials. Über das Kollektiv in Frankreich können die Materialien für DIY erworben werden, mit denen maßgefertigte Unterhosen angefertigt werden können, aber das ist kein offizieller Vertrieb. Bei den Ringen ist es so, dass in Frankreich industriell gefertigte Ringe von Thoreme online vertrieben werden. Unser Verhütungskollektiv stellt die Hilfsmittel selbst her, sowohl die Unterhosen, als auch diese Silikonringe, die wir in unterschiedlichen Größen in selbst angefertigten Gussformen gießen. Die Bequemlichkeit wird unterschiedlich empfunden. Für viele ist es zu Beginn ungewohnt, aber die Erfahrung aller zeigt, dass es sehr schnell eine Gewöhnung gibt. Am Anfang kann das mal ziepen oder jucken oder eine gewisse Reibung entstehen, aber es entsteht auch schnell eine Routine darin, und die Vorteile überwiegen sehr stark. Ich kenne auf jeden Fall keine Person, die sagt: "Aufgrund der Unbequemlichkeit nutze ich das nicht." Man kann zum Beispiel auch jeden Sport damit ausüben.


pro familia magazin: Welche Erfahrungen haben Sie gemacht? Funktioniert die Verhütungsmethode?

Nisse Falter:: Das Funktionieren der Methode muss auf jeden Fall mehrfach per Spermiogramm bestätigt werden. Das ist dann eine fundierte Aussage durch den Laborbefund, den wir über das Ejakulat anfertigen lassen. Das Spermiogramm muss vor der Anwendung der Methode gemacht werden, danach alle drei Monate. Es hat sich gezeigt, dass die Methode individuell unterschiedlich schnell oder gut funktioniert, aber die Erfahrung der Kollektive in Frankreich zeigt, dass wirklich bei jeder Person die Spermienanzahl mindestens auf 1 Million zurückging. Bei vielen Leuten liegt die Spermienanzahl tatsächlich in einem Bereich von bis zu 0 Spermien, das ist dann wirklich die manifestierte Unfruchtbarkeit. Und auch bei 1 Million ist eigentlich eine Befruchtung ausgeschlossen.


pro familia magazin: Und die Erfahrungen bei Ihnen im Kollektiv?

Nisse Falter: Die sind verschieden. Ich zum Beispiel mache das schon seit über drei Jahren, und meine Spermien-Anzahl ist 0 und ich praktiziere das auch als Verhütungsmethode seit zwei Jahren. Andere Leute nutzen das in Ergänzung, also zum Kondom. Das ist auch was, was uns sehr wichtig ist und was wir propagieren, dass es eine ergänzende Methode sein kann, denn sie schützt nicht vor STIs(*). Es kommt außerdem immer darauf an, wie konsolidiert Beziehungen sind und wie das verhandelt wird. Es gibt bei uns Leute, die diese Verhütungsmethode anwenden und bei denen sie funktioniert. Es gab auch Leute, bei denen nach drei Monaten tatsächlich noch nicht die komplette Unfruchtbarkeit eingetreten war. Aber genau deshalb werden ja die Spermiogramme gemacht, und dann können Modifikationen in der Tragedauer, aber auch an den Unterhosen selbst vorgenommen werden, die dann noch mal eine höhere Wärme zuführen sollen.


pro familia magazin: Wie würden Sie die Vor- und die Nachteile der Methode beschreiben?

Nisse Falter: Ein sehr naheliegender Vorteil ist, dass die Methode sehr kostengünstig ist. Sie erfordert nur eine einmalige Anfertigung von drei Unterhosen oder einem Silikonring. Der Ring ist abwaschbar und sehr langlebig. Die Methode ist nicht-hormonell, sie ist, so weit sie erforscht ist, reversibel. Und sie hat ansonsten auch keine weiteren Nebenwirkungen, wie zum Beispiel Auswirkungen auf das Lustempfinden oder auf die psychische Gesundheit, die messbar gewesen wären. Gleichzeitig ist die Methode einfach viel zu wenig erforscht, auch die wenigen klinischen Studien, die es dazu in Frankreich gab, fanden teilweise nur mit acht oder neun Personen statt. Das heißt, sie sind nicht sehr aussagekräftig, was Nebenwirkungen betrifft. Und es fehlen auch Langzeitstudien zur Reversibilität, auch wenn bisher alles darauf hindeutet. Die längste Tragedauer, die in Frankreich mitbegleitet wurde, betrug vier Jahre, und das verunsichert natürlich potenzielle Anwender. Durch den geringen Forschungsstand und durch Unkenntnis bei Mediziner*innen oder Berater*innen fristet die Methode ein sehr starkes Nischendasein, und es sind auch wenige Informationen zugänglich. Es besteht eine große Unsicherheit darin, ob die Methode überhaupt funktioniert, obwohl sie ja über die Spermiogramme sehr leicht überprüft werden kann. All das trägt natürlich nicht dazu bei, dass die Methode als seriös oder für viele Leute anwendbar wahrgenommen wird.


pro familia magazin: Für wen könnte die Methode geeignet sein? Beziehungsweise was schließt die Anwendung aus?

Nisse Falter: Grundsätzlich für alle Spermienproduzierenden. Durch die Anwendung über den Leistenkanal gibt es einen Ausschluss für Leute, die mal einen Leistenbruch erlitten haben, und eine starke Obesitas (**) kann auch einen Ausschluss bedeuten. Uns ist es aber wichtig, nicht nur die Methode an sich zu propagieren. Wir wollen insgesamt eine geschlechtergerechte Verhütung und eine geteilte Verhütungsverantwortung. Dazu braucht es mehr politischen Druck und einen gesellschaftlichen Wandel. Sehr wichtig wären klinische Studien und weitere Untersuchungen zu der Thematik. Und Männer, die das stärker einfordern und sich für die Methode einsetzen.

Das Interview führte Regine Wlassitschau.


Anmerkungen der Schattenblick-Redaktion:

(*) Die Abkürzung STI steht für sexuell übertragbare Infektionen, also Erkrankungen, mit denen man sich hauptsächlich beim Sex anstecken kann.

(**) Obesitas ist ein anderes Wort für Fettleibigkeit


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Quelle:
pro familia magazin Nr. 04/2021, S. 14-15
Herausgeber und Redaktion:
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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 12. Februar 2022

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