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INTERVIEW/039: Versorgungsprophylaxe - Die Ordnung der Stärkeren ...    Reinhard Hoffmann und Benedikt Friemert im Gespräch (SB)


Chirurgische Schnitte im hierarchischen Kontext

Interview am 27. September 2016 in Berlin


Im Rahmen ihrer Kooperation mit der Bundeswehr führte die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) am 28. September im Berliner Unfallkrankenhaus eine Fachtagung zum Thema "Terroranschläge - eine neue traumatologische Herausforderung" durch. Am Vortag ging Prof. Dr. Reinhard Hoffmann bei einer Pressekonferenz [1] auf die Bedeutung der zivil-militärischen Zusammenarbeit zwischen der DGU und dem Sanitätsdienst der Bundeswehr ein. Hoffmann ist Generalsekretär der DGU und Ärztlicher Direktor der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik (BGU) Frankfurt am Main, Chefarzt der Unfallchirurgie und orthopädischen Chirurgie.


Beim Vortrag - Foto: © 2016 by Schattenblick

Prof. Dr. Reinhard Hoffmann
Foto: © 2016 by Schattenblick

Prof. Dr. Benedikt Friemert ist Oberstarzt der Bundeswehr und Leiter der AG Einsatz-, Katastrophen- und Taktische Chirurgie der DGU. Er ist an der Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie, Rekonstruktive und Septische Chirurgie, Sporttraumatologie am Bundeswehrkrankenhaus Ulm tätig. Bei der Pressekonferenz nannte er einige Stichworte zur Frage, auf welche Weise die Versorgung schwerverletzter Terroropfer von militärischen Erfahrungen profitieren könne.


Beim Vortrag - Foto: © 2016 by Schattenblick

Prof. Dr. Benedikt Friemert
Foto: © 2016 by Schattenblick

Im Anschluß an die Pressekonferenz beantworteten Prof. Hoffmann und Prof. Friemert in einem gemeinsamen Gespräch dem Schattenblick einige Fragen zur Fachtagung, zum Interesse der Politik an der Initiative der DGU, zu Auslandseinsätzen im Sanitätsdienst und zum Einsatz der Bundeswehr im Inneren.


Schattenblick (SB): An der Notfallkonferenz nehmen morgen im Berliner Unfallkrankenhaus nicht nur Vertreter der deutschen Unfallchirurgie, der Notfallmedizin sowie der Rettungs- und Sicherheitsorganisationen teil, sondern auch aus Politik und Bundeswehr. Handelt es sich um eine traumatologische Fachkonferenz und in welcher Funktion sind Politik, Bundeswehr und Polizei daran beteiligt?

Reinhard Hoffmann (RH): In erster Linie handelt es sich um eine traumatologische Tagung, auch um einen Austausch vor allem zwischen der Unfallchirurgie und der Bundeswehr, aber natürlich mit Beteiligung ausländischer Gäste insbesondere aus Frankreich. Es ist eine offene Veranstaltung, zu der man sich einschreiben konnte, und wir hatten eine sehr viel größere Nachfrage, als wir sie befriedigen konnten, da rein räumlich die Anzahl von möglichen Teilnehmern limitiert ist. Es gibt offensichtlich auch ein erhebliches Interesse aus der Politik heraus, und natürlich kommen auch Rettungskräfte, Feuerwehr und Polizei - offensichtlich haben wir damit einen Nerv getroffen.

SB: Wurde Ihre Arbeit bislang von seiten der Politik wahrgenommen und gewürdigt, etwa in der Weise, daß Interesse daran bekundet worden wäre?

RH: Für mich nicht wahrnehmbar, und ich als Generalsekretär müßte es eigentlich wissen.

SB: Die zivil-militärischen Zusammenarbeit ist derzeit ein häufig diskutiertes Thema. Bundesinnenminister Thomas de Maizière hat im Sommer ein neues Konzept der Zivilen Verteidigung vorgestellt, das weite Bereiche abdeckt. Müßte nicht auf politischer Seite großes Interesse an der Initiative der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie in Zusammenarbeit mit der Bundeswehr bestehen?

RH: Nach meinem persönlichen Dafürhalten müßte großes Interesse bestehen. Doch wie ich vorhin ausgeführt habe, ging die Initiative bislang im wesentlichen von der Unfallchirurgischen Fachgesellschaft aus. Das war beim TraumaNetzwerk so und das ist auch jetzt so. Ich will nicht unterstellen, daß die Politik das überhaupt nicht wahrnimmt, aber zumindest reagiert sie zumindest für mich nicht wahrnehmbar darauf. Ein Kontakt zu uns als Unfallchirurgische Fachgesellschaft besteht nicht. Natürlich gibt es politische Kontakte über die Bundeswehr, da Herr Generaloberstabsarzt Tempel mit Frau von der Leyen über solche Fragen im Gespräch ist. Aber weitere politische Kontakte gibt es bisher nicht.

SB: Auf der Pressekonferenz war vom Weißbuch der Notfallchirurgie die Rede, das voraussichtlich im kommenden Jahr in neuer Auflage publiziert werden soll. Wurde der Begriff "Weißbuch" in Anlehnung an das Weißbuch der Bundeswehr gewählt?

Benedikt Friemert (BF): Weißbuch heißt ja vom Begriff her nur, daß sich irgend jemand über ein grundsätzliches Thema Gedanken macht und dies in strukturierter Form darstellt. Es ist somit ein allgemeiner Begriff, dessen Wahl inhaltlich nichts mit dem Weißbuch der Bundeswehr zu tun hat. Außerdem ist das Weißbuch der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie 2006 das erste Mal erstellt worden.

RH: Das Weißbuch erschien 2006 in Erstauflage für die Schwerverletztenversorgung, 2012 folgte die zweite Auflage und 2017/2018 wird die dritte Auflage kommen, die wiederum eine Aktualisierung darstellt, die mit unseren Leitlinien für die Schwerverletztenversorgung gekoppelt ist - eine AWMF-Leitlinie [2] auf S3-Niveau, also dem höchsten evidenzbasierten Niveau. Sie ist kürzlich durch die AWMF akkreditiert und zugelassen worden und steht jetzt auch zur Einsicht auf deren Homepage. Eine interdisziplinäre S3-Leitlinie stellt also die Grundlage des Weißbuchs dar. Da sich in einem Zeitraum von sechs, sieben Jahren eine medizinische, fachliche und inhaltliche Weiterentwicklung vollzogen hat, nimmt man in diesem Abstand eine Erneuerung oder Anpassung vor.

SB: Der Begriff "Resilienz" wird im Weißbuch der Bundeswehr als ein zentrales Konzept genannt, wenn es um die Befindlichkeit und Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung in Krisensituationen geht. Könnte man eine flächendeckende Notfallversorgung im Katastrophenfall auch unter diese Kategorie fassen?

BF: Nein, diese Notfallversorgung ist eher unter den Begriff "Vorsorge" zu fassen, wie wir es stets vertreten haben. Den Begriff Resilienz würde ich darauf nicht anwenden. Er hat vielleicht ein wenig mit Nachhaltigkeit zu tun, spielt aber im Rahmen der Vorsorge unseres TraumaNetzwerks keine Rolle.

SB: Sie haben sich schon als junger Mensch dazu entschlossen, Berufssoldat zu werden. Damals gab es ja noch keine Auslandseinsätze und man konnte sich wohl auch nicht vorstellen, daß es in absehbarer Zeit dazu kommen könnte. Wie haben Sie diesen Wandel persönlich erlebt, war er für Sie möglicherweise auch mit Zweifeln oder Brüchen verbunden?

BF: Für mich persönlich gab es keine Brüche. Ich weiß noch wie heute, in welcher Situation ich mich entschied, Berufssoldat zu werden. Das war 1986 oder 1987, ich stand mit meinem Vater auf dem Balkon und beriet mit ihm, ob ich bei der Bundeswehr bleiben sollte oder nicht. Wir waren davon überzeugt, daß angesichts des Eisernen Vorhangs die nächsten 50 Jahre gar nichts passiert. Drei Jahre später war die Welt eine ganz andere. Für mich persönlich hat sich dennoch nichts geändert. Ich habe mich natürlich mit dem Thema beschäftigt, aber ich bin ja aus Überzeugung zur Bundeswehr gegangen, nicht weil ich irgend etwas haben wollte. Ich habe zunächst als Wehrpflichtiger die Bundeswehr kennengelernt und für mich festgestellt, daß das ein Bereich ist, mit dem ich sehr gut zurecht komme. Ich fühlte mich dort sehr wohl, was sicherlich auch mit meinen damaligen Chefs zu tun hatte, mit denen ich sehr gut zurechtgekommen bin. Es war also eine Entscheidung aus Überzeugung, womit für mich auch klar war, daß es einfach dazugehört, wenn die Bundeswehr uns in Auslandseinsätze schickt. Ein Polizist kann auch nicht sagen, oh, heute ist der Bankräuber da und deswegen paßt es mir nicht. Wenn einer Polizist wird, weiß er, daß es gefährlich werden kann, das kauft er mit ein. Und so ist es bei mir auch gewesen. Aber ich weiß von anderen, die damit in der Tat gehadert haben.

SB: Wir würden Sie gern auch nach Ihren persönlichen Erfahrungen in Afghanistan und bei anderen Kriegseinsätzen fragen, wovon ja in der deutschen Bevölkerung recht wenig bekannt ist. Können Sie schildern, worin Ihr Aufgabenbereich bestand und wie sich die Situation über die Jahre verändert hat?

BF: Die Aufgabe eines Bundeswehrchirurgen im Einsatz besteht zunächst einmal darin, die Versorgung der Soldaten sicherzustellen. Wir sind im wesentlichen allein oder nur zu zweit, das unterscheidet die Situation immanent von zu Hause. Wenn ich hier operieren oder behandeln muß, habe ich immer irgend jemanden, den ich rufen kann, ob das mein leitender Oberarzt ist oder der Chef oder der zweite Chef oder irgendein Spezialist - ich kann immer irgend jemanden zur Unterstützung dazuholen. Beim Einsatz in Afghanistan bin ich 7000 Kilometer von Deutschland entfernt, da kann ich zwar telefonieren, aber es kann mit keiner helfen. Der Chirurg oder die Chirurgin vor Ort muß das Notfallproblem lösen und zwar so, daß der Patient nach Hause geflogen werden kann. Die Reise nach Hause dauert zwischen 24 und 48 Stunden, da es einige Zeit in Anspruch nimmt, bis der Airbus runtergeflogen und eingeparkt ist und dann wieder den Rückweg bewältigt hat. Unter 24 Stunden wird das schwierig. Das heißt also, daß der Einsatzchirurg den Patienten traumatologisch soweit operieren und behandeln können muß, daß er diesen Transport nach Hause überlebt.

Ein weiterer grundsätzlicher Unterschied zwischen der Einsatzchirurgie und der Tätigkeit in einem deutschen Krankenhaus besteht darin, daß ich im Einsatz auch alle anderen chirurgischen Notfälle behandeln können muß, also auch den Blinddarm. Der ist zwar kein Unfall, aber natürlich hat ein Soldat im Einsatz manchmal auch eine Blinddarmentzündung, die operiert werden muß, oder einen Darmverschluß, eine entzündete Galle oder andere ganz normale chirurgische Notfälle, die zu Hause von einem Spezialisten operiert werden. Das gehört für uns als Einsatzchirurgen noch zusätzlich zu dem dazu, was wir heute unter dem Stichwort "Trauma" diskutiert haben. Das Spektrum dessen, was wir da unten machen müssen, ist extrem weit gefaßt und nicht nur traumatologisch, sondern auch notfallchirurgisch geprägt.

Und weil wir das können, machen wir da unten eben nicht nur Traumatologie, sondern behandeln im Rahmen unserer Kapazitäten auch die Zivilbevölkerung. Das ist immer etwas unterschiedlich und hat mit der Sicherheitslage zu tun, aber prinzipiell gab es Einsätze, bei denen ich jeden Tag ein oder zwei Zivilisten an alten Knochenbrüchen, großen Leistenhernien oder irgend etwas anderem operiert habe. Auf Grundlage unserer breiten Ausbildung sind wir in der Lage, auch ein bißchen den humanitären Aspekt, der nicht unsere Hauptaufgabe ist, sondern immer nur "im Rahmen freier Kapazitäten" wahrgenommen werden kann, zu berücksichtigen. Wir müssen allerdings immer darüber nachdenken, wen wir behandeln können, denn wenn ich mit der Behandlung anfange, bindet sie mir Kapazitäten. Es kann ja eine Minute später irgend etwas passieren, so daß ich plötzlich einen Soldaten versorgen muß. Ich muß also immer im Hinterkopf haben, ob ich das, wofür ich eigentlich da bin, machen kann, auch wenn ich einen Zivilisten behandle. Dieses Spannungsfeld läßt sich aber relativ gut regeln, und deswegen bedienen wir, soweit es eben geht, auch diesen humanitären Aspekt mit, weil wir einfach von unserem Gefühl her sagen: Wenn wir schon da sind und freie Kapazitäten haben - warum sollen wir das dann nicht machen?

SB: Würden Sie die Entscheidung, wen Sie im Zweifelsfall bevorzugt behandeln, im Sinne einer hierarchisierten Dringlichkeit treffen?

BF: Das machen wir grundsätzlich so - bei mehreren Verletzten gibt es immer Prioritäten und Hierarchien, in welcher Reihenfolge ich solche Verletzten abarbeite. Der Aspekt, den ich eben genannt habe, kommt als weitere strategische Überlegung dazu. Wir haben es zum Beispiel immer so gehalten, daß war Zivilisten geplant nur dann operieren, wenn sie nicht intensivpflichtig sind, also unsere Intensivkapazitäten im Einsatz nicht verbrauchen, weil die natürlich sehr begrenzt sind. Wenn ich Patienten beispielsweise wegen einer Krebserkrankung operiere, brauche ich eine Intensivstation. Und das geht nicht. Daher haben wir uns immer überlegt, was wir tun können, ohne die Ressourcen so zu binden, daß wir unseren eigentlichen Job nicht mehr machen können. Das kommt also zu den normalen Überlegungen, in welcher Reihenfolge ich jemanden im Traumafall operiere, noch als weitere Überlegung dazu.

SB: Ob die Aufgaben von Polizei und Militär strikt getrennt werden sollten oder unter Umständen eine Zusammenarbeit denkbar wäre, wird kontrovers diskutiert. Wie würden Sie in dieser Frage Stellung beziehen?

RH: Ich habe eine persönliche Meinung dazu, aber keine offizielle - und die persönliche möchte ich auch persönlich lassen. Im Grunde hat ja bereits der Generalarzt bei der Pressekonferenz gesagt, daß es politische Entscheidungen sind, die da eine Rolle spielen. Ich glaube, daß wir einen gesellschaftlichen Diskurs und auch wieder eine gewisse Wertschätzung der Bundeswehr in der Gesellschaft und dessen, was sie im In- und Ausland für die Gesellschaft leistet, brauchen, dann beantworten sich solche Fragen aus meiner Sicht von selbst. Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee und steht voll und ganz auf dem Boden des Grundgesetzes, und ich glaube, daß wir uns bei den handelnden Personen derzeit keine Sorgen machen müssen, daß irgendwelche üblen Dinge im Hintergrund laufen. Wenn es eine Katastrophenlage gäbe, die den Einsatz der Bundeswehr erforderlich macht, würde sich meines Erachtens auch die Politik dem nicht verschließen.

SB: Vielen Dank, Ihnen beiden, für das Gespräch.


Fußnoten:

[1] Siehe dazu im Schattenblick:
BERICHT/028: Versorgungsprophylaxe - Die Terrordimension ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/report/m0rb0028.html

[2] In der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V.) sind derzeit 174 wissenschaftliche Fachgesellschaften aus allen Bereichen der Medizin zusammengeschlossen.

Medizinische Leitlinien sind systematisch entwickelte Feststellungen, die Ärzte, Zahnärzte, Angehörige anderer Gesundheitsberufe und Patienten bei ihren Entscheidungen über die angemessene Gesundheitsversorgung unter spezifischen klinischen Umständen unterstützen sollen.

http://www.awmf.org/awmf-online-das-portal-der-wissenschaftlichen-medizin/awmf-aktuell.html


5. Oktober 2016


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